Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Ein Loblied auf die Grande Nation

Der französische Politiker Jacques Attali hat nebenbei rund 30 Bücher geschrieben. Das Themenspektrum reicht von Ökonomie über Politik bis hin zur Geschichte der Medizin. Seine Produktion schließt sowohl Biographien, etwa von Marx und Mitterand, als auch Romane ein. Nun befasste er sich mit dem Leben des Mathematikers und Physikers Blaise Pascal.

25.04.2007
    Jacques Attalis Pascal-Biographie, das Original erschien im Jahre 2000, stellt ein kaum verhülltes Loblied auf die einstmals Grande Nation dar, denn der genaue Untertitel seines Buchs lautet: "das französische Genie". Betrachtet man Blaise Pascals Leistungen in nur 39 Lebensjahren, so ist das Prädikat mehr als angemessen. War er doch Naturwissenschaftler, Mathematiker, Philosoph und Sprachvollender in Personalunion.

    Pascal wird, 1623, in eine bewegte Zeit hineingeboren: Frankreich beteiligt sich am 30jährigen Krieg, Epidemien und Hungersnöte dezimieren die Bevölkerung, Revolten werden blutig niedergeschlagen, Kapitalverbrecher öffentlich gevierteilt, vermeintliche Hexen wie auch Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im Kontrast zur Welt des Krieges, der Gewalt und des Aberglaubens erblühen die Wissenschaften, das heißt die Erfindung von Fernrohr und Mikroskop erschüttern das theologische Weltbild.

    Blaise, der im Alter von 3 Jahren Halbwaise ist, wird wie seine Geschwister Gilberte und Jacqueline ausschließlich von seinem Vater, einem Privatgelehrten, unterrichtet. Dank seiner außergewöhnlichen Begabung für Mathematik und euklidische Geometrie wird er bereits als Zwölfjähriger zu den Sitzungen der renommierten Academia Parisiensis zugelassen.

    1640 lässt sich Étienne Pascal mit den Kindern im normannischen Rouen nieder, wo er als königlicher Kommissar Steuern eintreibt und es zu einigem Wohlstand bringt. Blaise hingegen, seit jeher von fragiler Gesundheit, leidet unter Kopf- und Magenschmerzen, Zahnschmerzen, fühlt sich außerdem unterhalb der Gürtellinie gelähmt, so dass er an Krücken geht und nur noch flüssige Nahrung zu sich nimmt. Nach einem Zeugnis seiner Schwester Gilberte habe er seit seinem 18. Lebensjahr keinen Tag ohne Schmerzen zugebracht.

    1644 konstruiert er, um seinem Vater die Arbeit zu erleichtern, eine mechanische Rechenmaschine für alle arithmetischen Operationen. Attali konstatiert, dass Pascal als "erster Mensch der Weltgeschichte die Handhabung von Zeichen automatisierte und eine Maschine baute, in der er Rechenregeln programmierte. Damit war er seiner Zeit um 300 Jahre voraus. (...) Nach dem Übergang vom Dezimal- zum Binärsystem (...) könnte man die heutigen Computer im Prinzip als Vervollkommnungen der Pascalschen Maschine bezeichnen."

    Obgleich er stets Autodidakt ohne eigentlichen Beruf war, verbreiteten sich die Forschungsergebnisse Pascals in der übersichtlichen Welt des 17. Jahrhunderts dennoch. So brachte ihm der unter großem Aufwand betriebene experimentelle Nachweis des Luftdrucks bzw. des Vakuums, Torricellis Versuchen folgend, 1647 den Besuch des großen Descartes in Paris ein. Der Philosoph aber konnte die Idee der Leere nicht akzeptieren, da sie dem horror-vacui-Dogma der Zeit widersprach. Doch noch heute dient Pascals Name zur Maßbezeichnung des Luftdrucks.

    Von seinem 27. bis 31. Lebensjahr verkehrte Blaise in den angesagten Salons der Zeit und führte das Leben eines Mannes von Stand. Er galt als attraktiv und eloquent. Das Jahr 1652 stellte eine Zäsur dar, da nach dem Tod des Vaters seine Schwester Jacqueline als Novizin in das Kloster von Port-Royal eintrat. Damit war die langjährige geschwisterliche Dyade oder "Allianz" unwiderruflich aufgelöst. Die Versuche, sich durch Zerstreuungen wie Glücksspiele von dem Verlust abzulenken, erwiesen sich als unwirksam. Blaise wurde melancholisch und litt abermals unter Schmerzzuständen. Die Glücksspiele regten ihn zur Entwicklung einer Wahrscheinlichkeitstheorie an, anders gesagt, zu dem, was man heute Risikoanalyse nennt, also die Vorhersage von Gewinn und Verlust. Die Erfindung der hydraulischen Presse stellt den letzten Wurf auf dem Gebiet der Technik dar.

    Fortan beherrschte die Spiritualität die Vita Pascals, gipfelnd in der Nacht der "Erleuchtung" vom 23.November 1654. Der Konvertierte brachte sein Glaubensbekenntnis mit den genauen Angaben von Tag und Stunde zu Papier. Dieses so genannte Mémorial trug er seitdem im Futter seiner Weste eingenäht mit sich. Vorausgegangen waren der gewissermaßen ekstatischen Erfahrung Gebete im Wechsel mit dem Studium der Heiligen Schrift. Dabei zog er sich zurück, fastete, vergaß Körperpflege, Kleiderwechsel und schlief zwei Tage lang nicht.

    Als Verfasser der Provinzbriefe gelangte Pascal als Polemiker zu Ansehen. In den anonym verbreiteten Flugblättern, regelrechte 'Bestseller‘ der Epoche, attackierte er die Laxheiten der Jesuiten, um für die Jansenisten Partei zu ergreifen, die in den Klöstern von Port-Royal wirkten, wobei sie ein mehr orthodoxes, asketischeres Christentum lebten wie auch verfochten. Attali kommentiert: "das erste Beispiel eines Intellektuellen, der sich gegen Zensur, Totalitarismus und Lüge erhob und für Wahrheit und gegen Verleumdung kämpfte." Pascal mischte sich in ein Kapitel Machtpolitik ein, das vordergründig als interreligiöser Streit geführt wurde. Sein stilistischer Ehrgeiz war so groß, dass er einen dieser Provinzbriefe 13 Mal umschrieb.

    Die verbleibenden 3 Jahre seines Lebens, 1657-59, verwendete Pascal auf die Niederschrift der Pensées/Gedanken, jenes "Großgemälde über die Condition humaine", das ihn unsterblich machen sollte. Es handelt sich um gut 1000 Aphorismen, die das Mysterium des Menschen wie auch dasjenige des Glaubens auszuloten trachten. Sie bestechen in ihrer Zeitlosigkeit vor allem dann, wen sie nicht auf eine reine Apologie des Christentums abzielen. Dem Autor war ein zu kurzes Leben beschieden, um die Fragmente zu einem Ganzen zu gestalten. In seinen letzten Lebensjahren verschenkte er sein Vermögen, sogar weitgehend sein Mobiliar.

    Attalis Ambition, eine "erschöpfende Biographie" vorzulegen, muss als erfüllt bezeichnet werden, selbst wenn diese wenig Neues bietet, Überlängen aufweist und dem Abgleiten in eine Hagiographie nicht immer widersteht. Jedenfalls schärft der Autor das Bewusstsein für einen Ausnahmegeist, der mehrere Existenzen parallel führte und trotz gravierender gesundheitlicher Handicaps Überragendes leistete - und sei es "nur" als Moralist, skeptischer Philosoph oder Psychologe.

    Jacques Attali: Blaise Pascal. Biographie eines Genies.
    Aus dem Französischen von Hans Peter Schmidt. Klett-Cotta, Stuttgart 2006. 470 S. Euro 29,50