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Ein Mord, ein Messer und etwas Moral

Eines Mittwochmorgens wird die Leiche des Linguistikprofessors Ulf Urlach an der Uni gefunden, mit einem Messer im Rücken. Silvia Bovenschen mischt in "Wer weiß was" das klassische Krimigenre mit einer ziemlich wütenden Gesellschaftsklage.

Von Gisa Funck | 15.01.2010
    Als Professor Bruno Schauer gegen sechzehn Uhr müde, etwas verschwitzt, seine Wohnung betrat, fand er seine Frau Carola in ihrem Arbeitszimmer. "Du kommst spät," meinte sie. "Ich habe früher mit dir gerechnet."

    "Es gab einen Mord," sagte Bruno möglichst lässig. Es gelang ihm nicht gut. Lässigkeit war seine Sache nicht. Carola fuhr hoch: "Wie bitte??"

    "Ja, du hast richtig gehört, dein langweiliger Mann war mit einem Ruck im Zentrum eines Kapitalverbrechens"

    "Ach", sagte Carola, und dann nochmals sichtlich belebt: "Ach." Und dann: "Das ist ja furchtbar aufregend ... Ich meine, das ist ja furchtbar.


    Zu Anfang wirkt der neue Roman "Wer weiß was" von Silvia Bovenschen erst einmal wie ein klassischer Krimi. Eines Mittwochmorgens wird die Leiche des Linguistikprofessors Ulf Urlach an der Uni gefunden: unappetitlich zugerichtet mit einem Messer im Rücken. Klarer Fall, so scheint es zunächst: ein Mord. Und wie schon im Closed-Room-Setting der stilbildenden Agatha-Christie-Romane kommt auch hier nur ein kleiner Personenkreis von knapp 20 Verdächtigen als Täter in Frage und spielen sich die Ermittlungen stets in geschlossenen Räumen ab. So weit, so typisch ein gängiges Detektivrätsel.

    Doch schon die Art und Weise, wie die handelnden Personen in Bovenschens "Wer weiß was" miteinander reden, macht deutlich, dass es hier um weit mehr als nur die Auflösung eines Mordfalls in Miss-Marple-Manier geht. Denn in dieser "deutlichen Mordgeschichte", wie es im Untertitel heißt, wird nicht nur gegen mögliche Täter ermittelt, sondern stehen auch die Sprache selbst und die sprachlich gefassten Rollenbilder der Figuren unter Verdacht.

    Oder anders gesagt: Wie schon in ihrem Vorgängerbuch "Verschwunden" treibt die ehemalige Adorno-Schülerin und Literaturtheoretikerin Silvia Bovenschen auch in "Wer weiß was" einmal mehr genüsslich ein literarisches, selbstreferenzielles Spiel mit den Aporien menschlicher Erkenntnis. Aufklärung meint hier auch Selbstaufklärung. Entlarvung des Täters auch Entlarvung von zweifelhaften Identitätskonstruktionen. Und ihre intellektuell geschulten und vom postmodernen Zweifel angenagten Protagonisten hinterfragen deswegen nicht nur ständig Tatmotive, sondern auch fremde und eigene Ausdrucks- und Lebensweisen generell. Was im Buch teilweise zu recht papierenen Dialogen und vielen kommentierenden Klammerzusätzen führt. So etwa gleich zu Beginn, als die Schriftstellerin Carola Schauer ihren Mann - den Germanistikprofessor Bruno Schauer - nach dem angeblichen Uni-Mord ausfragt:

    "Nun rede doch schon." forderte Carola Schauer ihren Mann Bruno auf, "wer wurde ermordet?"

    Bevor Bruno antwortete, ließ er eine kurze Pause, die er genoss.

    "Der Kollege Ulf Urlach wurde ermordet. Jedenfalls glaube ich, dass es Kollege Urlach war. Ich hatte keine Gelegenheit ihn oder besser: die Leiche in Augenschein zu nehmen."
    Du liebe Güte, dachte Carola, Bruno nimmt Leichen "in Augenschein." Dann sagte sie: "Aber im Grunde ist das doch ein Klischee. Ein blödes Agatha Christie Klischee. So ein Messer im Rücken und eine Leiche auf dem Personalklo ... Ich muss schon sagen ..."
    Bruno fiel ihr ins Wort: "Klischee oder nicht. Jedenfalls haben wir dann die Polizei angerufen."


    Mal ehrlich: Spricht so ein Ehepaar, das gerade von einem Verbrechen in direkter Nachbarschaft erfahren hat? Wohl kaum. Bovenschens Figuren in "Wer weiß was" aber behalten nicht nur an dieser Stelle die Contenance des allzeit distanzierten Beobachters. Und wirken leider nicht nur hier eher wie vor sich hinräsonierende Thesengeschöpfe als wie lebensecht agierende Menschen. Selbst ein italienischer Friseur spricht in diesem Literaturexperiment noch wie ein Philosophiedozent. Und der Mordfall dient hier nur noch als Vehikel für viel weiter reichende Fragestellungen, bei der die Frage nach dem Täter schnell in den Hintergrund rückt.
    Denn nicht genug damit, dass die im Buch auftretende Schriftstellerin Carola Schauer immer wieder davon redet, selbst an einem Krimi zu schreiben, der nicht zufällig auffallend viel Ähnlichkeit mit Bovenschens Roman hat. Um alles noch einen Dreh verrätselter und experimenteller zu gestalten, kommt die Schriftstellerin Carola im Roman auch noch auf die ungewöhnliche Idee, ihren Krimi mit Marsmenschen auszustatten. Denn schließlich, so Carolas Überlegung: Welche Erzählperspektive ist schon weiter weg von der Erde und damit wertfreier und objektiver als der außerirdische Blick?

    Und so tauchen in Bovenschens Experimentalkrimi natürlich ebenfalls schon bald Marsmenschen auf, die sich in zwischengeschalteten Dialogen regelmäßig über das ethisch miese Benehmen des Romanpersonals wundern:

    Außerirdischer 1, Name Kurt: "Warum töten die Menschen einander?"

    Außerirdischer 2, Name Lopö: "Die Lösung heißt: Freßsucht. Sie versuchen als Einzelne, möglichst viel in sich und an sich zu bringen, wollen fressen, raffen, horten. Jedoch: Nie ist es genug! Diese Erkenntnis können wir in unseren Forschungsbericht einspeichern. Es gibt keine Sperre, kein eingebautes Sättigungsgefühl."

    Kurt: "Warum forschen wir da noch herum? Wäre es nicht sinnvoller, sich gleich mit Ratten und Kakerlaken zu beschäftigen?"

    Iopö: "Gut, Kurt! Du lernst. Das ist ein ernst zu nehmender Einwand."

    Der Mensch, die nimmersatte, sittlich verrohte Bestie: So ganz neu klingt diese vernichtende Diagnose trotz Mars-Mensch-Outfit natürlich nicht. Auch sonst steckt hinter der formal-ungewöhnlichen Aufmachung von "Wer weiß was" - ähnlich wie schon beim Vorläufer "Verschwunden" - eigentlich eine ziemlich wütende Gesellschaftsklage. Mal klingt hier Baudrillards These über den allzu bildhörigen Medienkonsumenten an. Mal wird das geistig unfreie Klima an der heutigen Effizienzuniversität bedauert. Dann wieder ist von einem allgemein grassierenden "Alibi-Zynismus" die Rede. Oder wird die aktuelle Witzkultur der respektlosen Verhöhnung angeprangert. Das alles sind eigentlich höchst bittere, nicht ganz neue, aber durchaus interessante Gegenwartsbefunde. Nur kommen sie in "Wer Weiß was" dank der hochartifiziellen Verpackung so versteckt daher, dass man sie leicht überliest.

    Fast hat man den Eindruck, als ob die eigentlich ziemlich grimmige Kulturkritikerin Silvia Bovenschen im neuen Buch unbedingt vermeiden wollte, ins aufrüttelnde Pathos oder die griesgrämige Moralpredigt abzugleiten. Diesen Vorwurf kann man ihrem heiteren Bastard aus Krimi, Gesellschaftsroman und Science Fiction nun auch sicherlich nicht machen. Nur wird darin vor lauter Spielerei auch die ernste Botschaft übertönt. Und wirken die Nöte der Charaktere oft so künstlich konstruiert, dass man nicht wirklich mit ihnen mitleiden will.

    Was bleibt, ist ein intellektuell hoch getuntes Schreibexperiment, das am Ende plötzlich offenherzig für das Glück "der Liebe und des Erbarmens" plädiert. Doch für diese humanitäre Falllösung wäre etwas weniger trickreiche Verklausulierung und etwas mehr Mut zur Preisgabe hilfreich gewesen.

    Silvia Bovenschen: Wer weiß was
    Eine deutliche Mordgeschichte

    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, 334 Seiten, 19,95 Euro