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Ein "Literaturpreis für Hörspiele"

Bis heute genießt er großes Ansehen: Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wurde am 9. März 1952 erstmals verliehen. Er gilt als wichtigste Auszeichnung für deutsche Hörspielautoren. Jedes Jahr vergibt eine Jury aus Blinden und sehenden Kritikern den Preis.

Von Frank Olbert | 09.03.2012
    "Das Hörspiel mag andere formale Gesetze haben als das Theaterstück, der Roman, das Gedicht. Es darf sich aber in gleicher Weise das Recht nehmen, zurzeit, zu unserer Existenz, zu allem, was uns bewegt, auszusagen."

    Günter Eich in seiner Dankesrede zum Hörspielpreis der Kriegsblinden 1953 im Saal des Bonner Bundesrats. Nach Überzeugung vieler hätte der Star der Gruppe 47 und wohl wichtigste Autor des bundesdeutschen Nachkriegshörspiels den Preis bereits ein Jahr zuvor bekommen müssen: Am 9. März 1952 wurde der Hörspielpreis der Kriegsblinden zum ersten Mal vergeben – allerdings ging er nicht an Eichs "Träume", eines der wirkungsmächtigsten Stücke der Zeit, sondern an "Darfst Du die Stunde rufen" von Erwin Wickert, ein Hörspiel über Sterbehilfe.

    "Wenn auch das Strafgesetzbuch nichts gegen Euthanasie oder einen solchen Mord einzuwenden hätte – ich hätte etwas einzuwenden!"

    Bis heute gilt der Hörspielpreis der Kriegsblinden als die renommierteste Auszeichnung für die Radiokunst. Mit der Würdigung von Günter Eich, Friedrich Dürrenmatt oder Elfriede Jelinek hat er stets die Bedeutung des Hörspiels für die deutsche Literatur unterstrichen; hinzu kamen wegweisende Entscheidungen wie 1969 die Auszeichnung für Ernst Jandls und Friederike Mayröckers Stück "Fünf Mann Menschen", die die Öffnung des Hörspiels zu Konkreter Poesie und anderen Sprachexperimenten unterstützte.

    Zu den Besonderheiten des Hörspielpreises der Kriegsblinden zählt aber darüber hinaus die Zusammensetzung der Jury, die auf Überlegungen des Preisgründers, langjährigen Juryvorsitzenden und Journalisten Friedrich Wilhelm Hymmen zurückgeht.

    "Gibt es denn nicht einen Preis, eine Art Literaturpreis für Hörspiele? Nein, gab es nicht. Dann müssen wir den doch gründen, und dann kam mir diese Idee, man müsste den Hörer beteiligen. Wie aber komme ich an Hörer? Und da bot sich mir an: die Kriegsblinden - als Menschen, die intensiv Radio hören, aus verschiedensten Berufsgruppen auch kommen - die Kriegsblinden dafür zu gewinnen, den Part des Hörers zu übernehmen und sich von Kritikern beraten zu lassen."

    1951 veröffentlichte Hymmen einen Aufruf im Verbandsorgan des Bundes der Kriegsblinden, der als Startschuss für den Hörspielpreis gelten darf:

    "Alle Kriegsblinden werden hiermit aufgefordert und eingeladen, auf Postkarten der Schriftleitung unserer Zeitschrift mitzuteilen, welches Hörspiel in ihrem Sendegebiet ihnen besonders gefallen hat. Wenn wir nach dem ‚besten’ deutschen Hörspiel fragen, so meinen wir damit das gewinnreichste, also jenes Hörspiel, dass vom Menschlichen her uns anredet und uns eine Hilfe gibt, mit dem Dasein besser fertig zu werden oder die Zusammenhänge und Aufgaben unseres eigenen Lebens besser zu verstehen."

    An der Zusammensetzung der Jury mit Blinden und sehenden Kritikern hat sich über die Jahre so wenig verändert wie an der Tatsache, dass der Preis undotiert ist. Allerdings übernehmen in der Regel sämtliche Sender der ARD und des Deutschlandradios das prämierte Hörspiel, sodass für den Preisträger ein erkleckliches Honorar zusammenkommt.

    Und doch hat sich in sechs Jahrzehnten Hörspielpreis der Kriegsblinden einiges getan: Vor seinem Tod 1995 hatte Hymmen eine entscheidende Modifikation in der Trägerschaft des Preises mit herbeigeführt: Neben den finanziell schwächelnden Bund der Kriegsblinden trat nun die Filmstiftung NRW, Europas finanziell bestausgestattete Filmförderung, die auch über eine Hörspielförderung verfügt. Mit der Autorin Anna Dünnebier steht seit einigen Jahren eine Frau an der Spitze der Jury.

    Und dass die Hörspiele ihr Publikum "vom Menschlichen" her anreden sollen, gilt in dieser Unbedingtheit auch schon lange nicht mehr – anders hätte man wohl kaum künstlerisch anspruchsvolle Hörspiele auszeichnen können. Die "helfende, die weisende Botschaft", die man zu Beginn des Preises gerne im Sinne praktischer Lebenshilfe vernommen hätte, sie wich im Laufe der Zeit dem Mut zu Innovation und ästhetischem Wagnis.