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Ein Prosit der Sterblichkeit

Mehr als zehn Millionen Menschen trinken in Deutschland mehr, als gut für sie ist. 10.000 sterben jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums, und ebenso viele Kinder kommen mit Entwicklungsstörungen auf die Welt, die auf den Alkoholkonsum ihrer Mütter zurückzuführen sind.

Von Kristin Raabe | 03.02.2008
    "Nach der Bundeswehrzeit bin ich dann in die Gastronomie eingestiegen. Und wenn man da denn die Gaststätte schon morgens um sieben aufmacht, dann war der erste Alkohol wie ein Brötchen zum Beispiel. Also ich habe morgens, wenn die anderen Leute ihren Kaffee getrunken haben, habe ich meinen Cola Rum getrunken. Und das wurde immer mehr und immer mehr, flaschenweise."

    Gerd Maiwald (Name von der Redaktion geändert) ist heute 57 Jahre alt. Warum er angefangen hat zu trinken, weiß er nicht mehr. Als Wirt einer Kneipe, hatte er die Droge ständig vor Augen. Viele seiner Gäste waren ebenfalls Alkoholiker. Auch später bei seiner Arbeit auf dem Bau, wurde viel getrunken. Sicher ist es nicht das Umfeld, das Gerd Maiwald zum Alkoholiker gemacht hat. Alkoholkranke gibt es überall in unserer Gesellschaft. In Banken, Arztpraxen und Anwaltsbüros verstecken Angestellte und Chefs nicht selten ihre Alkoholration für den Tag in der Schreibtischschublade. Alkoholiker finden sich in der Villa in Schwabing genauso wie im sozialen Brennpunkt einer Großstadt – oder auch in einem Reihenhaus in einer Stadt am Niederrhein.

    "Bei meiner Mutter war es so, da war ich 12 oder 13 als ich feststellte, dass eigentlich immer wieder ein Glas Wein auf dem Wohnzimmertisch stand und das füllte sich auch immer wieder. Das war einfach immer da, da habe ich irgendwann angefangen zu denken, 'Komisch, geht es eigentlich auch ohne Wein.' Durch diesen Wein, der abends da immer stand und langsam gesüffelt wurde, wurde sie immer ruhiger und sedierter so ein bisschen lalliger irgendwann und erzählte immer wieder dieselben Stories. Dass ich irgendwann feststellte dieses permanente Wiederholen von Geschichten, das hat auch mit dem Wein zu tun, wie oft ich gesagt habe: ‚Mama, das hast Du mir schon erzählt.’ Und da ist mir auch erst aufgefallen, dass der Wein zu etwas führt, das ich unangenehm finde bei meiner Mutter."

    "Ein Prosit der Sterblichkeit
    wie regelmäßiger Alkoholkonsum das Leben verkürzt
    Von Kristin Raabe."

    Mehr als zehn Millionen Menschen trinken in Deutschland mehr als gut für sie ist. 10.000 sterben jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums und ebenso viele Kinder kommen mit Entwicklungsstörungen auf die Welt, die auf den Alkoholkonsum ihrer Mütter zurückzuführen sind. Die Menschen mit Alkoholproblemen werden immer jünger. Seit 1970 ist das Einstiegsalter von 15 auf 13 Jahre gesunken. Noch im Jahr 2000 wurden 9500 Jugendliche mit akuter Alkoholvergiftung in bundesdeutsche Kliniken eingeliefert. Im Jahr 2005 waren es bereits 19.400. Beim Alkoholkonsum liegt Deutschland im europäischen Vergleich in der Spitzengruppe. Zehn Liter reinen Alkohol pro Jahr trinkt im Schnitt jeder Deutsche.

    Wir leben im Land der Dichter und Trinker. Dabei ist das, was wir in so großen Mengen konsumieren ein gefährlicher Stoff. Alkohol zerstört Nervenzellen und lässt kaum ein Organ unbeschädigt. Er verursacht mehr Fehlbildungen bei Kindern als jede andere Substanz, die Schwangere zu sich nehmen. Und Alkohol ist krebserregend. Ständig entdecken Wissenschaftler neue Wirkmechanismen von Alkohol im menschlichen Körper. Ihre Ergebnisse lassen nur einen Schluss zu: Das, was in Flaschen und Büchsen abgefüllt reihenweise in den Regalen der Supermärkte steht, ist ein tödliches Gift.

    Schon beim ersten Schluck Wein, Bier oder Schnaps wehrt sich der Körper gegen dieses Gift. Bereits in der Mundhöhle beginnt der Alkoholabbau. Professor Manfred Singer untersucht schon seit Jahrzehnten, wie Alkohol im Körper wirkt.

    "Die Leber ist die größte Drüse im Körper, ein ganz kompliziertes, ein ganz wichtiges Organ, quasi die Fabrik des Körpers und dort wird Alkohol in diesen Leberzellen abgebaut und das Entscheidende ist, während des Abbaus von Alkohol entsteht Acetaldehyd, und Acetaldehyd ist ein Stoff der hochtoxisch ist."

    Acetaldehyd ist ein gefährliches Zellgift, das auch die Erbsubstanz der Zellen schädigen kann. Wie gut jemand Alkohol verträgt, hängt in erster Linie davon ab, wie schnell die körpereigene Enzymausstattung das Acetaldehyd zu Essigsäure und schließlich zu Kohlendioxid und Wasser abbauen kann. Bei vielen Asiaten etwa wird das Acetaldehyd gar nicht oder nur sehr langsam abgebaut. Sie leiden nach dem Genuss von alkoholischen Getränken an regelrechten Vergiftungserscheinungen: Herzrasen und Übelkeit beispielsweise. Aber auch bei Europäern führen verschiedene Genvarianten dazu, dass der eine mehr verträgt als der andere. Das Ausmaß eines Leberschadens wird durch die genetische Ausstattung des Trinkers mitbestimmt. Starker Alkoholkonsum greift die Leberzellen so stark an, dass sie ihre normalen Aufgaben – Fette speichern und ans Blut abgeben – nicht mehr erfüllen können. Singer:

    "Es kann sein, dass innerhalb von wenigen Monaten 50 bis 60 Prozent der Leber verfettet sind. Wenn die Menschen jetzt aufhören Alkohol zu trinken, das heißt nach etwa zwei bis drei Monaten vollständiger Alkoholabstinenz ist dieses Fett aus der Leber wieder abgebaut. Das ist also ein reversibler Vorgang, wenn man aber jetzt weiter Alkohol trinkt, dann kann es im Verlaufe der nächsten Jahre dazu kommen, dass zu dieser Fettleber einer Entzündung der Leber ausbildet."

    Bei einer Leberentzündung gehen schließlich immer mehr Leberzellen zugrunde. Diese zerstörten Zellen werden durch wirkungsloses Narbengewebe ersetzt. Aus der riesigen Fettleber wird schließlich eine Schrumpfleber, die kaum noch ihre Aufgaben erfüllen kann. Leberzirrhose nennen Mediziner diese Folge von Alkoholmissbrauch. Nicht selten entsteht aus der Leberzirrhose ein Leberkrebs. Alkohol ist hierzulande die häufigste Ursache für diese Form von Krebs.

    "Sie war auch einmal beim Arzt, kam wieder, meine Mutter war teilweise auch sehr naiv. Und sie sagte dann zu mir: ‚Hör mal, ich komme gerade vom Arzt, da hat mich doch die Ärztin gefragt, ob ich Alkoholprobleme hätte, weil meine Leberwerte so schlecht sind.’ Und mir ist natürlich in dem Moment die Kinnlade runtergefallen und meine Mutter fand das noch so ein bisschen amüsant. Und ich habe dann gesagt: ‚Mama, du hast ein Alkoholproblem, du musst das jetzt mal ernst nehmen, du musst damit aufhören. Das zerstört dich, das zerstört deine Leber und du wirst da irgendwann dran sterben.’"

    Alkohol hat viele Gesichter. Das erlebte die heute 37jährige Martina Sörensen (Name von der Redaktion geändert) in der eigenen Familie. Die Alkoholsucht des Vaters hat sie jahrelang gar nicht als Sucht, sondern nur als gelegentliche Ausfälle wahrgenommen.

    "Sonntag war oft kritisch, dann ist er zum Frühschoppen rausgegangen. Da konnte es dann relativ häufig passieren, wenn er um 13 Uhr nicht da war, sprich zum Mittagessen, dann hing der Haussegen schief. Meine Mutter war sauer und ich saß da und dachte: Scheibenkleister, es wäre viel besser, wenn der Papa jetzt kommen würde, denn ansonsten ist der Sonntag ruiniert. Und wenn er dann kam und er kam zu spät, dann war er ziemlich betrunken."

    Familienmitglieder lernen die Sucht zu ignorieren. Und auch die Betroffenen selbst, wollen lange nicht wahrhaben, was mit ihnen los ist. Dabei gibt ihnen ihr Körper eindeutige Signale. Gerd Maiwald

    "Der Schweiß läuft und man haut sich die Flachmänner rein. Man will alles überspielen, man will es noch nicht wahrhaben, das man Alkoholiker ist."

    Aber Alkohol macht nicht nur Alkoholiker krank. Seit etwa einem Jahr fällt Alkohol auch offiziell unter die krebserregenden Substanzen. Und es sind gar nicht so viele Drinks nötig, damit sich das Krebsrisiko deutlich erhöht.
    Eine britische Studie vom August 2007, belegt, dass das Risiko für Darmkrebs schon bei einem Glas Bier oder Wein pro Tag um zehn Prozent steigt. Bei Frauen ist Alkohol einer der Hauptrisikofaktoren für Brustkrebs. Auch das Risiko für Krebsarten der Mundhöhle und der Speiseröhre steigert sich um 30 Prozent, wenn man nur ein Glas Wein pro Tag zu sich nimmt. Manchmal ist es nicht die direkte chemische Wirkung von Alkohol, die Zellen dazu bringt zu entarten und bösartige Tumore zu bilden. Manfred Singer von der Universitätsklinik Mannheim:

    "Was ganz wichtig ist, dass alkoholische Getränke bewirken einen Reflux, das heißt ein Zurückfließen der Magensäure in die Speiseröhre und das führt dann häufig zu Sodbrennen. Wenn dieses Sodbrennen sehr häufig ist, dann entwickeln viele Patienten eine Refluxösophagitis, also eine Entzündung der Speiseröhre. Die kann sehr unangenehm sein und wenn sie viele Jahre besteht auch zu einem gehäuften Vorkommen von Speiseröhrenkrebs führen."

    Die Speiseröhre ist auch auf andere Weise durch Alkohol in Mitleidenschaft gezogen. Weil die Durchblutung der Leber bei Alkoholikern nicht mehr richtig funktioniert, kommt es in den Blutgefäßen der Speiseröhre zu einem Blutstau. Es entstehen Krampfadern. Wenn diese Krampfadern in der Speiseröhre platzen, ist das in vielen Fällen tödlich. Auch in der Bauchspeicheldrüse hat der Alkoholkonsum verheerende Auswirkungen. Singer:

    "Wenn wir jetzt reichlich Alkohol trinken, dann führt das zu einer Eindickung des Saftes, des Verdauungssaftes der Bauchspeicheldrüse und dieser Verdauungssaft bleibt dann eingedickt in den feinsten Kanälchen liegen und da kommt es dann zu Ablagerungen von Eiweiß und von Kalzium und dann entstehen in diesen kleinsten Kanälchen der Bauchspeicheldrüse Steinchen, so ähnlich wie bei den Nierensteinen, und die verstopfen dann die Kanäle und bewirken weitere Veränderungen."

    Durch die Steinchen in den Kanälen der Bauchspeicheldrüse kommt es zu einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung. Und dadurch kann irgendwann ein bösartiger Tumor entstehen. Die Veränderungen in der Bauchspeicheldrüse sind noch schlimmer, wenn die Betroffenen zusätzlich rauchen. Manfred Singer:

    "Wir wissen aus Epidemiologien und auch aus der klinischen Praxis, dass fast 95 Prozent der Menschen, die alkoholkrank sind, auch rauchen. Früher hat man gesagt, es sei erst mal wichtig eine Sucht loszuwerden, diese Auffassung vertreten wir heute nicht mehr, sondern es zeigt sich doch, es müssen beide Abhängigkeiten angegangen werden, damit der Patient gesundet."

    Rauchen ist ein zusätzlicher Risikofaktor für Krebs oder eine der vielen anderen Alkoholfolgeerkrankungen. Gene spielen dabei allerdings auch eine Rolle, wie Wissenschaftler von der Universität Heidelberg vor wenigen Jahren herausfanden. Manche Menschen haben eine Genvariante, die dazu führt, dass beim Alkoholabbau mehr gefährliches Acetaldehyd entsteht. Acetaldehyd greift die Eiweißverbindungen der Zellen an, und es bindet an die Erbsubstanz DNA. Dadurch häufen sich Kopierfehler in der DNA, die zu Krebs führen können.

    Auf jeder Zigarettenschachtel findet sich eine Warnung über die tödlichen Konsequenzen des Rauchens. Auf Wein, Bier oder Schnapsflaschen fehlt jedoch der kleinste Hinweis auf die krebserregende Wirkung dieser Getränke. Und das, obwohl dafür etliche wissenschaftliche Beweise vorliegen. Stattdessen sind alkoholhaltige Getränke in Deutschland sogar günstiger zu haben als in vielen Nachbarländern.

    "Ich hatte eine schwere Operation, da ging es um Leben und Tod, da wurde mir die Hälfte von der Bauspeicheldrüse wegen Alkohol weggenommen."

    Gerd Maiwald hatte schon einen Priester an seinem Bett stehen, der ihm die letzte Ölung geben wollte. Er überlebte und trank weiter. Auch die Eltern von Martina Sörensen tranken, obwohl ihre Körper das eigentlich nicht mehr verkrafteten.

    "Bei meiner Mutter waren die alkoholischen Folgeerkrankungen viel deutlicher zu sehen. Sie hat einfach vom Kopf her abgebaut. Sie war nicht mehr so flexibel, sie hat alles immer wiederholt, sie war einfach nicht mehr auf Zack. Sie war so ein bisschen wie abgestellt. Und dann fingen die körperlichen Probleme an. Die Leber war sehr groß und durch diese vergrößerte Leber und die eingeschränkte Leberfunktion waren dann die Nieren sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Sie entwickelte eine Niereninsuffizienz. Zum Schluss hin hatte sie Wassereinlagerungen, wahnsinnig dicke Beine. Und fühlte sich auch unwohl, sie konnte nichts mehr essen und nichts mehr trinken. Musste sich auch übergeben. War manchmal ganz schmal im Gesicht, manchmal ganz aufgedunsen."

    Beim Vater zeigen sich erst relativ spät andere Symptome seines übermäßigen Alkoholkonsums.

    "Irgendwann war klar, nach solchen Aufnahmen, Röntgenaufnahmen im Gehirn, dass er Hirnverlust hatte, Hirnatrophie. Verschiedene Bereiche sind einfach untergegangen."

    Alkohol lässt das Gehirn schrumpfen. Und wo weniger Hirngewebe vorhanden ist, gehen unweigerlich auch geistige Fähigkeiten verloren. Besonders stark ist das Gedächtniszentrum betroffen. Manche Patienten mit schweren alkoholbedingten Gehirnschäden sind kaum noch in der Lage, sich etwas zu merken. Sie füllen ihre Gedächtnislücken stattdessen mit erfundenen Geschichten. Aber auch schon ein vergleichsweise geringer Alkoholkonsum hat Folgen: Zu Beginn der Sucht sinkt die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz um ein Viertel. Schätzungsweise 25 Prozent aller Arbeitsunfälle in Deutschland gehen auf Alkoholmissbrauch zurück.

    Hannelore Ehrenreich untersucht am Max-Planck Institut für experimentelle Medizin in Göttingen, wie Alkohol sich auf das Nervensystem auswirkt.

    "Es ist so, dass ein großer Prozentsatz der Patienten erhebliche Hirnschäden aufweist, die sich zeigen in der Bildgebung an einer Hirnatrophie, das heißt wir sehen praktisch, dass es zu einem Verlust an Hirnsubstanz kommt. Das ist nun ein sehr grobes Merkmal, das teilweise aber erschütternde Dimensionen annehmen kann, die sozusagen ein Gehirn zeigen, oft bei Mitte Vierzigjährigen, wie es sonst bei jemanden zu sehen ist, der 90 ist oder älter."

    Kaum ein Rezeptor oder Botenstoff im Gehirn, der durch Alkohol nicht beeinflusst wird. Vor allem aber bringt Alkohol das Gleichgewicht zwischen Hemmung und Erregung durcheinander. Denn Alkohol blockiert die Bindungsstellen für den erregenden Botenstoff Glutamat. Gleichzeitig aktiviert er die Rezeptoren für den hemmenden Botenstoff Gaba. Weil Alkohol länger angedockt bleibt als der natürliche Botenstoff, wirkt diese verstärkte Hemmung im Gehirn sich auch auf die geistige Leistungsfähigkeit aus. Außerdem können so schädliche Substanzen, wie Kalium- und Chloridionen, länger in die Nervenzellen eindringen und sie zerstören. Besonders dramatisch ist der Zellverlust beim ungeborenen Kind, wenn die Mutter trinkt. In einzelnen Hirnregionen können bis zu 30 Prozent der Nervenzellen des Kindes zugrunde gehen.

    Jedes Jahr kommen in Deutschland etwa 10.000 Kinder zur Welt, die durch den Alkoholkonsum ihrer Mutter krank geworden sind. Und nicht alle diese Mütter sind Alkoholikerinnen. Schon ein Glas Bier oder Wein pro Woche kann die Entwicklung des Kindes im Mutterleib nachhaltig beeinträchtigen und zu Verhaltens- und Lernstörungen führen. Das belegt eine britische Studie aus dem Jahr 2007. Trinkt die Mutter täglich ein bis zwei Gläser Wein, kann es zum Fetalen Alkoholsyndrom kommen. Die Symptome dieser Fehlbildung sind vielfältig: geistige Behinderung, Schwerhörigkeit bis zu Taubheit, Wirbelsäulen-Deformationen, Minderwuchs und Epilepsie. Etwa eins von 300 Kindern wird in Deutschland mit einem voll ausgeprägten Fetalen Alkoholsyndrom geboren. Alkoholkonsum der Mutter ist die häufigste Ursache für Fehlbildungen überhaupt. Trotzdem lebt in Deutschland nur eine von fünf Schwangeren vollkommen abstinent.

    Wenn Alkohol zur Sucht wird, dann geschieht dies durch die Ausschüttung von Endorphinen im Belohnungszentrum des Gehirns. So "lernt" der Betroffene, dass Alkohol etwas Schönes ist. Es bildet sich ein Suchtgedächtnis, das auch bei trockenen Alkoholikern bestehen bleibt und sie schon nach einem winzigen Schluck Bier zuverlässig wieder in die Abhängigkeit treibt. Immer wieder haben Wissenschaftler und Ärzte Medikamente getestet, die das Suchtgedächtnis löschen sollen. Hannelore Ehrenreich:

    "Also dieses Suchtgedächtnis, das sozusagen die Irreversibilität der Krankheit bedingt, diese Strukturen diese Veränderungen sind im Moment mit keinem Medikament zu beeinflussen."

    Aber nicht nur im Gedächtnis- und Belohnungszentrum des Gehirns führt der Alkoholkonsum zu bleibenden Schäden. Auch jene Hirnareale, die das Hormonsystem regulieren, sind betroffen. Wie sich das auf die Stresshormone auswirkt, hat Hannelore Ehrenreich bei abstinenten Alkoholikern untersucht. Noch drei Monate nach dem letzten Schluck Bier, Schnaps oder Wein waren die Hormonwerte verändert.

    "Der Hormonpegel dieser Patienten ist so hoch als Dauerzustand, wie er bei Gesunden ist, wenn man beispielsweise eine Führerscheinprüfung macht. Also extrem erhöht, ständig, von morgens bis abends und sogar im Liegen, also unter Ruhebedingungen."

    Inzwischen ist klar, dass es bei abstinenten Alkoholikern mindestens ein Jahr dauert, bis die Stresshormonwerte wieder in einen normalen Bereich kommen. Solange leben Alkoholiker - jeden Tag, 24 Stunden lang - unter extremer Anspannung. Ehrenreich:

    "Wenn jemand aber ständig diesen erhöhten Pegel hat, dann ist er auch nicht mehr in der Lage, auf echte Stresssituationen zu reagieren. Sondern diese echten Stresssituationen führen ganz klar zu einer extremen Überforderung. Und diese wiederum beim Alkoholkranken legt den Griff zur Flasche nahe. Denn der Alkohol bringt ja vermeintlich Ruhe und in einer solchen Situation ist der Patient einfach auf der Suche nach Ruhe, weil er mit der Situation anders nicht klarkommt."

    "Sie war immer unglaublich nervös. Ich glaube je weniger Alkohol sie trank, desto nervöser wurde sie und je mehr sie trank desto mehr hatte sie ihre ganzen Panik und Angstattacken im Griff."

    Die Mutter von Martina Sörensen hat ihre eigene Sucht vermutlich ihr Leben lang verdrängt. Gerd Maiwald konnte das irgendwann nicht mehr.

    "Das hat lange gedauert. Dass ich mal akzeptiert habe, dass mit mir irgendwas nicht stimmt, dass ich schon morgens um sechs den Alkohol brauche. Und eines Morgens habe ich dann mit der Faust auf den Tisch gehauen. So geht das nicht weiter und dann bin ich zu meinem Hausarzt gegangen und der hat mich dann in die Klinik eingeliefert und da habe ich meine erste Entgiftung gemacht."

    Zu diesem Zeitpunkt war Gerd Maiwald schon fast 20 Jahre lang schwerstabhängig. Ein aussichtsloser Fall für die meisten Suchttherapeuten.

    "Es hat ein halbes, Dreivierteljahr hat es ja geklappt, wenn man dann irgendwann ein Problem hatte und wenn man das erste Bier getrunken hatte, war man wieder voll drauf."

    Als Hannelore Ehrenreich 1992 mit ihren Untersuchungen zu den Stresshormonlevel von abstinenten Alkoholikern begann, stieß sie auf ein unerwartetes Problem. Sie suchte Schwerstabhängige, die zehn Jahre und länger stark getrunken hatten und nun von einem auf den anderen Tag damit aufgehört hatten. Patienten wie Gerd Maiwald. Monatelang mussten die Patienten abstinent bleiben und das schafft kaum ein Alkoholkranker.

    Die Therapie von Alkoholkranken ist nicht sehr erfolgreich. Bestenfalls schaffen es 20 Prozent der Therapieteilnehmer, dauerhaft abstinent zu bleiben. Bei Schwerstabhängigen, die zehn Jahre und länger extreme Mengen Alkohol konsumiert haben, liegt die Quote noch niedriger. In der geschützten Umgebung der Suchtklinik schaffen es die Patienten meistens zumindest einige Monate trocken zu bleiben. Außerhalb der Klinik, wo die Droge Alkohol überall für wenig Geld zu haben ist, sind Rückfälle vorprogrammiert.

    Hannelore Ehrenreich wollte ihre Hormonstudie deshalb nicht aufgeben. Stattdessen versuchte sie ein besseres Therapieprogramm für Alkoholiker zu entwickeln. Gerd Maiwald wurde ihr erster Patient. Insgesamt nahmen elf Patienten an dem Programm teil. Alle waren seit über 20 Jahren schwer abhängig. Die Therapie am Göttinger Max-Planck Institut für experimentelle Medizin funktionierte nach ganz anderen Regeln als herkömmliche Suchttherapien. Die Patienten lebten nach der Entgiftung zuhause. Täglich mussten sie ihre Betreuer treffen. Und täglich durch Urintests nachweisen, dass sie wirklich keinen Alkohol mehr konsumierten. Nach drei Monaten waren alle elf Studienteilnehmer immer noch trocken. Hannelore Ehrenreich setzte mit ihrer ambulanten Langzeit-Intensivtherapie für Alkoholkranke, kurz Alita, auf zwei wichtige Säulen: Kontrolle und sehr viel wohlwollende Zuwendung. Hannelore Ehrenreich:

    "Ich meine nach wie vor, das allerwichtigste an Alita sind die häufigen Kontakte, die relativ kurz sind, anfangs nur 15 Minuten, aber die den schwer psychisch kranken Menschen, in dem Fall den Alkoholkranken, eine ganz erhebliche Stütze geben. Diese täglichen 15minütigen Kontakte einschließlich Wochenenden und Feiertage, stellen eine feste Stütze im Leben dieser Patienten dar, einen festen Angelpunkt, von dem sie sich von Tag zu Tag weiterhangeln, um letztlich dann wieder zu lernen ganz auf eigenen Füßen zu stehen."

    Wenn die Patienten eine Krise hatten, konnten sie über eine 24-Stunden Hotline immer jemanden von Alita erreichen. Die Therapeuten fuhren dann umgehend zu den Patienten. Beim Osterfeuer, auf Schützenfesten und Familienfeiern kamen sie manches Mal gerade rechtzeitig, um dem Alkoholkranken das Glas Bier, Wein oder Sekt aus der Hand zu reißen. Wenn die Patienten zu vereinbarten Gesprächsterminen nicht erschienen, dann telefonierten die Alita-Mitarbeiter ihnen hinterher und suchten sie zuhause auf. Gerd Maiwald:

    "”Man konnte Tag und Nacht anrufen, es war immer jemand da, das macht schon viel aus. Und das macht schon eine ganze Menge aus.""

    "Wenn man sich überlegt, dass alkoholabhängige Menschen schwer krank sind und dass der Suchtdruck, also diese Gier zu trinken, ja etwas pathologisches etwas krankhaftes ist, das unheimliche Stärke annimmt. Dann denke ich, dass es auch gerechtfertigt ist, dass man in der Zeit wo dieser Suchtdruck extrem stark ist, den Patienten hilft."

    Immer mehr Patienten nahmen an dem Alita-Programm in Göttingen teil. Ehrenreich:

    "Um zu zeigen, dass es tatsächlich erfolgreich ist, auch an einer größeren Zahl von Patienten, haben wir über einen Zeitraum von fast 14 Jahren das Projekt weitergeführt. Wir haben also 180 Patienten eingeschlossen, die alle dieses zweijährige Programm durchlaufen haben und wir konnten zeigen, dass in der Tat die Langzeitergebnisse dieser Patienten, das heißt die Abstinenz bis zu sieben Jahre nach Abschluss der Therapie, über 50 Prozent beträgt und das ist ein Patientenklientel, das wirklich schwer betroffen ist. Und da sind diese Zahlen einzigartig."

    Tatsächlich gibt es weltweit kein anderes Programm für Alkoholsüchtige, dass derart hohe Abstinenzquoten vorzuweisen hat. Viele ihrer ehemaligen Patienten stehen heute wieder voll im Berufsleben.

    "Jetzt habe ich meine Arbeit, ich habe eine hübsche, süße Frau. Mein Umfeld ist in Ordnung. Ich bin sehr zufrieden, wie mein leben jetzt läuft. Dank Alita, die haben einen großen Anteil daran."

    Trotz dieser Erfolge will zurzeit niemand das Alita-Programm weiter finanzieren. Über die Gründe kann Hannelore Ehrenreich nur spekulieren:

    "Bei den Kassen gilt das Wort: ‚Ein toter Alkoholiker ist billiger als ein Lebender.’ Das hört sich brutal an, aber es ist schlicht die Wahrheit, jemand, der stirbt, kostet kein Geld mehr, jemand, der lebt, kostet Geld. Und bei den Rentenversicherern ist die Situation so, dass viele der Suchtkliniken, die draußen auf der grünen Wiese vorhanden sind, durch die Rentenversicherer getragen werden und das von Rentenversichererseite, die Finanzierung ihrer eigenen Kliniken, um die am Leben zu halten über einen längeren Zeitraum noch sehr stark im Fordergrund stehen. Das heißt, wie können Sie ein System auch mit einem innovativen Ansatz durchbrechen, etwas Neues, etwas besseres einbringen, wenn sich das alte System praktisch selbst erhält?"

    "Ich weiß ganz genau, wenn ich weitergetrunken hätte, dann wäre ich heute gar nicht mehr hier, dann wäre ich heute auch schon unter der Erde. Ich kenne so viele Kollegen, die gestorben sind, was auch weh tut, dass sie es nicht geschafft haben. Und ich freue mich für jeden der es schaffen sollte von diesem Scheißzeug loszukommen."

    Gerde Maiwald ist nun seit 14 Jahren trocken.

    Heiligabend 2005 erhält Martina Sörensen eine beunruhigende Nachricht von ihrem inzwischen schwer dementen Vater. Sie fährt sofort nach Hause. In der Wohnung ihrer Eltern findet sie ihre tote Mutter und die unübersehbaren Spuren ihres Sterbens.

    "”Die Adern rund um die Speiseröhre, die werden dann zu Krampfadern, weil die Leber nicht mehr so richtig funktioniert. Und Krampfadern können ja auch platzen und das ist ihr dann im Endeffekt passiert. Ihr ist eine Krampfader geplatzt, das ganze Blut hat sich Richtung Magen entleert. Eigentlich im Endeffekt ist sie verblutet. Das hat eine Weile wohl gedauert. Das hat sie auch mitbekommen. Sie hat sich übergeben. Wir haben auch Blut in der Wohnung gefunden. Aber das hat nicht dazu geführt, dass sie einen Arzt gerufen hat. Sie ist im Endeffekt wohl verblutet.""

    "Meine Mutter hat wie immer alles schön vertuscht, so glaube ich, im Endeffekt auch ihr Sterben vertuscht. So ist es naheliegend, wenn ich rekonstruiere, was ich in der Wohnung vorgefunden habe."

    "Beim Alkoholismus finde ich einfach das größte Problem, das keiner darüber redet. Und das alle immer probieren das unter den Tisch zu kehren."