Freitag, 29. März 2024

Archiv


Ein religiöses Gleichnis

Ein Kunstsammler bestellt bei einem erfolgreichen Maler ein Porträt nach dem Foto eines zwölfjährigen, schwarzen Jungen, den er als seinen Sohn bezeichnet und der vor einigen Jahren gestorben sei. Der Roman "Specht und Sohn" des niederländischen Katholiken Willem Jan Otten handelt von Kunst und von Religion.

Von Volkmar Mühleis | 04.04.2007
    Willem Jan Ottens Roman Specht und Sohn handelt von einer Menschwerdung. Nach biblischem Vorbild gibt es hierzu die unterschiedlichsten Interpretationen, man denke nur an das Lebendigwerden von geschaffenen Gestalten wie dem Golem oder Pinocchio, oder an die Engel in dem Film Der Himmel über Berlin, von denen einer den Drang verspürt, Mensch zu werden. Otten wählt für seinen Roman die Erzählperspektive einer großformatigen Leinwand, wie man sie für Gemälde verwendet. Sie ist zunächst unbemalt, und ein Porträtkünstler erwirbt sie, um seinen bislang schwierigsten Auftrag zu meistern. Die Menschwerdung ist in diesem Fall symbolisch gemeint: Das Bild eines Verstorbenen soll auf der leeren Leinwand lebendig werden. Der Autor über den Ausgangspunkt seines Romans:

    " Da ich gern über die Nuancen zwischen Sehen, Betrachten und voyeuristischem Beobachten schreibe, gab jemand mir eine Tagebuchnotiz von Henry James, in der stand: "Junger Maler bekommt von Eheleuten, die ihr Neugeborenes verloren haben und kein Foto von ihm besitzen, den Auftrag es zu porträtieren. Das Alter des Kindes dürfe er selbst bestimmen." James hat diese Idee nie weiterverfolgt. Als ich vor zehn Jahren die Notiz erhielt, reizte es mich, mir dazu eine Geschichte auszudenken. Anstatt des Ehepaares erschien mir ein alleinstehender Mann interessanter, der homosexuell wäre, so dass man nicht wissen könnte, wie er zu dem Kind stünde: War es sein eigenes oder hatte er es angenommen? Ich stellte mir auch vor, dass das fertige Gemälde derart beeindruckend sein sollte, dass bei seinem Anblick die Frau des Malers den Wunsch nach einem Kind verspüren würde. Und es schien mir reizvoll, wenn das Kind am Ende des Buches nicht tot wäre, sondern lebendig. So wurde aus der Notiz für mich eine spannende Geschichte. "

    Ein faustischer Pakt steht am Beginn der Handlung: Der renommierte Kunstsammler Valéry Specht bestellt bei dem ebenso erfolgreichen wie modiösen Maler Felix Vincent ein Porträt nach dem Foto eines zwölfjährigen, schwarzen Jungen, den er als seinen Sohn bezeichnet und der vor einigen Jahren gestorben sei. Dem Habitus traditioneller Künstler verpflichtet, bestand Vincent stets darauf, nach lebendem Vorbild zu malen. Doch nun ginge es darum, einen Toten wenigstens dem Anschein nach wieder zum Leben zu erwecken. Der Sammler bietet genug Geld, um ihn zu überzeugen, doch wird er das Bild zum Übergabetermin - Ostersamstag - aus unerfindlichen Gründen nicht abholen und auch danach unerreichbar sein. Eine Affärenpartnerin des Malers, ihrerseits Journalistin zwischen Kunst und Boulevard, weiß ihm von den angeblich pädophilen Neigungen des Sammlers zu berichten und seine Unsicherheit nur noch zu vergrößern. Der goldene Auftrag erscheint plötzlich als vergiftetes Geschenk: Hat Vincent nicht den Beweis seiner Mitwisserschaft gemalt? Im zeitgenössischen Gewand präsentiert der Romancier die alte Analogie von Schöpfergott und Künstler, weshalb er den Künstler denn auch gleich Schöpfer nennt, um der Engführung nicht selten auch Ironie abzugewinnen. So etwa in der folgenden Szene zu Anfang des Buches, als die Leinwand befürchtet, für nur ein banales Bild herhalten zu müssen:

    Ein paar Tage darauf kam ich gerade noch mit Müh und Not davon, fragen Sie mich nicht, wie. Schöpfer wurde gefragt, ob er Cindy malen würde. Ja, genau, die von Fok Duivenmelk, von Procter Poldermol, mit dem sie in Kürze ein Jahr lang verheiratet sein würde. Duivenmelk war auch in diesem Jahr wieder unter den Topten der vermögendsten Niederländer. Cindy war die erste geliftete Person, die Schöpfer porträtieren sollte. Während des ersten Gesprächs, in dem der Auftrag formuliert werden sollte, versuchte er, sich ihr wie jedem anderen Modell zu nähern - aber er gewann, sagte er hinterher zu Lidewij, das Gefühl, wenn er Cindy annähme, würde er nicht nach dem Leben arbeiten. Es war, sagte er, als sei Cindy mit ihrem korrigierten Mund, ihren gestrafften Nasenflügeln, ihren nach hinten gezogenen Wangen und ihren ausgedellten Stirnrunzeln bereits porträtiert worden. Das ging ihm sehr gegen den Strich, denn eigentlich hatte er bereits ja zu dem Auftrag gesagt, zumindest auf eine Weise nicht nein gesagt, dass es peinlich wäre, ihn jetzt noch abzulehnen. Und schädlich, sagte er, in diesem Stadium.

    Mit der Analogie von Gott und Künstler versucht der Autor neu über sie nachzudenken, und gerät dabei stellenweise gefährlich nahe an Muster heran, die in Kunstvorstellungen wie auch Künstlertypen des 19. Jahrhunderts gipfelten und nicht wirklich reanimierbar erscheinen. Lässt sich ein Atelier-Drama wie in Das Chagrin-Leder von Balzac heutzutage religiös aufladen? Und kann ein Gemälde ernsthaft den Wunsch auslösen, ein Kind bekommen zu wollen? Nicht zuletzt als avancierter Film- und Theaterkritiker ist Willem Jan Otten sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst, und deutet sie dementsprechend an mit dem Satz: Alles, was wert hat, balanciert am Rande des Kitschs. Indem er gleichzeitig reflektiert, was er erzählerisch wagt, entgeht er dem Vorwurf der Naivität und bemüht sich dennoch um eindringliche Schilderungen. Dabei sieht er - auch vor dem Hintergrund seines katholischen Glaubens - zwischen dem Rührenden und Avantgardistischen keinen Widerspruch, wie er während eines Aufenthalts in Berlin berichtet. Das Gemälde, das ihn dort am meisten interessiert habe, hätte jedenfalls nicht aus der Hand von seinem Protagonisten Felix Vincent stammen können:

    " Ein Bild, das ich hier unbedingt sehen wollte, war Who's afraid of yellow and red? von Barnett Newman, in der Neuen Nationalgalerie. Es ist sieben Meter breit und zwei Meter hoch und zeigt nur drei Farbflächen - links rot, in der Mitte ein dunkler Balken und rechts gelb. Leider hängt es nicht gut, ohne Tageslicht. Ich war sehr neugierig darauf, weil sein Geschwisterbild sich in Amsterdam im Stedelijk Museum befand, bevor es von einem Besucher zerstört worden war - was natürlich verrückt ist, aber irgendwo auch vorstellbar, wenn man die enorme Anziehungskraft dieser großen Farbflächen kennt. Specht und Sohn handelt ja von einer Leinwand, die lange Zeit leer bleibt, und vielleicht suchte ich einmal wieder die Erfahrung, vor einer massiven Leinwand zu stehen. "

    Was einem in der deutschen Übersetzung naturgemäß entgehen muss, sind die im Niederländischen ungebräuchlichen deutschen Worte, die Willem Jan Otten zum Teil in seinen Text hat einfließen lassen, einen Ausdruck wie keine Ahnung etwa oder das Wörtchen öde, als Adjektiv einer Vorstellung im Geiste. Die Bezeichnung einer öden Vorstellung ist auch im Deutschen ungewohnt, weshalb die Übersetzerin Helga van Beuningen sich an dieser Stelle für den Begriff ödes Bild entschied. Warum seine Vorliebe für die deutschen Einsprengsel?

    " Das Wort öde hat meine Großmutter oft verwandt. Sie hatte einige Jahre in Deutschland gelebt und so manchen Ausdruck von dort mitgebracht, zum Beispiel: Was für Zustände in Marokko! Der Spruch hing wohl mit den deutschen Kriegsschiffen vor Marokko zusammen, um 1908, glaube ich. Wenn es bei uns drunter und drüber ging, dann meinte sie immer: Was für Zustände in Marokko! Und so lernte ich auch das Wort öde kennen, indem sie etwa sagte: Was haben die bloß für einen öden Garten! Als Inderin zog sie das Adjektiv immer nasal in die Länge. "

    " An einer Stelle im Roman wollte ich das Gefühl von Leere betonen, und so kam mir das Wort öde in den Sinn. Der holländische Lektor fand es zunächst unpassend, weil es im Niederländischen nicht vorkommt, aber da ich es aus meiner Familie kannte, habe ich es stehen gelassen. Zumal als Begriff das Öde in der Mystik von Meister Eckhart eine große Rolle spielt, als ein Paradox: erst durch die Ödnis erfährt man den Reichtum der Fülle. "

    Mit Specht und Sohn präsentiert Willem Jan Otten ein religiöses Gleichnis aus der Sicht eines Dings - ein Kunstgriff, den er konsequent entwickelt hat, so dass die komplexen, biblischen Verweise in der Unkenntnis und Unbedarftheit der bloßen Leinwand an Schwere verlieren und die Handlung dadurch flüssig und zugänglich bleibt. Es ist dieser märchenhafte Zug des Romans, der ihn auch über die religiöse Verwobenheit hinaus wirken lässt, so dass am Ende der Lektüre man vielleicht erstaunt sein mag, dass der Balanceakt in der Schöpfungsrhetorik tatsächlich gelingt. Otten, der erst vor wenigen Jahren zum Katholizismus konvertiert ist, widmet sich dessen Symbolik auf klarste niederländische Erzählweise - und es ist nicht zuletzt diese ungewohnte Mischung, die das Buch erfrischend und besonders macht.

    Willem Jan Otten: Specht und Sohn
    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
    176 Seiten, 18,90 Euro