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Ein Petersburger im Kreml

Weschnjakow: "Nach der bisherigen Auszählung der Stimmen ist eine ernsthaft Veränderung der Ergebnisse nicht mehr zu erwarten. Deshalb kann man bereits jetzt sagen, dass die Wahlen nicht nur gültig sind, sondern auch, dass als Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin gewählt wurde."

Sabine Adler und Robert Baag | 27.03.2000
    Weschnjakow: "Nach der bisherigen Auszählung der Stimmen ist eine ernsthaft Veränderung der Ergebnisse nicht mehr zu erwarten. Deshalb kann man bereits jetzt sagen, dass die Wahlen nicht nur gültig sind, sondern auch, dass als Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin gewählt wurde."


    Adler: Mit diesem Satz dürfte dem Top-Favoriten dieser vorgezogenen dritten Präsidentschaftswahl in Russland ein Stein vom Herzen gefallen sein. Denn ganz einerlei wäre es ihm wohl nicht gewesen, wenn er erst in einem zweiten Wahlgang in drei Wochen Klarheit darüber bekommen hätte, ob er nun tatsächlich das Riesenreich zu führen hat. Die Sorgen muss sich der amtierende und nun auch gewählte Präsident nicht mehr machen, doch die Zitterpartie der Nacht dürfte ihm noch in den Knochen stecken. Nur mühsam kletterten die Resultate ausgehend von der 44%-Prozentmarke weiter nach oben, in Zehntelprozentschrittchen, bis sie am Morgen bei 52,5 % stehenblieben. Das reichte für den Sieg allemal. Doch viele hatten sich Putins Wahlerfolg eindeutiger vorgestellt, rechneten mit einem klaren Ergebnis offenbar schon bald nach Schließung der Wahllokale. Deshalb wurde das bange Warten in der Nacht von ganz Ungeduldigen und Voreiligen bereits als Denkzettel gewertet. Putins Sieg lässt an Eindeutigkeit nichts vermissen, er entspricht den Erwartungen der vorangegangenen Wochen, in denen sein Erfolg prognostiziert wurde. Ausschlaggebend für Putins raschen Popularitätsgewinn war der Krieg in Tschetschenien. Nachdem bis heute Unbekannte in Buinaksk, Moskau und Wolgodonsk im Sommer vorigen Jahres vier Wohnhäuser in die Luft gesprengt hatten, eröffnete Putin die sogenannte antiterroristische Operation in Tschetschnien. Bis heute fehlt jeder Beweis dafür, dass Tschetschenen umgehend für den Tod der fast 300 Menschen verantwortlich sind. Obwohl der Hauptteil der militärischen Operation für beendet erklärt worden ist, gehen die Kämpfe im bergigen Süden der Republik weiter. Die bisherige Bilanz des Krieges: offiziell knapp 2000 Tote auf russischer Seite. Beim Soldatenmütterkomitee und in: der russischen Armee selbst gibt es Zweifel an diesen Zahlen, die wahren Verluste lägen bei 6000 bis 7000 Toten. Wie viele Tschetschenen in ihren Heimatorten durch Bomben , Artillerie oder Heckenschützen gestorben sind, hat niemand gezählt. Und dass 13 000 Rebellen ums Leben gekommen sein sollen, behauptet die russische Seite. Sie übertreibt vermutlich, so wie die Tschetschenen dagegen die eigenen Verluste herunter spielen. Doch all das Leid, auch der Anblick der sogenannten befreiten Städte wie Grosny oder zuletzt das Bergdorf Komsomoiskoje, von denen heute nur noch Schuttberge übrig sind, konnte die öffentliche Meinung nicht verändern. Putin hat mit seinem Krieg gegen die Tschetschenen Rückhalt im Volk, Rache für die Wohnhausopfer, der Wunsch, die abtrünnig Republik auf Linie zu halten und für die Wiederherstellung von russischem Recht und russischer Ordnung zu sorgen, sind Gründe dafür. Auch, dass die Armee damit eine Chance zur Rehabilitierung bekommen hat, spielt eine Rolle. Das Militär fühlt sich aufgewertet. General Troschew, einer der Kommandeure der russischen Truppen in Tschetschenien, machte denn auch klar, dass für ihn und für seine Soldaten in Tschetschenlen nur ein Kandidat in Frage kam.

    Troschew: "Diese Fallschirmjäger hier haben ihre Stimme abgegeben. Wen sie gewählt haben, ist natürlich ihre Sache, das wichtigste ist, dass sie dem Richtigen ihr Vertrauen gegeben haben, aber wir Militärs wissen natürlich, wer der Mann ist, der mit uns gemeinsam diese wichtige Aufgabe erfüllt und uns unterstützt."

    Adler: . Eine nicht unerhebliche Rolle spielt auch der latente Rassismus, den die Russen gegen Tschetschenen im besonderen und gegen die Kaukasier im Allgemeinen hegen. Dass die Tschetschenen auf ihr Recht, einen russischen Präsidenten zu wählen, fast vollständig verzichtet haben, verwundert angesichts dessen nicht.

    Ruslan: "Sie haben Gas gesprüht, drei Leuten in meiner Zelle war das Trommelfell geplatzt, sie konnten nichts mehr hören. Sie haben ihnen auch die Finger gebrochen, die Ohren abgerissen und die Zähne angeschliffen."

    Baag: Als die Bilder und diese Aussagen des tschetschenischen Folteropfers Ruslan auf den Fernsehschirmen erschienen und auch das internationale Publikum schockierten, wuchs der öffentliche Druck auf die ausländischen Regierungen, sich endlich stärker über die Moskauer Kriegsführung im Kaukasus zu beschweren. Die ausländischen Proteste fielen danach dann deutlicher aus. Aber Moskau ist beim Tschetschenien-Thema bislang nur zu minimalen Zugeständnissen bereit - etwa bei der möglichen Zusage an den Europa-Rat, drei Menschenrechts-Experten in das kriegszerstörte Land reisen zu lassen. Immerhin hatte der Europa-Rat der Moskauer Führung vor kurzem klar gemacht, dass schon im April Russlands Mitgliedschaft im Europa-Rat suspendiert werden könnte. Und zwar dann, wenn sich die Menschenrechtslage in Tschetschenien nicht verbessern sollte und nicht zu erkennen ist, dass Moskau den Krieg tatsächlich zu beenden gewillt ist. Ein - vielleicht auch nur zeitweiliger - Hinauswurf aus dem Europa-Rat würde die prestigebewussten Russen empfindlich treffen, darüber sind sich die meisten Beobachter schon jetzt einig. Ein russisches Nachgeben insgesamt sei aber selbst dann nicht zu erwarten. Während deshalb viele westliche Diplomaten darauf setzen, potentielle Gesprächs- und Kontakt-Möglichkeiten mit Moskau lieber nicht abreißen zu lassen, beurteilen russische Politologen wie Andrej Piontkowski das Verhalten des Westens ziemlich ernüchtert:

    Piontkowski: "Der Westen hat Putins Spielregeln akzeptiert. Seine Botschaft an den Westen ist sehr einfach: In meinem Land tue ich, was ich will, zerstöre Städte, kidnappe missliebige Journalisten - das ist meine Angelegenheit. Mischt euch da bitte nicht ein, vor allem in Gestalt der Menschenrechts- Agenda. Meinerseits bin ich gern bereit zu staatlichen bilateralen Beziehungen, für ein konstruktives Herangehen an Sicherheitsfragen, wenn es um strategische Stabilität oder Wirtschaftsfragen geht. Totalitäre Regime versprechen gerne Sicherheit für ausländische Investoren. Wenn sich wie jüngst hier westliche Prominenz die Klinke in die Hand gibt, heißt das ganz einfach: 'Ja, der Westen sagt, wir akzeptieren diese Botschaft.' Der Westen demonstriert so seine völlige Heuchelei und dass er sich um demokratische Werte gar nicht so sehr kümmert oder um die Menschenrechte. Das beteuern sie nur. In der Praxis hätte der Westen wahrscheinlich in Russland gerne ein Regime ähnlich dem in China."

    Baag: Diese Einschätzung des Politologen Andrej Piontkowski wird flankiert von Äußerungen Wladimir Putins, die jüngst am "Tag der Grenztruppen" fielen - nebenbei: Zu Sowjetzeiten waren die Grenzsoldaten dem Geheimdienst KGB unterstellt. "Zuckerbrot und Peitsche" - gern setzt Putin dieses Mittel auch ein, wenn er Ängste aus dem In- und Ausland anspricht, bei seinem Wahlsieg werde Russland sich wieder selbst isolieren und vielleicht sogar der Kalte Krieg eine Renaissance erleben:

    Putin: "Kein einziger Bandit darf in das Territorium Russlands eindringen. Kein einziger Bandit darf das Territorium Russlands verlassen, um sich der gerechten Strafe zu entziehen. - Die Hauptaufgabe muss sein, die ökonomischen Interessen das Staates mitzuverteidigen. Wir haben keinerlei Absicht, den berühmt-berüchtigten 'Eisernen Vorhang' wiederauferstehen zu lassen. Wir brauchen eine zivilisierte Grenze, eine Staatsgrenze, die offen ist gegenüber der ganzen Welt."

    Baag: Kardinale Richtungsänderungen in den außenpolitischen Grundlinien Russlands erwarten die wenigsten Beobachter nach dem Wahlsieg Putins. Eine Einschätzung, die noch in der vergangenen Woche Außenminister Igor Iwanow indirekt bestätigte:

    Iwanow: "Ich glaube, es wäre nicht korrekt, wenn ich jetzt über die Initiativen des zukünftigen russischen Präsidenten sprechen würde. Allerdings kann ich sagen: Unsere Außenpolitik ist berechenbar und stellt einen Faktor der Stabilität für die Welt dar."

    Baag: Denkbar ist ein größeres Engagement Moskaus in Richtung EU, wobei russische Diplomaten offen einräumen, dass sie Deutschland als Schlüssel-Partnerland ansehen. Ein fließend deutsch sprechender Präsident Putin bedeutet dennoch keineswegs automatisch, dass Berlin und Moskau eine betonte Ausrichtung hin zu einer russisch-deutschen Sonderbeziehung anstreben. Dem stehen schon traditionell jeweils national-innenpolitisch begründete Argumente entgegen. Aber auch internationale Rücksichtnahmen und Empfindlichkeiten müssen - vor allem auf deutscher Seite einkalkuliert werden. In Russlands ureigenstem Interesse liegt es - und auch die neuen Verantwortlichen wissen das -, die Kontakte zu den sogenannten G-8-Ländern sorgsam zu pflegen. Denn - ein wichtiger Teilaspekt - nur so wird Russland zum eigenen Nutzen an der international rasch fortschreitenden Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie teilhaben können. Die noch aus der Jelzin-Ära stammende Orientierung auf sogenannte "Paria"-Staaten wie etwa Milosevics Rest-Jugoslawien oder Saddam Husseins Irak dürfte zunächst anhalten. Denn sie lässt sich - vom Westen übrigens nicht unverschuldet - jederzeit abrufbar instrumentalisieren als Hintergrund für eine seit langem populäre antiwestliche, vor allem aber anti-amerikanische Rhetorik auch offizieller Vertreter Russlands. Menschenrechtsbelange, wie sie westlich der russischen Grenzen in zwischenstaatlichen Beziehungen als Kriterium herangezogen werden, spielen dabei übrigens eine untergeordnete, oft sogar überhaupt keine Rolle - so wie dies nicht selten auch in der russischen Innenpolitik der Fall ist:

    Adler: "Who is Putin?" - diese Frage stellt man sich nicht nur im Ausland, auch die Russen selbst wissen nicht viel über den Mann, der nun die Geschicke ihres Landes lenken soll. Obwohl er in den vergangen Wochen und Monaten permanent auf dem Bildschirm zu sehen war, haben seine Landsleute nicht viel über ihn erfahren, vor allem, was sein Programm betrifft. Als ehemaliger Geheimdienstchef wird er nichts unternehmen, was die Arbeit der verschiedenen Inlands- und Auslandsdienste einschränkt. Vielmehr möchte er ihr Image aufpolieren.

    Putin: "Zweifellos ist die Kontrolle durch den Staat nötig, andererseits muss man den Geheimdiensten aber auch die Möglichkeit geben, ihre Pflicht zu erfüllen. Man muss das Prestige dieser Organe und der dort arbeitenden Menschen pflegen."

    Außerdem kursiert seit Herbst vorigen Jahres das Gerücht, dass ein weiterer Dienst gegründet werden soll, der sich ausschließlich mit dem Kampf gegen die Korruption befassen soll. Angeblich möchte Putin die direkte Kontrolle dieses Dienstes übernehmen.

    Putin: "Die Diktatur des Gesetzes ist die einzige Diktatur, der wir uns beugen müssen."

    Dieser Satz zog sich wie ein Wahlkampfmotto durch die vergangenen Wochen. Elena Bonner, die Witwe von Andrej Sacharow, dem Dissidenten und Friedensnobelpreisträger, warnt vor einem neuen modernisierten Stalinismus in Russland. Der Politologe Andrej Piontkowski stimmt ihr grundsätzlich zu:

    Piontkowski: "Es ist ganz offensichtlich, dass sich Russland unter Putin vielleicht nicht direkt zum Stalinismus, aber zumindest doch wieder zu einem autoritären Regime hin entwickelt Man kann über Jelzin sehr viel sagen, aber er hat nie versucht, die Presse- und Meinungsfreiheit zu beschränken. Aber was jetzt vor sich geht, das zeigt der Druck auf unabhängige Informationsquellen, ist genau dies. Putin ist ein ehemaliger Geheimdienstmann, und das sagt alles über seine politischen und ideologischen Vorlieben."

    Adler: Mit Beginn des neuen Schuljahres soll es an den russischen Schulen der vormilitärische Unterricht wieder eingeführt werden. "Grundlagen militärischen Wissens" wird das Unterrichtsfach heißen. Für viele Eltern weckte diese Ankündigung unliebsam Erinnerungen an Schulstunden zu Sowjetzeiten, in denen auch der Umgang mit Waffen geübt wurde. Für Grigori Jawlinski ist die Militarisierung der Gesellschaft unübersehbar.

    Jawlinski: "Wenn die Politik auf Kriegshysterie setzt, wenn Fragen wie diese Wahlen anhand angeblicher militärischer Erfolge entschieden werden und parallel dazu die militärische Vorbereitung sogar in den Kindereinrichtungen stattfindet, dann sind das Zeichen für die Militarisierung des Landes."

    Baag: Die russischen Streitkräfte, deren Offizierskorps, vor allem die Generale und Admirale, sind nach überwiegender Experten-Ansicht diejenigen gewesen, die Wladimir Putins Karriere zum Staatsoberhaupt Russlands entscheidend befördert haben: Er verschaffte ihnen vor einem halben Jahr die Chance, sich nach der Niederlage im sogenannten "Ersten Tschetschenien-Krieg" in der Mitte der neunziger Jahre nun mit einem neuen Waffengang im Nordkaukasus rächen zu können. Russlands Militär fühlt sich wieder respektiert, spürt einen Zugewinn an Einfluss. Von einer Abschaffung der Wehrpflicht - wie früher von Jelzin versprochen - ist derzeit keine Rede mehr. Aus der ebenfalls von Putins Vorgänger immer wieder angekündigten Berufsarmee dürfte - zumindest mittelfristig nichts werden. Wehrpflichtige - so das Kalkül - sind eben in jeder Hinsicht einfach billiger. Bleibt abzuwarten, ob das wegen ihrer brutalen Menschenführung geringe Ansehen der Armee in der Bevölkerung wieder steigen kann - im Augenblick hilft den Militärs dabei nicht zuletzt die propagandistisch hemmungslos positiv eingefärbte Berichterstattung der meisten russischen Medien über die Heidentaten ihrer Soldaten im Nordkaukasus. Es bleibt weiterhin abzuwarten, inwieweit Putin - die angespannte Finanzlage Russlands vor Augen - bereit sein wird, größeren finanziellen Begehrlichkeiten seiner Generale nachzugeben. Sie fordern schon seit langem modernere, teure Waffensysteme und Ersatz für die Materialverluste in Tschetschenien. Der Krieg dort - eigentlich sollte er ja bis zum gestrigen Wahlsonntag beendet sein - hat einmal mehr die erheblichen Schwachpunkte bei den russischen Bodenstreitkräften offen gelegt. Gegenüber einem von entschlossenen und motivierten Gegnern geführten Partisanen-Krieg wirkt die auf konventionelle Kriegsführung getrimmte Strategie und Taktik des russischen Generalstabs - zumindest phasenweise - hilflos. Und das, obwohl sich russische Sicherheitsexperten offenbar seit geraumer Zeit darüber im Klaren sind, dass gerade im Vielvölker-Staat Russland kurz- bis mittelfristig weitere Regionalkonflikte auch in Zukunft keineswegs auszuschließen sind. Unter der neuen russischen Verteidigungs-Doktrin fehlt noch die abschließende Unterschrift Putins. Aber dass dieses Dokument bald auch juristisch in Kraft tritt, gilt inzwischen als sicher. Denn weshalb die bisher geltende, letztmals vor sieben Jahren novellierte Sicherheits-Konzeption überarbeitet worden ist, begründete Wladimir Putin kürzlich selbst:

    Putin: "Die Ereignisse im Nord-Kaukasus gehen nicht nur Russland etwas an, sondern auch die GUS-Staaten im Süden: Tadshykistan, Kirgisien, Usbekistan... - all das müssen wir im Auge behalten!"

    Baag: Spätestens seit dem Herbst 1998, zeitgleich in etwa mit der sogenannten "Rubel-Krise", haben Verteidigungsexperten in der Sicherheits- und Außenpolitik Russlands einige Akzentverschiebungen festgestellt, die auf den deutlicher werdenden Meinungsverschiedenheiten mit dem Westen beruhen. Die Reiz- und Schlüsselworte hier heißen "NATO-Ost-Erweiterung" und "NATO-Intervention im Kosovo". Anlas vor kurzem für Wladimir Putin - in Personalunion mit seinem Präsidentenamt ist er auch Oberbefehlshaber der Streitkräfte Russlands - unmissverständlich Klartext zu reden:

    Putin: "Die NA70 hat ihre Einfluss-Sphäre ausgeweitet. Dies lässt sich faktisch daran feststellen, dass sie die Möglichkeit und das Recht wahrnimmt, Entscheidungen zu treffen, ohne vorher einen Entschluss des UN-Sicherheitsrates abzuwarten. All das sind neue Elemente, die wir nicht außer Acht lassen können."

    Baag: Noch am vergangenen Freitag, zwei Tage vor dem Wahltermin, rief Putin im Fernsehen dazu auf, einen Präsidenten zu wählen, der fähig sei, das Prestige Russlands wiederherzustellen. Schließlich sei Russland eine Atommacht. Und daran erinnere er nicht nur die Freunde Russlands. Aber auch hier sollte - wie bei den anderen Politikfeldern zunächst zwischen Ankündigungsrhetorik zu Wahlkampfzeiten und tatsächlichen, nüchtern analyse-begründeten Optionen der neuen russischen Führung unterschieden werden. In der Sicherheitspolitik deutet viel darauf hin, dass geschäftsmäßig gute Beziehungen mit den Ländern des Westens und der Führungsmacht USA auch künftig angestrebt werden. So wollen zum Beispiel viele Beobachter nicht ausschließen, dass Russland noch in diesem Jahr den mit Washington seit langem ausgehandelten START-II-Vertrag ratifizieren könnte. Ganz besondere Aufmerksamkeit schließlich will Putin dem sogenannten "nahen Ausland" widmen, den ehemaligen Sowjetrepubliken also, die im ansonsten eher lockeren postsowjetischen Staatenbund GUS - der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten - zusammengeschlossen sind. Hier soll offenbar die Zusammenarbeit in wirtschaftlicher, aber auch militärischer Hinsicht möglichst enger gestaltet werden. Ob Moskau es indes schaffen wird, Ängste vor einem russischen Vormachtstreben innerhalb der GUS zu zerstreuen, bleibt gerade vor dem Hintergrund der neoimperialen Töne in Russland mehr als zweifelhaft.

    Adler: Noch als Ministerpräsident im Oktober vorigen Jahres trat Wladimir Putin für die Wiederbelebung der einheimischen Rüstungsindustrie ein, die 200 Vertreter der russischen Waffenschmieden waren begeistert und seitdem Putin-Anhänger. Zu Sowjetzeiten machte die Rüstungsproduktion den Löwenanteil des Bruttoinlandproduktes aus. Nach dem Zerfall der Blöcke brach auch die sowjetische Rüstungsindustrie zusammen, riesige Anlagen, die ganzen Regionen das Überleben sicherten, sollten stillgelegt oder auf zivile Produktion umgestellt werden. Die meisten Betriebe fuhren ihre Produktion zwar deutlich herunter, doch Rüstungskonversion gelang nur in Ausnahmefällen. Deshalb fällt die Idee der Reanimation auf fruchtbaren Boden. Mitte voriger Woche versprach Putin den Rüstungsschmieden, dass der Staat ausstehende Rechnungen bis Jahresende bezahlt. Woher das Geld darüber hinaus für neue staatliche Aufträge an die Rüstungsbetriebe kommen soll, ist noch unbekannt. Der russischen Wirtschaft geht es dank der gestiegenen Ölpreise zwar wieder etwas besser, aber noch keineswegs gut. Die Verarmung der Bevölkerung konnte nicht aufgehalten werden, ein Drittel der Menschen lebt unter dem Existenzminimum, das bei 940 Rubel, umgerechnet 70 Mark im Monat liegt. Otto Wolf von Amerongen, der Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft, kennt den bis gestern amtierenden und heute gewählten Präsidenten Putin schon fast 10 Jahre. Ihm traut er zu, was Boris Jelzin nicht geschafft hat: die Einführung einer wirklichen Marktwirtschaft mit einer entsprechenden Bankenaufsicht und Rechtssicherheit für Investoren, weil:

    von Amerongen: "die Bereitschaft einer neuen Wirtschaftsordnung bei den Jüngeren größer ist, weil sie einfach nicht so viel in dem alten System mitgemacht haben, das ist ein Vorteil von Putin. Zweitens mal haben die Damen und Herren, die in den Diensten standen, in denen er stand, einen Einblick in Russland von außen gehabt als die Leute, die an erster Stelle in Moskau saßen. Das merkt man ihm schon an."

    Adler: Wahlversprechen hat Wladimir Putin in den vergangenen Wochen viele gegeben, nun muss er sich beim Wort nehmen lassen und den Rentnern um 40 % erhöhte Pensionen sowie den Ärzten, Lehrern und Beamten 20 % mehr Gehalt zahlen. Sie wollen Taten sehen und werden Putin zunächst nur daran messen, ob am ersten April tatsächlich mehr Geld in ihre dünnen Portemonnaies kommt. Alles, was auch nur im entferntesten nach Vertröstung klingt, dürfte sie misstrauisch machen, wie zum Beispiel der Auftritt Putins an seinem heutigen ersten Tag als gewählter Präsident.

    Putin: "Auf Wunder soll niemand hoffen. Morgen werden die ganz sicher nicht beginnen. So etwas zu sagen, wäre ein Fehler, wäre schädlich. Denn wenn man falsche Hoffnungen bei den Menschen weckt, kommt es bald zu Enttäuschungen. Schwierig ist nur, dass die Erwartungshaltung tatsächlich sehr hoch liegt. Dies habe ich bei meinen Reisen durch die russischen Regionen gespürt. Die Menschen sind wirklich müde, sind erschöpft und sie erwarten eine Wende zum Besseren. Aber Wunder, die gibt es nicht."