Freitag, 19. April 2024

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Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern.

Er fällt auf und irritiert, der Verleger und Essayist Wolf Jobst Siedler. Angesichts des für heutige, vor allem für organisierte Konservative symptomatischen geistlosen Parolengeschwätzes, das vor allem an Stammtischen verstanden sein will, ist ein gebildeter Konservativer schon fast so etwas wie ein Anachronismus. Nach seinem Studium wurde Siedler Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegel, später leitete er Springers Propyläenverlag, und zwar in den Jahren, als man sich dort noch nicht als publizistischer Transmissionsriemen des Geschichtsrevisionismus verstand. 1980 gründete er den Siedler Verlag, aus dem er sich erst vor zwei Jahren zurückzog. Nun hat Siedler einen Rückblick auf seine Jugendjahre geschrieben, und Ariane Thomalla hat den Band für uns gelesen.

Ariane Thomalla | 11.12.2000
    Wolf Jobst Siedler hieß schon sein Vater, ein nie ohne Monokel anzutreffender ehemals kaiserlicher Konsul in Konstantinopel und Alexandria. Hießen auch Großvater, Ur- und Ur-Urgroßvater, denn eine Familienstiftung finanzierte jedem Siedler, der das Jobst davor trug, das Studium und ein Flanier-Jahr obendrein in London und Paris. Kein Wunder, dass man konservativ war. Eine Altberliner Familie, die auf sich hielt: Mit Ferienwochen an der Ostsee, mit Dienstmädchen aus der Mark, Ammen aus dem Spreewald und "Familienheiligen" wie Gottfried Schadow oder den reichen jüdischen Gersons von Mutters Seite. Man wohnte und wohnt heute noch im großbürgerlichen Dahlem.

    "Ein Leben wird besichtigt" nennt Wolf Jobst Siedler seinen Rückblick. Untertitel: "In der Welt der Eltern". Heißt das: Es gibt demnächst einen zweiten Teil? In der Welt des Verlegers und Publizisten Wolf Jobst Siedler? Eines "linken Konservativen", wie man ihn etikettiert hat, den es, schreibt er hier, "immer fasziniert" hat, "wenn die geltende Sicht der Dinge umgedreht" wurde?

    "So gebe ich mich im Augenblick ganz der Genugtuung hin, die ersten 22 Jahre meines Lebens aus der langsam undeutlicher werdenden Vergangenheit hervorgeholt zu haben. Ich habe nicht gedacht, dass ich mich eines Tages verführt sehen würde, die Geschichte meines Lebens zu erzählen. Aber ich habe auch nicht gedacht, dass ich nun auf die 75 zugehe. Man soll dem Unvorhersehbaren nicht vorgreifen wollen. So werde ich mich hüten, an den Schluss dieser Erzählung die Worte zu stellen Finis, oder gar: Fortsetzung folgt. "

    In den chronologischen Ablauf dieser 22 Jahre hat er immer wieder Ausblicke auf Später montiert: etwa auf den überraschend jungen Feuilletonchef des Berliner Tagesspiegels, der als ein "Newcomer" in der Literatenwelt und als "Außenseiter" doch froh war, "den Ausweg" in die Laufbahn als Verleger zu finden; auf den Chef des Jobst Siedler Verlags, der mit Lust und einer "Milde", die nicht immer verstanden wurde, an seinem Tisch Menschen mischte: Emigranten, KZ-Häftlinge, "Sympathisanten des östlichen Satellitenregimes", Juden und – höchstes Scandalon - den Naziminister und Erfolgsautor Albert Speer, dessen "unbeholfenen, immer ein wenig linkischen Charme" – gesteht Jobst Siedler - er sich nicht habe entziehen können.

    Wer freilich unter den auf Biographien spezialisierten Lesern auf pralle Zeitzeugenschaft und Erinnerungskraft hoffte, wird enttäuscht sein. Was erst verblüfft, dann eine Marotte scheint, zuletzt sich als fein gesponnene Methode erweist: Immer wieder erinnert sich der Autor plötzlich nicht mehr oder verkündet, es sei "merkwürdig, dass eigentlich eher beiläufige Erlebnisse von der Erinnerung bewahrt" würden:

    "Merkwürdig muss aber auch das Erinnerungsvermögen der Autoren jener Memoiren beschaffen gewesen sein, die ich fast vierzig Jahre lang erst im Ullstein und Propyläen und dann im Siedler Verlag veröffentlichte. Sie können sich oft an alle Einzelheiten einer Begebenheit noch erinnern, wissen sogar, was sie bei einer bestimmten Gelegenheit empfanden und sagten, und sind imstande, Gespräche, die Jahrzehnte zurückliegen, noch in direkter Redeweise wiederzugeben. Lange Zeit habe ich manchen meiner Autoren um sein fotografisches Gedächtnis beneidet, war mir selbst doch vieles nur noch verschwommen erinnerbar: Aber mit der Zeit wurde ich misstrauisch, was die Genauigkeit solcher Erinnerungen anlangt."

    So hebt der "Dunstschleier der Erinnerung" sich zum Beispiel nicht auf dem Höhepunkt der Begegnung mit Harald Quandt, dem Sohn aus der ersten Ehe von Magda Goebels mit dem Großindustriellen Quandt:

    "Wir saßen in der Kaserne von Benghasi in Harald Quandts Offiiziersquartier bei einem Glas Rum, als die Nachricht – wahrscheinlich über die BBC – kam, dass die Leichen von Goebbels, seiner Frau Magda und der sechs Kinder – der Halbgeschwister von Harald Quandt also – im Bunker der Reichskanzlei und in deren Hof zwischen Betonmischmaschinen gefunden und identifiziert worden seien. Ich kann mich sonderbarerweise nicht erinnern, wie Harald Quandt auf die Nachricht vom Ende seiner Familie reagiert hatte."

    Hätte da nicht ein Autobiograph wie Marcel Reich-Ranicki post festum der Erinnerung nachgeholfen? Für Jobst Siedler eine Frage schriftstellerischer Wahrhaftigkeit. Umso eindringlicher ist die eigene Geschichte des von Oswald Spenglers Untergangsphilososphie faszinierten siebzehnjährigen Schülers der Herrmann Lietz-Schule auf der Nordseeinsel Spiekeroog. Im Januar l944 werden er und sein Freund Ernst Jünger, der Sohn des berühmten Vaters, denunziert. Jünger, weil er als nächtlicher Flakhelfer im Kameradenkreis hinter den Geschützen am Nordsee-Deich gesagt hat, dass das "Reich" nur durch die Beseitigung Hitlers gerettet werden könne.

    "Ich würde mit am Strick ziehen, wenn er am Galgen steht."

    Jobst Siedler "als Rädelsführer". Dank hoher dem Widerstand naher Wehrmachtsoffiziere und Generäle geht die Sache nicht vor den Volksgerichtshof, sondern vors Marinefeldgericht. Beide werden zu sechs Monaten Haft in der Strafanstalt Wilhelmshafen verurteilt mit anschließender "Begnadigung" zur Frontbewährung in Italien, wo Ernst Jünger sofort bei einem "Himmelfahrtskommando" in den Marmorbrüchen von Carrara fällt. Jobst Siedler wird verwundet. Die Briten nehmen ihn im Lazarett gefangen. Die zweieinhalb Jahre Kriegsgefangenschaft führen ihn von Italien nach Nordafrika, wo er als "future opinion leader in Germany" Zeit hat, die "Sprengkraft des Denkens", der Bücher kennenzulernen. Mit dem Vater des gefallenen Freundes verknüpfte ihn bis zuletzt eine keineswegs unkritische Freundschaft. Vor allem in einem Gedanken hatten sie sich gefunden, den Jobst Siedler dann im Essay von der "Trauer um den verlorenen Schmerz" niederschrieb:

    "Das empfindlichere Bewusstsein scheut die Erinnerung an die Trecks der Flüchtlinge, weil mit ihnen auch die Waggons der Häftlinge aus dem Dunkel steigen, und die größere Sensibilität nähert sich nur vorsichtig dem Gedächtnis an einen Osten, wo nicht nur die Namen der verlorenen Städte, sondern auch die der vergessenen Lager zu suchen sind. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass die Gewaltherrschaft nicht nur die Provinzen verspielt hat, sondern auch die Trauer um sie.



    Am Ende der Lebensbesichtigung geht die Poetologie der fragmentarischen Erinnerung auf. Der Kopf des Leser ist angefüllt mit Bildern, die poetische Valenz haben. Vielleicht, weil das im Gedächtnis festgehaltene Nebensächliche doch symbolische Wertigkeit und damit etwas wie eine höhere biographische Wahrheit hat? Eine Biographie, die anders ist als viele andere.

    Ariane Thomalla über Wolf Jobst Siedler: "Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern". Siedler Verlag, Berlin 384 Seiten, 49,90 DM.