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Ein Sammler des Schweigens

Die Sorge vor einem kommenden Zeitalter ohne Wort hat den Literaturwissenschaftler George Steiner stets umgetrieben. In einer solchen Welt komme das Äußerste an Schönheit oder Schrecken in den Reißwolf, wenn der Tag sich neige. Gegen diese Nivellierungstendenzen hat Steiner angeschrieben. Heute wird der intellektuelle Kosmopolit 80 Jahre alt.

Von Christian Linder | 23.04.2009
    Wenn George Steiner auch nicht alle Achttausender-Gipfel der Weltliteratur persönlich bestiegen hat, so kennt er doch alle Wege dorthin. »Die beste Deutung von Kunst findet sich in der Kunst«, meint er, und kann für diese These viele Belege anfügen: Vergil lese Homer, wie es kein Kritiker von außen könne. Der beste Kritiker von Velasquez sei Picasso. Ein hoher Ton, der George Steiners Plädoyers in Büchern wie »Von realer Gegenwart«, »Der Garten des Archimedes«, »Grammatik der Schöpfung« oder »Warum Denken traurig macht« durchzieht. Steiner, geboren am 23. April 1929 in Paris als Sohn des Österreichers Frederick Georg Steiner und seiner Frau Else und 1940 als Jude mit seiner Familie nach Amerika emigriert, vertritt zurzeit den höchsten Standard, den eine Komparatistik als vergleichende Literaturwissenschaft weltweit anzubieten hat. Professuren in Princeton, Oxford, Genf und Harvard waren einige seiner Lehrstationen. Steiner hat dabei nicht nur in seiner Autobiographie »Errata«, sondern auch in seinen Kunstinterpretationen immer von sich selber gesprochen:

    "Ich hasse jeden Nationalismus, für eine Fahne sterben, für einen Pass foltern, für ein Visum sich zu erhängen – das ist so ein grässlicher Blödsinn auf dieser ganz kleinen Erde. Menschen müssen lernen, unter Menschen zu leben und sich gegenseitig zu bewirten. Im Altgriechischen – die schönste aller Sprachen vielleicht – gibt es dasselbe Wort für einen Fremdling und für einen Gast. Und auf meinem Grab hätte ich das sehr gern: Er war ein Fremdling und er war ein Gast. Das müssen wir lernen.«"

    Wie ein Künstler imaginär handelt, stand stets im Vordergrund der Steinerschen Forschungen. Dabei sei der Mensch anfangs ausgegangen von einem Kontrakt zwischen Wort und Welt, der besagte, dass ein Wort immer auch die Welt enthalte. Dieser Vertrag sei dann in fundamentalem und folgenreichem Sinne während der Jahrzehnte zwischen 1870 und 1940 in Kultur und spekulativem Bewusstsein Mitteleuropas und Russlands gebrochen worden. Es sei dieser Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt, durch den sich die Moderne definiere. Eines seiner Beispiele ist Rimbauds Satz »Ich ist ein anderer".

    ""Das Ich ist nicht mehr es selbst, es lässt sich nicht mehr als Ganzheit fassen. Rimbauds Sprengung eines psychischen Zusammenhalts in aufgeladene Bruchstücke zentrifugaler und flüchtiger Energie korrespondiert nicht nur mit der modernen Entwicklung der Elementarphysik, sondern stringenter noch mit den Spekulationen über Antimaterie."

    Diese Sprengung und Auflösung zeigte sich natürlich auch in anderen Phänomenen. Wie konnte die Shoa inmitten einer modernen Aufklärung sich ereignen?

    "Von Anfang an frage ich mich Tag und Nacht, das ist keine Übertreibung: Wie lebt ein Mensch, der abends bei sich Schubert spielt oder singt oder Goethe liest und am Morgen foltert."

    George Steiners Metaphysik der Kunst läuft, trotz oder gerade wegen solcher ruinöser geschichtlicher Ereignisse, darauf hinaus, zu zeigen, dass Literatur, Musik und Bildende Kunst wirksam sind vor allem innerhalb der Erfahrung unserer Begegnung mit »dem anderen«:

    "Stärker als jeder andere Akt der Zeugenschaft sprechen Literatur und Kunst von den Widersetzlichkeiten des Undurchdringlichen, des Fremden, auf das wir im Labyrinth der Intimität stoßen. Sie sprechen vom Minotaurus im Herzen der Liebe, von Verwandtschaft, von höchstem Zutrauen."

    Ein wunderbar altmodisches Konzept. Es setzt voraus Vertrauen ins Fremde, es ist ein Lob der Nachbarschaft, es meint den Versuch, das Eigene im Fremden zu erkennen - und umgekehrt. Große Dichtung, sagt Steiner, ist belebt von den Ritualen des Wiedererkennens, und Heimat kann er sich insofern nur vorstellen als kritische Masse von Erinnerungen – und als Ort des Schweigens:

    "Ich bin ein Sammler von Schweigen. Der Lärm der Städte – man kann kaum mehr in Ruhe denken oder lesen oder lieben. Schweigen wird zum größten Luxus – man muss sehr reich sein, um eine Wohnung zu haben, wo es Stillschweigen gibt. Und es gibt noch einige verborgene Ecken in unserem alten, blutigen Europa – und dort fühle ich mich daheim."