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Ein Meisterstück

95 Jahre alt ist der Mathematiker Carl Jacob Candoris, und nun soll seine Lebensgeschichte aufgeschrieben werden. Dazu hat der den Schriftsteller Sebastian Lukasser verpflichtet. Mit dieser Konstruktion gelingt es Michael Köhlmeier, gleich mehrere Biographien zu erzählen. Mit seinem Roman ist er ein Anwärter für den großen Pokal der belletristischen Zeitgeschichtsschreibung.

Von Florian Felix Weyh | 26.08.2007
    Mathematik ( ... ) ist zugleich Wissenschaft und Kunst. Die Kunst der Tautologie. Der Beweis, dem alle Sehnsucht gilt, ist eine Gleichung. Eine Gleichung aber ist immer tautologisch. Sie besagt: Es ist, was ist. Und mehr nicht. Unwiderlegbar und läppisch. Was auf der linken Seite steht, wird auf der rechten Seite bestätigt. Und wenn rechts eine Null steht, können links noch so viele Teile aufgeführt sein, sie verpuffen, wenn die Gleichung stimmt, zu null. Als ob in null alles enthalten wäre. Aber in null ist nichts enthalten. Mathematik ist elegantester Nihilismus. Aufgrund ihrer Apriorität genießt sie eine Art Unanfechtbarkeit. Dabei ist sie nicht nur sinnlos, sondern auch unpraktisch - auf letzteres ist sie sogar stolz. Schon der Kubikinhalt eines knorrigen Eichenstammes ist rechnerisch fast unzugänglich.

    Der da spricht, ist naturgemäß Mathematiker, hochbetagt und hochbegabt - jedenfalls aus Sicht des Normalsterblichen, der schon vor Gleichungen zweiter Ordnung kapitulieren muss. Nicht so Carl Jacob Candoris, als Sprössling einer Wiener Feinkostdynastie in Lebensverhältnisse hineingeboren, die sich zweckfreien intellektuelle Neigungen nicht in den Weg stellen. Ihnen frönt Candoris reichlich, mit 95 Jahren Lebenszeit durchmisst er fast ein ganzes Jahrhundert. In der Rückschau jedoch kommt ihn die Urleidenschaft für logische Prozesse ein wenig säuerlich an, wenn er etwa seinem Biographen vom uninspirierten Promotionsthema berichtet, das er im Göttingen der absterbenden Weimarer Republik bearbeitete. Eine Fleißaufgabe, kein Geniestreich:

    Mir wäre lieber gewesen, ich hätte eine Candorissche Vermutung aufgestellt als die Riemannsche oder die Goldbachsche Vermutung bewiesen. Und ich habe nie einen Mathematiker getroffen, dem es nicht ebenso ergangen wäre. Der Beweis wird aus Schweiß und Fleiß zusammengeknetet. Daran war mir nie gelegen. Das Genie reißt eine Vermutung auf! Und anschließend kommen die Ameisen. Mittelmaß ist nicht einfach nur ein bisschen weniger, es ist gar nichts - in der Mathematik nichts, in der Musik nichts, in allen Künsten nichts. Im Geschäftsleben dagegen spielen solche Überlegungen keine Rolle. Geld ist Quantität, ist immer nur Quantität, ist sogar der Inbegriff von Quantität. Ist nie Qualität. Ein bisschen weniger ist auch etwas. Geld lässt sich zählen. Genie nicht.

    Deswegen hält es den Lieblingsschüler und Assistenten der akademischen Legende Emmy Noether - erste habilitierte Mathematikerin im deutschsprachigen Raum - auch nicht an der Alma mater. Er nutzt das Angebot seines Großvaters, ins familiäre Importgeschäft einzusteigen, baut in Lissabon einen florierenden Feinkosthandel auf, reist geschäftlich durch die Welt und lernt im New York der 30er-Jahre seine eigentliche Passion kennen: den Jazz. Nun sind Mathematik und Musik ein altbekanntes Geschwisterpaar, in der Literatur wie im Leben, doch hier wirken sie nicht in einer Person zusammen, zumindest nicht aktiv: Carl Jacob Candoris macht Karriere als Zuhörer statt als Ausübender, "Begeisterung nicht in der Tätigkeitsform, sondern in der Leidensform", wie sein Biograf notiert. Das Genie ist nicht er, weder in der Mathematik noch in der Musik; doch er kann Genie erkennen, wo er es trifft. Genie ist irrational, vernunftwidrig, extensiv, unkontrolliert, getrieben, verzweifelt, zur Selbstreflexion unfähig - das schiere Gegenteil des kühlen, selbstsicheren, leicht arroganten Candoris. Genie muss man Georg Lukasser nennen, Schrammelmusiker im Wien der Nachkriegszeit, doch eigentlich einer der weltbesten Jazzgitarristen - nur weiß er das nicht vor der entscheidenden Begegnung mit seinem Gönner. Auch später schert es ihn wenig, denn er denkt in Musik, nicht in Worten. Ein verlässlicher Zeuge berichtet:

    Ich lernte gerade das kleine Einmaleins, als er, stöhnend, grunzend, fluchend und hysterisch schreiend, in unserer Küche in der Penzingerstraße saß und sich ärgerte, weil ihm die Töne zu unverletzt kamen, er aber auf der Gitarre spielen wollte (längst nicht mehr auf seiner alten Contra, sondern auf der wunderschönen, waldhonigfarbenen Gibson, die ihm Carl, wie er sagte "mit einem lachenden und einem weinenden Ohr" geschenkt hatte), dass es klänge wie Monk auf dem Klavier, nämlich so, als wäre er, wenn er einen Ton anschlug, noch von dem vorangegangenen so überrascht, dass er auf den folgenden nicht achten könnte und seine Finger nur eine Aufgabe hätten, nämlich zu korrigieren, immer wieder zu korrigieren, von Ton zu Ton, weswegen sich jedes Stück am Ende anhörte, als hätte es sich selbst geschrieben, und zwar zu keinem größeren als des Musikers Erstaunen. "Nie klingt ein Ton schöner, als wenn er zum ersten Mal erklingt", sagte er. "Es müsste einen Anfänger geben, der gut spielen kann." In gewisser Weise war er ein solcher. Und genau das war es, was die "Fachwelt" begeisterte.

    Vorsicht, Perspektivwechsel! Zwei Ich-Erzähler teilen sich im Roman "Abendland" von Michael Köhlmeier die Aufgabe, eine, zwei, drei ... viele Biographien aufzurollen und miteinander zu verschränken, bis ein in seiner Komplexität betörendes Ornament entsteht. Der eine ist der 95-jährige Carl Jacob Candoris, der andere sein Patenkind, nicht blutsverwandt, doch im Herzen einem Sohne gleichgestellt:

    Mein Name ist Sebastian Lukasser. Ich bin Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt und lebe in Wien, allein; unterhalte eine Beziehung zu einer Frau, die achtzehn Jahre jünger ist als ich und die das, was wir miteinander haben und was wir füreinander sind, genau so bezeichnet hat, nämlich als Unterhaltung - wogegen ich viel einzuwenden hätte, allerdings nicht das, was sie sich erhofft.

    Lukasser ... natürlich: Sebastian ist der Sohn des musikalischen Genies Georg Lukasser und hat wiederum selbst einen fast erwachsenen Sohn, David, um den sich - heimlich, jede Missstimmigkeit vermeidend - Carl Jacob Candoris ebenfalls kümmert, wie er alle Mitglieder der Lukasserfamilie unter seine Obhut nimmt. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang agiert der reiche Mathematiker, der nach umtriebigen Jahren als Geschäftsmann schließlich doch noch die Ruhe eines akademischen Lehrstuhls genießt, als selbsternannter Schutzpatron. Je nach Perspektive nimmt er dabei eine anmaßende oder erlösende Rolle ein, denn nichts geht ohne ihn. Schon die Verbindung des Musikers Georg mit dem Zimmermädchen Agnes, der dann Sebastian entspringt, wäre ohne die tätige Mithilfe des Gönners gescheitert, auch wenn die Mutter zeitlebens Distanz zu ihm wahrt:

    Wenn sie zu meinem Vater sagte: "Unser Schutzengel hat für dich angerufen", klang das aus ihrem Mund wie: Ich habe ihn mir nicht ausgesucht, und du hast ihn dir auch nicht ausgesucht, er hat sich uns ausgesucht, und wir finden nicht mehr heraus.

    Dieses abschließende Verdikt widerlegt Georg Lukasser freilich auf drastische Weise, indem er den einzig möglichen, selbstbestimmten Ausgang nimmt: den Suizid. Wie alles im Leben des hochtalentierten, doch alkoholkranken und zunehmend verzweifelten Musikers wird auch dieser Affekt indirekt von Carls omnipotentem Einfluss mitverursacht. Hinter dessen Vornehmheit und edlen Absichten verbergen sich durchaus mephistophelische Züge. Von sich selbst spricht er beispielsweise so:

    Der Mäzen ist das säkularisierte Genie. Es gehört einiges dazu, in der schier unendlichen Fülle von vollendeten und klar voneinander geschiedenen Wesenheiten das Außergewöhnliche zu entdecken. Das originäre Genie kreiert Schönheit. Der Mäzen definiert sie. Das ist auch nicht schlecht. Er zieht sie hinüber in den Bereich der Übertreibung. Vielleicht lässt sich ja ein wenig Glanz des Einmaligen abzweigen. Alles, was man tut, tut man für sich selbst; wenn dabei auch etwas für einen anderen rausspringt, ist das ein Zufall; wenn man es dabei belässt und den Zufall nicht stört, ist man ein guter Mensch.

    Am Ende seines Lebens fordert der sonst so Generöse allerdings auf einen Schlag alles zurück, zumindest im übertragenen Sinne: Dass sein Patenkind Sebastian, als Schriftsteller ein mittleres Talent, gerade an den Auswirkungen einer Krebsoperation laboriert und auch sonst mit seinem Privatleben hadert, hindert den greisen Gönner nicht, ihn zu sich zu befehlen, um in einem Erzählmarathon zum Tode Lebensbilanz zu ziehen. Einerseits ist Sebastian davon fasziniert. Den intellektuellen und materiellen Verführungen Candoris' konnte er nie widerstehen, wenngleich ein Lohn ausdrücklich verweigert wird; das zu schreibende Buch soll Abschiedsgeschenk des lebenslang Geförderten an den Förderer sein. Andererseits liefert der genötigte Biograf en passant auch sein Leben mit und demonstriert damit einen verzweifelten Abnabelungsversuch des Wahl-Sohnes vom Wahl-Vater. Offen zutage tritt der Konflikt fast nie; die Hand, die einen geschützt und genährt hat, beißt man nicht. Allenfalls betrachtet man sie im kalten Licht einer kurzzeitig aufflackernden Entfremdung:

    Worum geht es ihm wirklich? Um die Befriedigung seiner Eitelkeit? Das ist Tarnung. Es geht ihm um Rache, um eine advokatenhafte Rache. Was er vor mir inszeniert, ist die Generalprobe für das Plädoyer, das er halten will, wenn er als Ankläger vor den lieben Gott tritt: Warum hast du den Genius an mir vorüberziehen lassen?

    Als Hypothese doch wohl eher übertrieben, denn brillanter und umfassender gebildet als Carl Jacob Candoris kann ein Held im Leben oder in der Literatur kaum sein. Qua Vermögen und Herkunft ist Michael Köhlmeiers faszinierende Hauptfigur zudem ein Zeitzeuge par excellance. Mathematik und Geschäft bringen sie mit der großen Politik in Verbindung, die Musikleidenschaft mit der Kultur. Ende der 20er-Jahre begleitet Candoris seine Doktormutter Emmy Noether ins kommunistische Moskau; später trifft er sie noch einmal im amerikanischen Exil, wo er auch anderen "Göttingern" wieder begegnet, der Creme abendländischer Mathematik und Physik jener Jahre (die nun mit dem Atombombenbau beschäftigt ist). Durch die Ehe mit der Portugiesin Margarida entgeht Carl dem heimischen Militärzwang und bewahrt sich bis in den II. Weltkrieg hinein Reisefreiheit. Das vom klerikal-autoritären Alleinherrscher Salazar geführte Portugal bleibt wie Francos Spanien neutral und macht nach allen Seiten hin Geschäfte. Natürlich pflegt Candoris Kontakt zu den höchsten politischen Kreisen dieses Landes, denn Margarida entstammt einer wohlhabenden Familie, die Salazar noch aus seiner Zeit als Universitätsprofessor kennt.

    Man könnte an dieser Stelle - und es ist nicht mal die Hälfte der bedeutenden Namen gefallen, die Carl Jacob Candoris Lebensweg kreuzen, etwa die Existenzialphilosophin und später heilig gesprochene Nonne Edith Stein - man könnte harsch einwenden, alles rieche nach einem wohlfeilen Universalrezept für den großen Roman, Unterabteilung "Opus magnum, 20. Jahrhundert", und der ebenso schlichte wie raumgreifende Titel "Abendland" zerstreut diesen Verdacht kaum. Nichts indes wäre ungerechter. Wenn etwas Gelungenes Bestandteile aufweist, die sich im Nichtgelungenen bisweilen auch entdecken lassen, spricht dies ja keineswegs gegen die Bestandteile, sondern gegen die mangelnde Kunstfertigkeit scheiternder Autoren. Schon in einem Punkt zeigt sich Michael Köhlmeier zahllosen Mitstreitern um den großen Pokal der belletristischen Zeitgeschichtsschreibung überlegen: Obwohl er eine ganze Menschenarmee dirigiert, lassen sich nirgendwo Randfiguren entdecken. Über fast 800 Seiten hinweg ist jede auftretende Person für den Verlauf der Geschichte bedeutsam und genießt jenes Privileg anschaulicher Beschreibung, das gewöhnlich Protagonisten vorbehalten bleibt. Schon das kündigt ein Meisterstück an, wie auch der Umstand, dass Köhlmeier selbst auf ausgetretenen Pfaden zu brillieren weiß. Von Literatur und Publizistik totgeschriebene Themen wie die totalitären Verirrungen der 68er-Studenten bilden bei ihm Anlass für unnachahmliche Szenen. In der Wohngemeinschaft seiner späteren Frau Dagmar trifft Sebastian Lukasser mit einer KBW-Fanatikerin zusammen:

    Die Germanistin saß mitten in ihrem Zimmer im Schneidersitz, als bete sie oder spiele Monopoly. Sie wandte ihren Kopf und schaute mir in die Augen, und ihr Blick sagte: Dich kenne ich, du bist Scheiße. Ihr Zimmer war leer, bis auf ein schmales Bett, einen Resopalküchentisch vom Trödler, einen Stuhl und einen Koffer. Keine Vorhänge, keine Bücher. An der Wand hing ein Poster, das einen lachenden Chinesen mit einer Schirmmütze zeigte, der ein gemustertes Tuch über der Schulter hängen hatte und einen Stab - oder war es eine Flöte? - in einer Hand hielt.
    "Wer ist das?" fragte ich.
    "Das ist der Bruder Nummer eins", sagte sie.
    "Wie viele Brüder hast du denn?" fragte ich. Dagmar warf mir einen flehenden Blick zu und gab mir Zeichen aufzuhören.
    Die Germanistin sagte: "Las ihn doch, Vorländer!" Sie sprach Dagmar nur mit dem Familiennamen an. "Wenn einer etwas wissen will, ist das gut und nicht schlecht. Sein Name ist Saloth Sar, aber die Freunde der Völker nennen ihn Pol Pot."
    Ich sagte: "Fühlt er sich nicht einsam, so allein an deiner Wand? Willst du nicht ein paar Spielkameraden für ihn dazuhängen?"
    "Was meinst du damit?" fragte sie, ihre Stimme war ohne jede Modulation.
    "Rechts Adolf Hitler, links Heinrich Himmler."
    "Gib mir deinen Namen, ich will ihn mir aufschreiben."
    "Damit ihr mich nach der Revolution finden könnt?"
    "Ja", sagte sie.
    "Lukasser", sagte ich. "Sebastian Lukasser, Lukasser mit k und Doppel-s, Danneckerstraße 11, 6950 Frankfurt am Main, Westdeutschland."
    Sie hat sich das tatsächlich notiert.


    Solche Miniaturen sind kein Selbstzweck, denn Köhlmeiers Auffassung von Biografie nach lauert an jeder Ecke ein Moment der Wiederkehr, manchmal als Beglückung, manchmal als Dämpfer. Im Falle der einstigen Pol-Pot-Anhängerin genügt 30 Jahre später der telefonische Hinweis, sie sei zur dauerhafte Freundin seiner Exfrau geworden, um Sebastian Lukasser zu zeigen, dass sich verletzte Biografien nicht durch Zusammenfügung abgeschnittener Stränge kurieren lassen. Mit der Liebe tut sich Sebastian ohnehin schwer. Auch darin ist ihm der Wahlvater Carl überlegen, während ihm der leibliche Vater Georg unterlegen war. Dessen schwierige Ehe wird nach dem Suizid rückwirkend sogar in ein befremdliches Licht getaucht, da Agnes Lukasser den Weg der Edith Stein geht und Mitglied der Karmelitinnen wird - eine radikale Auslöschung ihrer vorangegangenen Lebenszeit als Gattin eines komplizierten Genies. Erneut ein möglicher Anlass, "zuviel Stoff!" zu rufen, gehörte nicht dieser Strang des Romans "Abendland" gleichberechtigt neben den historischen Zweig: Wo Menschen leben, lieben sie auch. Nicht geradlinig, treu und konsequent, sondern verführt, verwirrt, nicht selten verzweifelt. Selbst der unerschütterliche Candoris, der eine scheinbar mustergültige Ehe führt, offenbart in der letzten Beichte zwei Geheimnisse. Zum einen wollte er den scheinbar stoisch von ihm geduldete Nebenbuhler Daniel, mit dem seine Frau Margarida während langer Abwesenheiten sogar zusammenzieht, eines Tages umbringen lassen; zum anderen geriet er selbst in eine seltsame außereheliche Liebesgeschichte hinein - allerdings mit keiner Frau. Köhlmeier kann beides, einen großen, bildungsgesättigten Bogen schlagen wie die kleinen, intimen Kammern unserer privaten Welt ausleuchten. Er wagt sich dabei sogar auf abschüssiges Gelände, indem er seinem Erzähler Sebastian Lukasser eine überstandene Prostata-Operation zuschreibt, mitsamt aller unangenehmen Begleiterscheinungen von Impotenzangst bis Inkontinenz. Das geht gut, weil Morbidität als drittes, fast zwangsläufiges Thema unterschwellig mitläuft. Natürlich ist Carl Jacob Candoris ein Götterliebling sondergleichen, intelligent, charakterfest, gutaussehend, aber am Ende eines solch langen Lebens von 95 Jahren wartet auch bei ihm nur Dauerschmerz, der nach sedierendem Morphium verlangt. Gerade Götterlieblinge sterben ungern, weil ihr Selbstwertgefühl den Abschied schwer macht: Köhlmeiers Held weiß sehr wohl, was die Welt an ihm hat. Läse man den Roman ideologiekritisch - wozu er auf keiner Zeile einlädt, da ihm alles Pamphletische fehlt - entdeckte man trotz etlicher mephistophelischer Züge am Helden die Parabel von der guten Herrschaft. Carl Jacob Candoris regiert mittels Reichtum und intellektueller Überlegenheit all diejenigen, die sich unter seinen schützenden Baldachin flüchten. Er ist ein milder, verständnisvoller Philosophenkönig, wie ihn die Menschheit seit Jahrtausenden erträumt - ausnahmsweise sei da die Apotheose erlaubt:

    So klaffen Person und Persönlichkeit am Ende auseinander; die eine wird konkret wie ein Klumpen Lehm, die andere verflüchtigt sich zur reinen Idee, steigt auf zur Sonne, leichter als Helium.

    Wunschvorstellung des Mathematikers wie des Philosophen: reine Idee zu werden. Doch ist das alles nicht viel zu dick aufgetragen? Nein. Wer Bücher liest, um darin zu verschwinden und später vielfach bereichert in den Alltag zurückzukehren, wird diesem Roman verfallen. Der Platz einer Rezension genügt bei weitem nicht, all seine Schattierungen zu beschreiben, allein der musikalische Strang vom Aufstieg eines Schrammelmusikers zur Jazzlegende, die schließlich als Neutöner-Komponist bei den "Internationalen Ferienkursen für Neue Musik" in Darmstadt grandios scheitert, wäre eine Betrachtung für sich. Zu dick geraten ist das Buch dabei keineswegs, eher das Gegenteil ... ach, wäre es doch nur ein paar hundert Seiten länger!

    Michael Köhlmeier: Abendland
    Hanser Verlag, 776 Seiten, 24,90 Euro