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Ein Mensch mit tiefen Widersprüchen

Für den Philosophen Louis Althusser war Jacques Derrida der "einzig Große unserer Gegenwart", für die "New York Times" einfach ein "abstruser Theoretiker." Sein Einfluss war aber kaum zu überschätzen. Nun hat Benoît Peeters die erste Biografie über Derrida veröffentlicht.

Von Klaus Englert | 17.07.2013
    "In der Universität habe ich mich niemals wirklich zu Hause gefühlt. Daher rührt meine Sympathie für Walter Benjamin, der ebenfalls mit der Universität Probleme hatte."

    Der französische Philosoph Jacques Derrida äußerte sich wenige Jahre vor seinem Tod über seine ganz persönlichen Enttäuschungen im akademischen Leben. Das mag überraschen, denn noch in seinen letzten Lebensjahren umwarben ihn zahllose Universitäten. Besonders in den Renommier-Unis der amerikanischen West- und Ostküste war er ein gern gesehener Gastprofessor. Louis Althusser, sein einstiger Lehrer an der Ecole Normale Supérieur, schwelgte in Lobeshymnen: Derrida - schwärmte er - sei "der einzig Große unserer Gegenwart und vielleicht für lange Zeit der Letzte." Merkwürdig genug, dass die Pariser Universitäten den Grenzgänger der Philosophie lange Zeit verschmähten. Erst mit 54 Jahren bekam er eine Professur an der École des Hautes Études en Sciences Sociales. Dennoch blieb das lebenslange Unbehagen an den Institutionen.

    Benoît Peeters, der jetzt eine opulente Derrida-Biografie veröffentlicht hat, sieht sein Verhältnis zum akademischen Leben Frankreichs etwas entspannter. So erzählt er, dass bereits der 29-Jährige als vollkommen unbekannter Philosoph vor renommierten Wissenschaftlern wie Jean Piaget, Lucien Goldmann und Ernst Bloch sprach. Sie waren begeistert von dem jungen Denker, der sich selbstbewusst gegen die intellektuellen Modeströmungen stellte. Das war im Sommer 1959, im Normandie-Schloss von Cérisy-la-Salle.

    Benoît Peeters erzählt auch von Derridas internationalem Durchbruch. Das war im amerikanischen Baltimore, im Herbst 1966. Der Religionsphilosoph René Girard lud die Pariser Geisteselite in die renommierte Johns-Hopkins-University, um den Strukturalismus auch in den Vereinigten Staaten bekannt zu machen. Es kamen der Literaturwissenschaftler Paul de Man, der Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Historiker Paul Vernant, der Texttheoretiker Roland Barthes und der Philosoph Jean Hyppolite. Alle fieberten dem Vortrag des Stars Jacques Lacan entgegen, der seine Rolle bereitwillig annahm. Doch Lacan, der in radebrechendem Englisch vortrug, war erbost, weil ihm ausgerechnet der junge Derrida die Schau stahl. Tatsächlich geriet Derridas Vortrag zur messerscharfen Abrechnung mit dem Strukturalismus und war eine brillante Kritik an der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss.

    Derrida distanzierte sich von Heideggers Position
    Wie schreibt man am besten eine Biografie über Jacques Derrida? Das hat sich völlig zu Recht auch Benoît Peeters gefragt. Aufschlussreich ist eine Episode über einen Stegreif-Vortrag Derridas:

    "Sicher erinnern Sie sich an die Bemerkung Heideggers über Aristoteles: Wie sah das Leben des Aristoteles aus? Nun, die Antwort beschränkt sich auf einen Satz: 'Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb.' Alles andere ist bloße Anekdote."

    Derrida distanzierte sich von Heideggers Position. Zwar hätte er niemals eine Biografie geschrieben. Dennoch pflegte er seit den siebziger Jahren einen Stil, der die Gattungsgrenzen, auch die Grenzen zum Biografischen überschreitet. Anders Benoît Peeters. Um seine recht traditionelle Biografie zu rechtfertigen, zitiert er ein Interview, in dem Derrida gefragt wurde, was er in einem Dokumentarfilm über Kant, Hegel oder Heidegger am liebsten erfahren würde:

    "Ich würde sie gerne über ihr Sexualleben sprechen hören. Wie sah das Geschlechtsleben Hegels oder Heideggers aus? Weil das etwas ist, worüber sie nie reden. Ich möchte sie über etwas sprechen hören, worüber sie sonst nie sprechen."

    Benoît Peeters ist bislang nicht als Derrida-Experte hervorgetreten. Dennoch war der Pariser Verlag Flammarion davon überzeugt, es fehle eine breitenwirksame Biografie über den renommierten Philosophen und Benoît Peeters sei dafür der Richtige. Ein üppiger Vorschuss sollte Peeters die Aufgabe versüßen, das gewaltige Derrida’sche Œuvre zu durchforsten, Tausende schwerleserliche Briefe des passionierten Vielschreibers zu lesen sowie Freunde, Kollegen und Verwandte in drei Kontinenten aufzusuchen. Ein herkulisches Pensum für jemanden, der selbst eingestehen musste, Derridas Philosophie nicht sonderlich gut zu kennen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass das Aufstöbern verloren geglaubter Dokumente und die zahllosen Interviews zu den Stärken des Buches gehören. Denn sie machen mit einem wenig bekannten Jacques Derrida vertraut.

    Benoît Peeters befragte auch die Lacan-Biografin und Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco. Sie bestärkte ihn darin, Privates nicht auszuklammern, auch Marguerite Derrida, mit der der Philosoph fast fünfzig Jahre verheiratet war, unterstützte ihn. Nur Sylviane Agacinski, die mit ihm eine langjährige Liaison Amoureuse eingegangen war, verweigerte jegliche Auskunft. Peeters vermutet, dass Agacinski, seit 1994 mit dem Politiker Lionel Jospin verheiratet, von ihrem Liebhaber etwa tausend Briefe erhielt, die bis auf weiteres unzugänglich bleiben.

    In Frankreich las man Heidegger und Nietzsche völlig unbelastet
    Auch die politischen Debatten der achtziger Jahre kommen nicht zu kurz. Peeters dokumentiert die lebhaft geführten Diskussionen um die NS-Verwicklung Martin Heideggers. Derridas ausführliche Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen geschah in einer Zeit, als der Nazi-Verbrecher Klaus Barbie in Frankreich verurteilt wurde und der Chilene Victor Farías sein Buch "Heidegger et le nazisme" veröffentlichte.

    "Das Erbe deutschen Denkens hat sich in Deutschland und Frankreich verschieden ausgeprägt. Aus historischen und politischen Gründen ist man in Frankreich mit dem Erbe Hegels, Marx’, Nietzsches und Heideggers völlig anders umgegangen. In der deutschen Nachkriegszeit schwieg man aus verständlichen Gründen zu Heidegger und Nietzsche. Dagegen las man in Frankreich Heidegger und Nietzsche völlig unbelastet. Es gab also in beiden Ländern große Unterschiede. Schließlich kommt hinzu, dass man sich in Frankreich nach dem Krieg weniger für die Frankfurter Schule als für Heidegger und Nietzsche interessierte. Wenn sich die französischen Intellektuellen zur heideggerianischen Tradition bekannten, bedeutet das aber nicht, dass sie Heidegger unkritisch lasen. Ganz im Gegenteil, es gab eine sehr kritische Heidegger- und Nietzsche-Rezeption."

    Leider sind auch Schwachstellen in Peeters’ Recherchen nicht zu übersehen. So meint der Autor, Jürgen Habermas’ Buch "Der philosophische Diskurs der Moderne" habe seit 1985 Derridas Einfluss im deutschsprachigen Raum stark beschnitten. Das Gegenteil ist richtig. Tatsächlich war Derrida an den Universitäten und im Buchmarkt bis in die neunziger Jahre sehr präsent.

    Benoît Peeters schildert Derrida wie einen unermüdlichen Jet-Set-Diplomaten in Sachen Philosophie und Menschenrechte. Tatsächlich stritt er drei Jahre vor seinem Tod an chinesischen Universitäten für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Verantwortung. Das war er offenbar seinem politisch-philosophischen Ethos schuldig. Sein Kommentar hat nichts an Aktualität verloren:

    "Die Chinesen haben nicht die gleiche Vorstellung von den Menschenrechten wie die Europäer, was natürlich den Dialog erschwert. Dennoch ist dieser Dialog notwendig. Andererseits verhindern mächtige Staaten wie Amerika, dass die Todesstrafe mit Blick auf die Menschenrechte kritisiert wird. Zusammen mit den Vereinigten Staaten vollstreckt China am häufigsten die Todesstrafe. Doch aus wirtschaftlichen Gründen stellen die westlichen Staaten die Menschenrechte und die Verbrechen gegen die Menschenrechte zurück, um die guten Beziehungen zu China nicht zu gefährden."

    Zu Recht schildert Peeters ausführlich Derridas weltweites politisches Engagement. Eine gelungene Biografie müsste sich allerdings auch der Frage stellen, wie Werk und Leben, Anspruch und Realität bei einem Denker, der zwei Jahrzehnte lang eine absolut singuläre Gestalt in der Philosophie war, zusammenpassen. Aber immerhin konnte Benoît Peeters nachweisen, dass der brillante Pariser Meisterdenker ein Mensch mit tiefen Widersprüchen war. Ecce homo - hätte Nietzsche treffend kommentiert.

    Benoît Peeters: Jacques Derrida. Eine Biografie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Suhrkamp Verlag, mit mehreren Abb. Berlin 2013, 935 S., 39,95 Euro


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    Ein Mann, der jeden Zettel aufhob - Benoît Peeters: "Derrida", Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 935 Seiten
    Politik neu denken - Jacques Rancière: Moments politiques. Interventionen 1977 - 2009, diaphanes Verlag
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