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Ein Puzzle aus bestechenden Porträts

Ein Mord in der verschworene Gemeinschaft der Reichen und Mächtigen in Italien ist der Stoff, aus dem Carlotto und Videtta ein packender Sozio-Krimi gelingt. Dass dabei der Titel ein wenig in die Irre führt, ist zu verkraften.

Von Sacha Verna | 08.12.2009
    Man soll Romane ja nicht nach ihrem Titel beurteilen. Aber: "Die dunkle Unermesslichkeit des Todes”? So hieß Massimo Carlottos letztes auf Deutsch erschienenes Werk. Das neue, das der italienische Autor mit Marco Videtta verfasst hat, lockt mit "Wo die Zitronen blühen”. Also bitte. Entgeht dem willigen Leser da eine besondere Art der Ironie? Denn willig ist man durchaus. Der 53-jährige Massimo Carlotto zählt nicht umsonst zu den renommiertesten Schriftstellern seines Landes, deren Spezialgebiet die unheimlichen Abgründe der menschlichen Seele bilden. Pardon, Floskeln scheinen ansteckend zu sein.

    Deshalb lieber zur Sache und damit zum Mord. Francesco Visentin ist Abkömmling einer einflussreichen Anwaltsfamilie. Er lebt in einer der von Industriellenclans beherrschten Kleinstädte im wohlhabenden Nordosten Italiens und hat eine rosige Zukunft als Erbe der gut gehenden Kanzlei seines Vaters vor sich, als seine Verlobte tot aufgefunden wird. Wie sich herausstellt, wurde Giovanna umgebracht, aber nicht daheim in ihrer Badewanne, wo man ihre Leiche entdeckt, sondern anderswo. Wo genau, bleibt allerdings ein Rätsel, von dessen Lösung sich Francesco die Überführung des Täters verspricht. Nur dass im Lauf seiner verzweifelten Ermittlungen auch Giovanna für ihn zum Rätsel wird. Die Frau, die Francesco zu kennen und zu lieben glaubte, verwandelt sich nach und nach genauso in ein unbekanntes Wesen wie sein verehrter Vater und wie so viele andere Menschen, mit denen er seit seiner Kindheit verkehrt. Schlimmer noch: Francesco droht sich selber fremd zu werden, wenn er die Augen vor dem verschließt, was sich ihm eröffnet. Nämlich vor den schmutzigen Geschäften sauberer Hände und schierer Skrupellosigkeit, die so verführerisch verpackt sind von der moralischen Arroganz einer Gesellschaft, deren Strukturen man längst im Reich der Mythen vermutet hat.

    Massimo Carlotto und Carlo Videtta lassen diese Geschichte hauptsächlich von Francesco erzählen, unterbrechen ihn aber gelegentlich mit auktorialen Passagen. Dieser Wechsel von Innen- und Außenansichten verleiht dem Text eine Spannung, die nur in jenen Momenten einbricht, in denen die Autoren das Timing vermasseln. Ein mysteriöser Radfahrer, der allzu lange mysteriös durch die Gegend pedalt, verdient irgendwann einfach einen platten Reifen. Anonyme "ers" und "sies", die bedeutungsschwanger vor sich hinsinnieren oder bei verdächtigen Handlungen beobachtet werden, sind für eine gewisse Weile interessant und dann nur noch irritierend. Insgesamt gelingt es Carlotto und Videtta jedoch sehr gut, die klaustrophobische Stimmung einzufangen, die verschworenen Gemeinschaften eigen ist. Und um eine verschworene Gemeinschaft handelt es sich bei den Reichen und Mächtigen in dem von ihnen beschriebenen Teil Italiens zweifellos. "Wo die Zitronen blühen” ist ein Muster des packenden Sozio-Krimis - ein Puzzle aus bestechenden Porträts, die zu einem beängstigenden Panorama zusammenwachsen. Bloß der Titel. Der klingt am Schluss noch genauso dämlich wie am Anfang.


    Massimo Carlotto/Carlo Videtta: Wo die Zitronen blühen. Aus dem Italienischen von Judith Elze. Tropen Verlag, Stuttgart 2009. 215 Seiten. 18,90 Euro.