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Ein Stoff zur Legendenbildung

Vor zweihundert Jahren ertrank eine Bauerntochter im Rhein bei Kleve: Johanna Sebus. Nach der Rettung ihrer Mutter hatte sie vergeblich versucht, eine ganze Familie durch die steigenden Fluten zu lotsen. Napoleon oder einer seiner Statthalter ließ ihr postum ein Denkmal setzen und auch Goethe schrieb eine Ballade, die gleich zweimal vertont wurde. Selbst der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch hielt ihre Erinnerung wach.

Von Hendrik Feindt | 13.01.2009
    "Der Damm zerreißt, das Feld erbraust, die Fluthen spülen | die Fläche saust, die Fluthen spielen die Fläche saust."

    Im Herbst 1920 reiste Egon Erwin Kisch, seines Zeichens "rasender Reporter" aus Prag, an den Rhein. Auf einem Moldaudampfer. Nicht an den "Rhein der Idylle", wie er schreibt, sondern an den Niederrhein.

    "Keine Ruine, keine Lorelei, kein Passagierdampferchen mit gurrenden Hochzeitspärchen verirrt sich hierherunter. Das Mädchen, dessen Denkmal man sehen kann, ist keineswegs ein minnigliches Lieb, kein Nixchen, das sich mit goldenem Kamme das goldene Haar kämmt, kein Ännchen von Tharau, im Gegenteil, 'Jeanne Sebus, jeune fille de 17 ans' (so steht es auf dem Monument, das ihr Napoleon 1809 setzen ließ) [...]."

    Wer war die 17-jährige Johanna Sebus, dass sie unter napoleonischer Besatzung in dem Dorf Brienen im Département de la Roer, Bezirk Kleve, ein steinernes Denkmal erhielt? Drei Meter hoch und in monumentaler Anlage, vom Pariser Innenministerium in Auftrag gegeben? Nach einem Entwurf, den der Generalinspekteur der französischen Museen, Dominique-Vivant Denon verantwortet hatte? Und für dessen Errichtung der Präfekt in Aachen die enorme Summe von 8000 Francs (das waren 30 Jahreslöhne eines Deicharbeiters) bewilligte?

    Von der "naivgroßen Handlung eines Bauernmädchens" hatte Johann Wolfgang Goethe gesprochen, der Johanna Sebus eine lange Kantate in fünf Strophen widmete. "Unsere Najade" hieß sie dann in seinem Briefwechsel mit Carl Friedrich Zelter, der nach Goethes Gedicht eine seinerzeit erfolgreiche "musikalische Deklamation” komponiert hatte.

    Von einem Bauernmädchen zu sprechen, erscheint allerdings euphemistisch. In den zwei überlieferten damals in französischer Sprache ausgefertigten Todesurkunden, ausgeschrieben auf den 13. Januar 1809, 2 Uhr nachmittags, gilt die ertrunkene Jeanne Sebus einmal als "servante", einmal als "journalière", also als Dienstmagd oder Tagelöhnerin. Die Bürgermeisterchronik der Stadt Kleve vermerkt:

    "Johanna Sebus war die Tochter einer armen Taglöhner-Wittwe, unter sechs Kindern das fünfte, 17 Jahre alt, als sie durch Menschenliebe ihren Tod fand. Bei der großen Überschwemmung im Jahre 1809 war die Fluth schon über den Banndeich gestiegen und ihre Wohnung rings umflossen. Da nahm sie ihre alte Mutter auf den Arm und trug sie auf einen Hügel hin in Sicherheit. Darauf eilte sie wieder zurück, um eine andere Mutter mit drei Kindern, die dasselbe Haus bewohnten, zu retten. Allein das zürnende Element durchbrach jetzt den Damm und mit reißender Gewalt brach die Fluth herein, noch gelang es ihr, mit den vier Hausgenossen und einer Ziege auf einen nahen Hügel zu flüchten, doch die Wuth des Wassers und der Eisschollen zertheilten denselben und so fanden Alle in den Fluthen ihren Tod."

    Es war ein Stoff, der zur Legendenbildung taugte. Und in dem der damalige Unterpräfekt des Bezirks Kleve die einmalige Chance einer Profilierung erkannte: Karl Ludwig von Keverberg, zuvor Mitglied der Preußisch-Geldrischen Ritterschaft, unter französischer Besatzung Unterpräfekt und später Präfekt in Kleve und in Osnabrück, sowie, nach der Schlacht von Waterloo und der Neugründung des Königreiches der Niederlande, Gouverneur der Provinz Ostflandern. Er war es, der nicht nur seine eigene Laufbahn den politisch herrschenden Verhältnissen jeweils anzupassen vermochte, sondern der ebenso den Dichter zu Weimar und die Kulturverantwortlichen in Paris wie auch den Städtischen Singverein zu Kleve zu engagieren verstand. Insofern wird es offenbleiben, was den Baron von Keverberg zu Zeiten Napoleons dazu bewegte, einem Mitglied des Vierten Standes zu anhaltendem Nachruhm zu verhelfen. Egon Erwin Kisch hätte wohl gemutmaßt, es könnte ebenso sehr Opportunismus wie zugleich Respekt vor einem humanitären Akt gewesen sein.

    Offen bleibt auch ein anderes: Warum das bei weitem emphatischste Dokument der Wirkungsgeschichte Johanna Sebus' kaum Resonanz erhielt. Franz Schubert hatte es geschrieben, ein Lied nach dem Text des Gedichtes von Goethe, der den Komponisten nicht zu schätzen wusste, und hatte es unvollendet hinterlassen.