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Ein lustvolles Spiel auf der Grenze

Der Berliner Mathematikprofessor Paul Gremon, Hauptfigur und Icherzähler in Ulrich Woelks neuem Roman, präsentiert eine abenteuerliche Geschichte. Eigentlich wollte er ein populäres Sachbuch über Mathematik schreiben, dann aber wird er für einen berühmten Bestseller-Autor gehalten. Er spielt das Spiel mit.

Von Detlef Grumbach | 11.08.2008
    "Das ist ein Roman über die Macht des Zufalls, aber nun könnte man sagen, der Zufall ist mächtig, das wissen wir alle. Aber das Schöne an der Chaostheorie ist, dass der Zufall gewissermaßen beim Schopf gegriffen wird und man sich mit der Rolle des Zufalls bei der Bildung von Strukturen wissenschaftlich beschäftigt. Und wir alle wissen aus unserem Leben, wie wichtig der Zufall ist und Ausgangspunkt der Geschichte ist ja in der Tat ein reiner Zufall."

    Die Chaostheorie, die Macht des Zufalls und das alltägliche Leben: Der Berliner Mathematikprofessor Paul Gremon, Hauptfigur und Icherzähler in Ulrich Woelks neuem Roman, präsentiert eine unglaublich abenteuerliche Geschichte. Eigentlich hatte er ein populäres Sachbuch über Mathematik, auch über die Chaostheorie Benoît Mandelbrots, schreiben wollen. Dann wird er aufgrund einer zufälligen Begegnung für den berühmten Bestseller-Autor Leon Zern gehalten, denn Zern ist ein Pseudonym, niemand weiß, wer sich dahinter verbirgt. Gremons Agentin wittert eine Chance, also spielt er die Rolle des anderen, leiht im seine Identität, gibt Interviews.

    Dann ist auch noch eine Prostituierte, Joana, die der Professor regelmäßig besucht, der er sich auch anvertraut. Die hat einen Roman in der Schublade, in dem sie von ihrer Beziehung zu ihm erzählt - unter dem Pseudonym Joana Mandelbrot. Sie sieht in der plötzlichen Literatenkarriere ihres Freiers die Chance ihres Lebens, und er veröffentlicht das Buch als Leon Zern. So wird Gremon auch noch zum Autor eines Romans, dessen Hauptfigur er selbst ist. Und welches Buch hat nun der Leser in der Hand? Ulrich Woelk ist zwar kein Mathematiker, aber immerhin Astrophysiker, er hat gerade ein populäres Sachbuch unter dem Titel "Sternenklar" veröffentlicht. Man traut sich kaum zu fragen, aber: hat er den Roman mit dem Titel "Joana Mandelbrot und ich" wirklich selbst geschrieben?

    "Die Frage ist natürlich insofern berechtigt: Wer schriebt eigentlich in einem? Ich habe das geschrieben. Das Problematische liegt natürlich in dem Wort "Ich". Wer ist die Person, die da schreibt. Und das ist eben das Schöne, was mir so viel Spaß bereitet hat bei "Joana Mandelbrot und ich", wo das schon Im Titel gewissermaßen drinsteckt, dass ich mich aufspalten konnte. Formal schreibt das Buch der Mathematikprofessor, aber dieser Riss zwischen dem Literaten und dem Wissenschaftler, der geht ja auch irgendwo durch meine Person. Und welcher Teil meiner Person da jeweils mehr geschrieben hat, die Frage kann man in der Tat stellen. "

    Der Riss, der durch die Person des Autors geht, wird weder gekittet noch kaschiert. Er wird mit Lust und Laune in Szene gesetzt, ausgekostet, mit Seitenhieben auf den Literaturbetrieb unterstrichen. Da ist von dem Feuilletonisten die Rede, der die Kunst beherrsche, so wörtlich, "Sätze zu sagen, bei denen es nicht darauf ankam, ob sie zutrafen oder nicht; eloquente Darlegungen, bei denen die Frage, ob wahr oder unwahr, irgendwie pingelig wirkte", der den Bestseller, bevor er Gremon als vermeintlichen Autor dazu interviewt, immerhin schon "vom Hörensagen und Drüber-Schreiben" kannte. Doch geht es Woelk in dem Roman nicht um Klamauk. Das vielleicht auch, und sein Spaß daran überträgt sich sofort auf den Leser. Dahinter aber steht die Frage, wie wahr und falsch zu unterscheiden sind, ob die Welt sich überhaupt noch erklären lässt. Sind die Wissenschaftler die letzten Romantiker, wie Gremons Agentin ihm vorhält?

    " Die Romantik, speziell die deutsche Romantik war zusammen mit dem deutschen Idealismus ein System, das die Welt eigentlich auf den Begriff, ins Verständnis bringen wollte. In diesem Sinne sind Wissenschaftler zunächst einmal Romantiker, weil sie glauben letztlich noch, dass das geht. Wo alle anderen vielleicht längst aufgegeben haben und denken, das ist eben doch nur ein chaotisches Zufallsgewusel, in dem man sich irgendwie zurechtfinden muss, was ja auch viel besser zu unseren Alltagserfahrungen passt, können Wissenschaftler es einfach nicht bleiben lassen zu sagen, aber irgendwo gibt es unter dem Ganzen doch den Kern, der das Ganze zusammenhält, und in diesem Sinne glaube ich, kann man sie als die letzten Romantiker dieser Zeit bezeichnen. "

    Die Spannung, die zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis - wahr oder falsch - und subjektiven Erleben besteht, macht der 48jährige Autor jetzt schon im dritten Roman produktiv: Mit beiden Beinen auf dem Boden greifbarer Realitäten lässt er die Kerngedanken abstraktester Theorien mit Macht in den Alltag seiner Figuren fahren lässt. Er erzählt moderne Liebensgeschichten, in denen Relativitätstheorie, Quantenphysik oder die Chaostheorie ihren geheimen Zauber entfalten. Begonnen hat er diese Serie vor drei Jahren mit "Einstein on the Lake", fortgesetzt mit "Schrödingers Schlafzimmer" und jetzt mit "Joana Mandelbrot und ich". Dass der Zufall aus dem Wissenschaftler einen Literaten macht, ist hier nur der Anfang einer Kettenreaktion. Die Sache wird auf die Spitze getrieben, als Gremon seinen jungen, gut aussehenden Kollegen von der Uni zum Fototermin mit der Presse schickt, als zur verschwimmenden Identität noch ein falsches Bild hinzukommt. Der Held, immer in Geldnot, steht zwischen Ex-Ehefrau, Prostituierter und neuer Geliebten, zwischen Kunst, Wissenschaft und Marktgesetzen. Wie jeder Autor, so wird auch Paul Gremon alias Leon Zern von Lesern und Kritikern mit seinen Hauptfiguren identifiziert - mit einem grausamen Mörder im Fall des Bestsellers, mit einem Mathematiker, der ein Verhältnis zu einer Prostituierten hat, im Fall des Romans von Joana, der natürlich unter dem Titel "Joana Mandelbrot und ich" erscheint. Und hier sind wir schon wieder fast bei der Wahrheit, schließlich hat Joana über ihn geschrieben. Virtuos, mit artistischem Geschick dreht Ulrich Woelk an der Schraube "Zufall", fügt immer neue Wendungen hinzu und bringt das Kunststück fertig, dass niemand im Chaos versinkt, dass am Ende alle Beteiligten sogar etwas davon haben: Geld, Glück in der Liebe, Veränderungen im Beruf. Die Leser werden intelligent und witzig unterhalten, und der Autor selbst, der Astrophysiker, der vor knapp zwanzig Jahren seinen ersten Roman geschrieben hat?

    " In gewisser Weise ist dieses Buch in der Tat eine Art Reflexion über meine Rolle als Autor. "

    "Ich schreibe" - mit diesem einfachen Satz verblüfft Joana den Mathematikprofessor, als sie ihn mit ihrem Roman konfrontiert, als sie ihm plötzlich gegenübertritt, wie er sie noch nie gesehen hat: Ist sie eine Prostituierte? Ist sie Schriftstellerin? Ist sie das eine nicht ohne das andere? So wie er nicht das eine ohne das andere sein kann?

    " Und so ist es eben auch für mich schlussendlich. Das heißt, ich sage mir immer, ich muss mich gar nicht entscheiden, stehe ich, sagen wir mal, mehr auf der Seite des Wissenschaftlers und der Realität oder auf der des Literaten und der Illusion. Letztlich ist das Schöne für mich als Autor, dass ich damit ein Spiel spielen kann. Ich glaube, dass "Joana Mandelbrot und ich" in der Tat ein, wie ich hoffe, sehr lustvolles und amüsantes Spiel auf dieser Grenze ist. "