Dienstag, 23. April 2024

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Ein szenisch völlig ausfransender Bastard

Frank Wedekinds Drama "Franziska" ist als böse Persiflage einer dekadent-giersüchtigen Gesellschaft angelegt und entwickelt sich in Andreas Kriegenburgs Inszenierung an den Münchner Kammerspielen zu einem spaßfreudigen Karikaturenpark.

Von Sven Ricklefs | 08.12.2012
    Ich will leben. Alles. Über die Grenzen. ... ...

    Da sitzt sie hoch oben auf der steilen Schräge in dem sich klaustrophobisch nach hinten verjüngenden Bühnenkasten, sitzt da mit aufgestellten und weit gespreizten Beinen, leicht vorgebeugt, die blonden Locken wallen offen nach vorne, sitzt da und krächzt ihren Willen hervor: Brigitte Hobmeier als Franziska, die 18-Jährige, die den Unschuldsverlust längst hinter sich hat, und das mit Vergnügen, Franziska, die das Leben auskosten will bis in die letzte Nuance und die damit in Bereiche vordringt, in denen man als Frau ihrer Zeit nichts zu suchen hat.

    ... . Eingeweide. Ausgeweidet. Hirn. Blut. Schweiß ... ... .

    An dieser ebenso dezidierten wie fast noch unschuldigen Lebensgier wird auch die Mutter nichts mehr ändern, die eine jener Türlöcher ausspuckt, die sichtbar werden, wenn sich die Schräge auf der Bühne der Münchner Kammerspiele ein wenig absenkt: Die Mutter, die da hereintänzelt wie eine fette Made, mit fettem Gesicht, fetten Brüsten, fetter Taille und fetten Schenkeln auf kleinen Füßen. Mit ihrem fetten Hintern wird sie sich gleich mal auf ihre Tochter setzen. Und so wie sie, so werden auch alle anderen Figuren aussehen, denen Franziska im Lauf dieses Stückes begegnen wird. Mit ihren aufgedunsenen Gesichtern und ihren durch fat-suits aufgewulsteten Körpern wirken sie, als hätte Botero Otto Dix den Pinsel geführt. Überall auf Franziskas Weg lauern diese fetten Flummis, die ihr Übergewicht für ihr Leben gern beim Hopsen aus der Vertikalen in die Horizontale bringen, vorzugsweise benutzen sie dabei jene fette rote Riesenwurst als weichen Landeplatz, die immer wieder zu neuen Wohnlandschaften umdekoriert wird. Was von Frank Wedekind in seinem Stück "Franziska" schon als böse Persiflage einer dekadent-giersüchtigen Gesellschaft angelegt ist, wird nun in der Münchner Inszenierung von Andreas Kriegenburg zu einem ungeheuer spaßfreudigen Karikaturenpark.

    Und wer wollte das dem Regisseur verwehren, konzipierte Frank Wedekind doch sein Stück vor 100 Jahren als eine Art Travestie auf Goethes Faust, in der diesmal eine Frau einen Pakt eingeht, um ihre Horizonte und ihr Erlebnisspektrum ins Unerhörte zu erweitern. Auf ihrem Weg durch die kleine und die große Welt geht es allerdings weit prosaischer zu, als bei Faust, auch wenn Wedekind sich frech und frei an Goethes aufgeplustertes Mammutwerk angelehnt hat und seiner zumindest ansatzweise zum Mann mutierten Franziska so einiges anbietet zwischen Weinkeller, Ehedrama und Theaterbühne.

    Überlegen Sie sich's mein Kind, ich lasse sie zwei Jahre das Leben eines Mannes führen, mit aller Genussfähigkeit, mit aller Bewegungsfreiheit des Mannes. Dafür aber sind Sie nach Ablauf der zwei Jahre bis an Ihr seliges Ende: mein Weib, meine Leibeigene, meine Sklavin.

    Doch was als urkomischer Parforceritt beginnt und auf einem hohen Tempo lange Zeit durchgehalten wird, dank einer sich frech und grazil durch das Stück schlängelnden Brigitte Hobmeier und dank eines in fetter Freude virtuos daherhopsenden Ensembles, wird irgendwann dann doch Opfer eines sich vor allem wohl auch in konkreten Zeitbezügen und in wirren Handlungssträngen verheddernden Stückes. Wedekinds Franziska ist ein szenischer völlig ausfransender Bastard, der wohl ganz zu Recht kaum noch aufgeführt wird, ein Stück, das Wedekind sich und seiner Frau Tilly auf den Leib schrieb, und das sicherlich die kabarettistische Lust an der Provokation des Autors widerspiegelt und wahrscheinlich gerade deshalb letztlich viel zu stark in seiner Zeit verhaftet ist. Und so ist es sicherlich ein legitimes und respektables Ansinnen der Münchner Kammerspiele im eigenen Jubiläumsjahr einem gleichalten Stück erneut auf die Bühne helfen zu wollen, doch vielleicht hätte man die künstlerische Potenz von Andreas Kriegenburg und eines großartigen Ensembles trotzdem woanders mit mehr Gewinn investieren können.