Donnerstag, 25. April 2024

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Ein Plädoyer für die Intoleranz

"Repressive Toleranz" nannte vor einem halben Jahrhundert Herbert Marcuse jene Tendenz, alles Unwichtige zu dulden, damit das Wesentliche nicht zur Sprache kommt. Kleine Rebellionen zum Beispiel, angeblich doch gesellschaftsgefährdend, werden ermutigt, mit allen Mitteln und Medien gefördert und öffentlich belobigt als kühne individuelle Akte - damit die Betroffenen sich auf diesen Nebenschauplätzen austoben können, während die existenziellen Belange - etwa die wirtschaftlichen Verhältnisse - als trivial und nicht der Aufmerksamkeit wert heruntergespielt werden.

Eike Gebhardt | 14.04.1999
    Zizek hat diese Denkfigur in die heutige Zeit übersetzt - freilich durch das Brennglas US-amerikanischer Verhältnisse. Was wir als "politisch korrekte" Einstellungen und Verhaltensweisen beschreiben, ist dort zu einer Art "Identitäts-Politik" geworden, so wörtlich der Begriff für die stillschweigende Unterstellung, daß Kultur und Ethnie, sexuelle Vorlieben und das Geschlechterverhältnis allgemein die eigentlichen Kriegsschauplätze unserer Zeit seien: In diesen Bereichen stehe die eigentliche Identität der Menschen auf dem Spiel, hier sind die wahren, tiefen Bedrohungen zu gewärtigen, Attacken auf die Würde und Integrität: Machtkämpfe, die eben die eigentliche Identität von Individuen und Gruppen auszulöschen drohen.

    Diese Form der Politik, eben "Identitäts-Politik" kann jedem Machthaber nur recht sein - sie läßt die wahren Machtverhältnisse unangetastet, ja unerwähnt. Der wahre Konservatismus wird also den Pluralismus in jeder Form ermutigen, höhnt Zizek - die Grabenkämpfe des Multikulturalismus schon gar, nicht nur nach dem Prinzip "Teile und Herrsche", sondern weil die heute modische Annahme, der selbstgewählte Lebensstil sei das Primärindiz der Mündigkeit in einer Welt, in der ja sonst nichts mehr verbindlich ist:

    "All das an allen Ecken lauernde Gerede über neue Formen der Politik bezieht sich auf partikulare Angelegenheiten (Rechte der Schwulen, Ökologie, enthnische Minderheiten ... ), all diese unaufhörliche Aktivität flüssiger, sich verwandelnder Identitäten, der Herstellung von vielgestaltigen ad-hoc-Koalitionen hat etwas Unauthentisches an sich und gleicht letztlich dem obsessiven Neurotiker, der unaufhörlich daherredet und auch sonst fürchterlich aktiv ist, gerade um zu vermeiden, daß etwas - etwas, das wirklich zählt - nicht gestört wird."

    Was die Identitätspolitiker für Politik halten, ist für Zizek genau das Gegenteil: die Entpolitisierung der gesellschaftlichen Grundlagen, eben der Wirtschaft. Diese nämlich sei nicht ein politisches Thema unter anderen, sondern die Voraussetzung für jede Politik. Der frühere Feminismus wußte das noch, bevor er sich in modischen semiotischen Haarspaltereien verfranste.

    "Solange ... diese fundamentale Entpolitisierung der ökonomischen Bereichs akzeptiert wird, wird all da Gerede über aktive Bürgermitbetimmung, über öffentliche Diskussionen, die zu verantwortungsvollen gemeinsam getroffenen Entscheidungen führen und so weiter, auf die 'kulturell' limitierten Anliegen der religiösen, sexuellen, ethnischen und anderen Lebensformunterschiede begrenzt bleiben."

    Eine der wichtigsten Aufgaben der Ideologie ist immer diese Entpolitisierung: Die Einstellungen, die sie propagiert, sollen so natürlich, selbstverständlich sein beziehungsweise scheinen, daß die gar nicht der öffentlichen Diskussion, geschweige Verhandlung unterworfen sind. Aus dieser Sicht ist Ideologie dann immer das, was der Andere hat. Oder haben Sie schon einmal von einer christlichen Ideologie, einer demokratischen Ideologie sprechen hören? Kommunistische Ideologien, faschistische Ideologien - nur galten diese im Faschischmus oder Kommunismus gleichfalls nicht als ideologisch; das falsche, verblendete Bewußtsein hatte immer nur die Gegenseite.

    Wen Multikulturalismus überhaupt einen Wert haben soll, dann als multiple Perspektive, also als Ende aller Selbstverständlichkeiten. Und so plädiert auch Zizek fröhlich unverfroren für eine Umgewichtung gesellschaftspolitischer Themen. Es sei im Interesse gewisser gesellschaftlicher Interessen, diese Interessen zu verdrängen, hatte Jürgen Habermas dereinst gespottet. Die wirtschaftliche Interessenpolitik habe ein Interesse daran, nicht als privates Profitinteresse dazustehen, sondern als globaler Naturzustand - und genau diese Metapher eines sozialen Naturzustandes läßt jeden kritischen Standpunkt als ‘unnatürlich’ erscheinen. Zizek ist unbeeindruckt:

    "Der einzige Weg, eine Gesellschaft herbeizuführen, in der risikoreiche basale Entscheidungen aus einer öffentlich geführten Debatte aller Betroffenen resultierten, besteht in einer Art radikaler Limitierung der Freiheit des Kapitals, in der Unterordnung des Produktionsprozesses unter soziale Kontrolle, was eine radikale Repolitisierung der Ökonomie bedeutet."

    Nach der stillen Implosion des fälschlich so genannten Sozialismus überschlugen sich Teile der Linken im Anbiedern an den neuen Naturzustand, den man so lange verkannt habe. Eine gespenstische Konstellation hat sich herausgebildet: die einzigen respektablen Kritiker des Kapitalimus, fürchtet Zizek, tummeln sich ausgerechnet, im konservativen Lager:

    "Die einzige seriöse politische Macht, die fortfährt, die Regel eines uneingeschränkten Marktes in Frage zu stellen, ist die populistische extreme Rechte."

    Das ist eine so niederschmetternde wie leider akkurate Diagnose. Übrigens keine neue. Die Tendenzen sahen schon die Kritiker der Kulturindistrie, allen voran die Frankfurter Schule. Und während Adorno sich zum Beispiel ins angebliche Bollwerk unbestechlicher Ästhetik flüchtete, plädierte sein Kollege Horkheimer allen Ernstes für eine Stärkung der religiösen Kräfte in der Gesellschaft: sie seien die einzigen, bei denen einige der klassischen menschlichen Belange, Phantasien und Potentiale heute überlebten, während alles dem Gesetz der Verwertbarkeit unterworfen werde. Der unkritische Multikulturalismus ist für Zizek nichts weiter als postmoderne Beliebigkeit: Anything goes:

    "Der 'tolerante' multikulturelle Ansatz vermeidet ... die entscheidende Frage: wie können wir den politischen Raum wieder in die heutigen Bedingungen der Globalisierung einführen?"

    Intoleranz auch und vor allem gegenüber den sozialen Schattenboxern scheint Zizek hoffnungsvoller - vor allem verantwortungsvoller als jene blinde Duldung jedes beliebigen Machtanspruchs aufgrund willkürlicher Identitäten. Angebliche Naturzustände entmündigen die Menschen zu Vollstreckern von Vorgaben.