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Ein neues Haus für die Musik

Der englische Nordosten galt lange Zeit als eine Region, die besonders vom Dahinsiechen der britischen Industrie betroffen war. Doch seit einigen Jahren bekümmert sich die regionale Wirtschaftsförderung One NordEast um den Norden, man versucht - häufig auch mit Fördergeldern - neue Unternehmen anzuziehen und Arbeitsplätze zu schaffen. Auch deutsche Firmen sind dem Ruf nach England schon gefolgt - was noch fehlte, war eine lebendige Kulturmeile, aber die gibt es nun auch in Newcastle bzw. dem südlichen Gateshead. Es entstand mit dem "Baltic" eines der größten europäischen Zentren für zeitgenössische Kunst und gerade wurde das "Sage music center" - entworfen von Norman Foster - eröffnet.

Von Hans Pietsch | 18.12.2004
    Wie der Panzer eines Gürteltiers thront das silbrig-glänzende Gebilde auf einer Anhöhe über dem Fluss. Doch bei näherem Hinsehen teilt sich das beiderseits bis auf die Erde reichende Dach aus Edelstahl und Glas in drei verschieden hohe Buckel. Unter jeder dieser Erhebungen verbirgt sich ein Konzersaal.

    Durch die verglasten Stirnseiten betritt der Besucher eine großzügige Wandelhalle, mit spektakulärem Blick auf die am anderen Ufer liegende Stadt Newcastle mit ihren sieben Brücken, und mit allem, was eine heutige Kultureinrichtung unbedingt haben muss: Cafés, Restaurants, Buch- und CD-Laden. Ein für alle zugänglicher Treffpunkt, geöffnet 16 Stunden am Tag. Von hier aus geht es dann hinauf in die Konzertsäle und hinunter in die Musikschule, in deren 26 Probenräumen tagaus-tagein Musik geprobt und unterrichtet wird.

    Der Wiener Musikverein am nordenglischen Fluss Tyne – so könnte man das vom Londoner Star-Architekten Sir Norman Foster für 100 Millionen Euro erbaute Musikzentrum bezeichnen. Denn der berühmte Konzertsaal der österreichischen Hauptstadt hat Pate gestanden für den 1.700 Besucher fassenden großen Saal. Auch er ist eine Art holzgetäfelte Scheune – hier aus Esche, ein Holz, das ja seit Wagners "Ring” in der Musik eine besondere Bedeutung hat - mit ähnlichen Ausmaßen, und mit einer Akustik, die der des Wiener Saals oder der des Amsterdamer Concertgebouw in nichts nachsteht. Mit einem qualitativen Unterschied: hier, in Gateshead, lässt sich die Akustik auf Knopfdruck bestimmten Musikarten und –gruppen anpassen, von einer Beethoven-Sinfonie mit großem Orchester über Barockmusik für Kammerorchester bis zu einer Jazz-Big-Band oder einer mit Verstärker arbeitenden Popgruppe. Saal zwei ist ein intimer zehneckiger Raum für 400 Zuhörer, für Kammermusik und Jazz, und der einfache Probesaal hat fast dieselbe Akustik wie die Bühne des großen Saals, damit Orchester ohne viele Korrekturen dort musizieren können.

    Das Konzept des Sage Gateshead - so genannt nach einer Software-Firma, die einer der größten Arbeitgeber der Stadt ist, und sich das Privileg 9 Millionen Euro kosten ließ – das Konzept also ist einfach und doch neu: Musik für alle – Klassik und Pop, Jazz und Rock, Folk und World Music. Einziges Kriterium – die Musik muss, wie Direktor Anthony Sargent sagt, Weltklasse sein. Ein Unterfangen, das in der englischen Provinz nicht so leicht zu verwirklichen ist. Doch alles deutet auf Erfolg hin: das Hausorchester, das Kammerorchester Northern Sinfonia, hat sich unter seinem Musikdirektor, dem österreichischen Geiger Thomas Zehetmaier, zu einem international gefragten Klangkörper entwickelt, und das Zentrum hat sich zumindest für’s erste Jahr erfolgreich in den internationalen Musikzirkus eingeklinkt, vom Philharmonischen Orchester Sankt Petersburg unter Juri Temirkanow bis zum verqueren Rockmusiker Nick Cave. Dazu kommt im Souterrain die Musikschule, in der von Grundschülern bis zu jungen Virtuosen alle unterrichtet werden, die an der Musik Spaß haben, und in ihr weiterkommen wollen.

    Sage Gateshead ist der jüngste Baustein im Bemühen der Stadt am Südufer des Flusses Tyne, sich selbst aus dem Sumpf post-industrieller Depression herauszuziehen. Die Stadtväter orientierten sich dabei an der schottischen Stadt Glasgow, die vor mehr als 10 Jahren vorexerzierte, dass sich durch Investitionen in die Kultur das Image einer Stadt aufpolieren lässt, mit dem Ziel, Firmen dort ansiedeln und so Arbeitsplätze zu schaffen – eine lebendige und aufregende Kulturszene ist Teil einer notwendigen sozialen Infrastruktur, ohne die sich Investitionen nicht anlocken lassen.

    Auch in Gateshead scheint die Idee Früchte zu tragen: im Gefolge der aus einem riesigen Getreidesilo entstandenen Kunstgalerie Baltic, der neuen, sich wie ein Augenlid öffnenden Zugbrücke für Fußgänger, die mehrere Preise gewonnen hat, und nun des Sage Zentrums wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, und mehr Investitionen sollen folgen.

    Eine wie sonst übliche Galavorstellung zur Eröffnung des Musikzentrums unter Ausschluss der Öffentlichkeit schien angesichts des egalitären Konzepts unangebracht. Also organisierten Anthony Sargent und sein Team ein ganzes Wochenende voller Musik – vom gestrigen Freitag bis Sonntag spät in die Nacht. Musik sämtlicher Sparten, ein Mikrokosmos dessen, was das Jahr über geboten werden soll. Und das alles umsonst, denn die Eintrittskarten wurden auf Antrag an 15.000 Musikfans kostenlos verteilt.