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Ein Schritt vor und viele zur Seite

Muss ein Buch immer von vorne nach hinten gelesen werden? Kann man einen Roman überhaupt ohne Vor- und Zurückblättern lesen? Das Nichtlineare in der Literatur und anderen Medien interessiert den Autor und Literaturdozenten Tobias Hülswitt, der gemeinsam mit dem Medienkünstler Florian Thalhofer das "Korsakow-Institut für Nonlineare Erzählkultur" gründete. "Dinge bei Licht" ist sein neuer Roman.

Von Cornelia Staudacher | 29.04.2009
    Das Korsakow-Institut versteht sich als eine Art Labor, in dem in der Synthese aus Literatur, Film, Workshop und offener Diskussion neue Diskursformen erprobt werden - ein Unternehmen, das Tobias Hülswitt auf den Leib geschneidert zu sein scheint, der sich theoretisch und schreibend seit einiger Zeit mit kommunikations- und medientheoretischen Fragen auseinandersetzt und Lehrveranstaltungen zu Themen wie "Anti-aristotelische Narration" und "Interaktive Narration" an der Kunstakademie München und der UdK in Berlin abhält. In Berlin wunderte er sich über die Arglosigkeit, die Unreflektiertheit mancher Studenten gegenüber der Wirkung des Fernsehens:

    "Das war eine relativ seltsame Erfahrung an der UdK in Berlin, wo doch viele Leute ausgebildet werden, die dann später in den Medien arbeiten, die also überhaupt keine Vorstellung davon hatten, was beim Fernsehschauen passiert oder dass sie davon betroffen sind, selbst wenn sie nur eine halbe Stunde beim Mittagessen fernsehen. Und dann glauben sie aber, das berührt mich gar nicht, ich habe damit gar nix zu tun. Es war sehr seltsam, diesen Leuten, die dann da arbeiten werden, erklären zu müssen, dass Medien wie das Fernsehen unsere Welt in so massiver Weise prägen, unser Denken, Leben und unsere Vorstellung von allem. Das, finde ich, sollte man wissen, wenn man erzählt, in irgend welchen Formen, in jeglicher Form."

    Um die Verführbarkeit der Menschen durch die Medien ging es in dem 2004 erschienenen Roman "Ich kann dir eine Wunde schminken", Auf Sinnsuche begab sich Hülswitt in "Der kleine Herr Mister". In der Erzählung "Dinge bei Licht" setzt er sich mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion und den Intentionen literarischen Erzählens auseinander und begibt sich auf die Suche nach zeitgemäßen Erzählformen, die das Lebensgefühl unserer Zeit widerspiegeln.

    "Wenn wir jetzt ins Kino gehen, auch der letzte Woody Allen, den ich sehr mochte - man kennt doch mittlerweile alle erzählerischen Tricks und Kniffs, und man guckt die mit, also man ist sowieso nicht mehr hundertprozentig in der Illusion drinne, man kann das mal machen, das ist wie ein leckeres Brot, das man mal isst. Ich finde, diese Erzählformen sollten bleiben, weil das eine Kunstform ist, und es ist auch schwierig, darin Meisterschaft zu erlangen, aber es müsste mehr andere Sachen geben, damit eben klar wird, dass dieses Lineare nur eine mögliche Form ist, diese Welt darzustellen, darstellen tun wir sie ja sowieso nicht, aber zu erzählen. Wenn ich Sachen lese wie 'Die Welt hinter Dukla' von Stasiuk oder 'Ring aus Papier' von Zygmund Haupt, da atme ich auf, das liebe ich einfach. Ich merke, wie Lasten von einem abfallen, wie man anfängt, das Leben wieder wert zu schätzen, und nicht so gehetzt durch alles durchrennt. Durch eine lineare Geschichte wird man ja nur durchgezerrt und gezogen, in Windeseile und dann ist es vorbei. Und hier, da kommt sofort, du schlägst das Buch auf und du hast das Gefühl, ich erzähle dir jetzt mal ein paar Sachen, du bestimmst, wie wichtig es ist, guck es dir mal an, und dann passiert was, finde ich."

    Folgerichtig verzichtet Tobias Hülswitt in "Dinge bei Licht" weitgehend auf jene Kriterien, denen der Ruch traditionellen, auktorialen Erzählens anhaftet: auf reine Wirklichkeitsabbildung, Psychologie und Bedeutsamkeit, auf die Einheit von Raum und Zeit - das aristotelische Prinzip -, auf einen im Zentrum stehenden Helden, dessen Schicksal stringent verfolgt wird, und eine lineare, kausal grundierte Erzähldramaturgie.

    Es gibt zwar einen aus der Ich-Perspektive erzählenden Protagonisten, Alexander, und dessen langjährige Freundin Martha. Wie in einem Prolog erleben wir die beiden zu Beginn der Erzählung in verschiedenen Situationen in Lissabon, auf der Placa de Comerció, wo sie einem Elefantenmenschen begegnen, in einer kleinen Bar, die zu dem Bordell gehört, in dem sie ein Zimmer gemietet haben, und bei einem Gambaessen, drei Szenen, scheinbar zufällig aneinandergereiht, wie einen eben Erinnerungen unvermittelt überfallen, die dazu dienen, das Verhältnis zwischen Alexander und Martha wie in einem nur wenige Sekunden langen Aufleuchten eines Flashlight zu zeigen.

    Die beiden Kapitel der Erzählung tragen die Titel des Ortes, an dem sie angesiedelt sind. "Die Villa" ist ein Haus in einem polnischen Dorf, wo sich ein Freundeskreis zu einem Workshop zusammenfindet. Marthas Reitunfall wird nur beiläufig erwähnt und erscheint eher als eine Lappalie. Nach ihrer Abfahrt zurück nach Deutschland folgt Alexander den Freunden in "Das Dorf" - so der Titel des zweiten Teils - in die Karpaten, um dort noch ein paar Tage zu entspannen. Hier wie dort nehmen die Gespräche unter den Freunden, in denen es um Formen und Wirkungen des Schreibens, um religiöse, philosophische und metaphysische Fragen geht, großen Raum ein.

    Dass Alexander zwischendurch vergeblich versucht, Martha mit seinem Handy zu erreichen, und von Tag zu Tag unruhiger wird, ist zunächst nur eine von vielen Information, der keine herausragende Bedeutung beigemessen wird. Sie hat den gleichen Stellenwert wie beispielsweise Alexanders Begegnung mit einem Dichter namens Marcin Mazur - eine Huldigung an den von ihm hochgeschätzten polnischen Dichter Andrzej Stasiuk, die Begegnung mit dem sudanesischen Hautarzt, der ihm zwar keine Diagnose seines undefinierbaren Ausschlages stellt, ihm aber "Die fünf Sprachen der Liebe" erklärt, oder die Einführung in die Vielweltentheorie, die ihm Christian, als Physiker ein Anhänger der Quantentheorie, darlegt:

    "Die Vielweltentheorie ist für das Buch nur insofern wichtig, als sie vom Erzähler als Begründung dafür herangezogen wird, warum er sich nicht entscheiden kann. Denn die Vielweltentheorie besagt, dass im Grunde immer alle möglichen Welten parallel existieren und ablaufen, dass wir aber aus irgendeinem Grund nur die eine davon wahrnehmen. Aber wenn ich aus der Tür trete und nach links gehe, gehe ich eigentlich gleichzeitig auch nach rechts. Alles was passiert, passiert auch tatsächlich, und der Erzähler sagt einfach, als er diese Theorie erzählt bekommen hat: Jetzt verstehe ich auch, warum ich mich so schlecht entscheiden kann. Denn ich möchte ja immer, dass alle Möglichkeiten wahr werden, deshalb kann ich mich im Leben weder für eine Frau entscheiden, noch für einen Beruf oder sonst irgendwas."

    Hülswitt hat sich mit der 150 Seiten umfassenden, in einem leichten, eingängigen Gestus geschriebenen Erzählung viel vorgenommen. Er erzählt eine spannende Geschichte, in die er philosophisch-ästhetische Reflexionen und Diskurse so integriert, dass sie zu einem wesentlichen Bestandteil der Handlung werden. Und es macht überhaupt nichts und nimmt dem Buch nichts von seiner Wirkung, wenn, wie heute häufig üblich, im Klappentext das Ende des Buches vorweggenommen wird.

    Denn es geht Hülswitt nicht in erster Linie um den Handlungsplot und die darin eingebetteten Charaktere, sondern vielmehr um ein Geflecht aus Handlungen und Reflexionen, die sich ineinander widerspiegeln und gegenseitig erhellen. Es geht um die zahllosen möglichen Geschichten, die in einem Augenblick stecken. Ein Experiment in Richtung nouveau roman, dessen hoher Abstraktionsgrad und daraus resultierende Blutleere allerdings oft zur Folge hatte, dass ihm die Rezeption durch ein breites Publikums verwehrt blieb.

    Dieser Gefahr entgeht Tobias Hülswitt, weil er ein prägnanter, talentierter und leidenschaftlicher Erzähler ist, der über Tempo, Witz und Furor verfügt. So beginnen in dieser, eher als eine Stilübung zu bezeichnenden Erzählung die "Dinge", die er Stück für Stück ans "Licht" holt, um sie "bei Licht" zu betrachten, zu strahlen, zu leuchten, zu leben, in eben jenem Wechsellicht zwischen mimetischer, realitätsgetreuer Abbildung und einer schwebenden, diskursiven Reflexivität, zwischen Rationalität und Aberglaube, zwischen der Sehnsucht nach einer festen Bindung und einem unbändigen Freiheitsdrang, stilistisch zwischen traditionellem, linearem und einem freien, dem inneren Bewusstseinsstrom folgenden, nonlinearen Erzählen.

    Tobias Hülswitt, Dinge bei Licht. Erzählung,
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 151 Seiten, 8,95 Euro