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Ein Teil der belgischen Volksseele

Kein Land in Europa ist so Radsport begeistert wie Belgien. Nahezu an jedem Wochenende finden überall im Land kleinere und größere Radrennen statt – nicht nur für Profis. Und wenn im Frühjahr der Startschuss für die berühmte Flandern-Rundfahrt fällt, einer der großen Radsportklassiker, dann hält das ganze Land den Atem an.

Von Alois Berger; Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber | 01.07.2006
    Ein ehemaliger flämischer Profi über die Motive Radrennfahrer zu werden:

    "Früher, wo alle hier arm waren, da hieß die Alternative: Malochen in der Fabrik oder Radrennen. Rennfahrer konnten mehr verdienen als ein Arbeiter an der Werkbank. Deshalb haben sich damals viele für den Radrennsport entschieden."

    Und ein Hobby-Radler über die Vorzüge des Radfahrens:

    "Der Vorteil beim Radfahren ist, dass man sozialen Kontakt hat. Im Auto fährt man aneinander vorbei; auf dem Rad grüßt man sich."

    Musik

    Flandern, das ist die nördliche Hälfte des Königreichs Belgien mit seinen fünf Provinzen Antwerpen, Ostflandern, Flämisch- Brabant und Westflandern. Hier wird Niederländisch gesprochen, im Gegensatz zum französischsprachigen Süden. Flandern, das sind flache Landschaften mit ein paar Hügeln, sandigen Küsten und traditionsreichen Städten wie Brügge, Antwerpen, Gent und Löwen. Doch was Flandern noch berühmter gemacht hat als seine Kultur, das sind die traditionellen Radrennen.

    Rennradfahren und Belgien, das gehört irgendwie zusammen. Kein Land in Europa ist so Radsport begeistert wie Belgien. Und da wundert es nicht, dass der bekannteste Belgier immer noch Eddy Merckx ist. Nahezu jedes Wochenende finden überall im Land kleinere und größere Radrennen statt – nicht nur für Profis, auch für jedermann. Und wenn im Frühjahr der Startschuss für die berühmte Flandern-Rundfahrt fällt, einer der großen Radsportklassiker, dann hält das ganze Land den Atem an. In Scharen schwirren Sie dann aus, um bei der 260 Kilometer langen Hatz über Kopfsteinpflaster und die "Muur", die legendäre Mauer von Geraardsbergen, dabei zu sein.

    Bei Wind und Wetter an der Strecke – Radsportfans bei der Flandernrundfahrt

    "Das ist das ideale Wetter. Morgens hat es geregnet, jetzt kommt die Sonne raus, dann kommen auch viele Zuschauer. Das ist das beste Wetter."

    "Für die Besten, schon. Ja, doch. Zum Beispiel für Tom Boonen, für den ist das jetzt ideales Wetter. Peter van Petegem dagegen, na, der hat lieber trockenes Kopfsteinpflaster."

    "Mmm, trockenes Kopfsteinpflaster. Das sind die beiden Favoriten hier, beides Flamen."

    Seit halb zehn stehen Marc und Raf am Straßenrand von Wannegem-Lede, zusammen mit ihren Frauen Monique und Ditta. Sie haben sich nicht verabredet, aber das müssen sie auch nicht mehr. Sie treffen sich immer am selben Platz, jedes Jahr, auf einem kleinen Betonabsatz vor einer Backsteinmauer.

    Während 100 Meter weiter, vor der Ortskneipe von Wannegem-Lede schon kräftig gesungen und getrunken wird, stehen sie noch ziemlich allein in der Landschaft. "Aber das wird sich gleich ändern", sagt Raf, und schaut auf die Uhr. Denn in diesem Augenblick fällt der Startschuss für die Flandernrundfahrt. Allerdings ist der Start im 100 Kilometer entfernten Brügge und es wird noch gut drei Stunden dauern, bis die Rennfahrer hier vorbeikommen:

    "Wer noch nie dabei gewesen ist, der versteht das nicht: So lange warten, und dann sind sie in drei Minuten durch! Aber die Stimmung baut sich schon auf, gleich fahren die ersten Motorräder vorbei, dann die ersten Streckenfahrzeuge, Reklameautos, Helikopter in der Luft. Wenn Sie an irgendeinem anderen Sonntag im Jahr kommen, dann ist hier absolut nichts los."

    Mit 50 ist Marc der jüngste der Gruppe. Sportlich gebaut, gepflegter Schnurrbart, wetterfester Parka. Er steht fast jeden Sonntag an der Strecke. Mal im Ostflandern, mal in Westflandern - irgendwo ist immer ein Rennen und wenn's nur eine Kirmes ist, die sich mit einem Juniorenrennen schmückt.
    Raf, Monique und Ditta dagegen konzentrieren sich auf die wichtigen Rennen. Sie sind alle drei zwischen 50 und 60 und halten es auch mal einen Sonntag zuhause aus. Zur Tour de France würden sie nie fahren, selbst Marc nicht.

    "Nein, zur Tour nicht. Es soll schon in Belgien sein und es muss Kopfsteinpflaster geben!"

    Kopfsteinpflaster, das ist es. Je größer die Steine, desto schöner. Auf den Streckenplänen in den belgischen Zeitungen ist genau eingezeichnet, wo die größten Steigungen sind und wo die Kopfsteinpflasterstrecken sind. Damit die Zuschauer wissen, wo sie sich hinstellen müssen. Am besten natürlich dort, wo es steil ist und es Kopfsteinpflaster gibt.

    "So eine Strecke ist viel riskanter, viel mehr Spektakel. Für den Rennfahrer ist das weniger schön, gerade für diejenigen mit einem eleganten Stil. Wenn wir dieses Jahr echt was sehen wollten, dann hätten wir zum Koppenberg fahren müssen. Da schaffen's nicht alle im Sattel hoch. Also stoppen sie irgendwann, und dann müssen alle absteigen, die dahinter kommen. Das ist das typische Bild vom Koppenberg. Aber da stehen so viele Zuschauer, das ist dann einfach zuviel des Guten."

    Deshalb sind die vier wieder nach Wannegem-Lede gekommen. Inzwischen sind sie auch nicht mehr ganz allein. Um genau zu sein: sie stehen jetzt in einer ziemlich dichten Menschenmenge.
    Aber auf ihrem Betontreppchen haben sie natürlich die beste Sicht.

    "Die Zuschauer kommen aus allen Schichten der Bevölkerung, wirklich, das sieht man vielleicht nicht sofort, aber das stimmt, doch, nicht?"

    "Ja, ja, das ist wirklich etwas für Jedermann. Vielleicht nicht für Herzkranke."

    "Früher war das schon ein anderer Schlag Menschen, der sich solche Rennen anschaute, ganz früher, nicht? Das war dann wie auf dem Dorfrennen."

    "Die Rennfahrer haben sich ja auch entwickelt: früher brachten die doch keinen geraden Satz heraus. Im Ziel wusste keiner, was er sagen sollte. Heute werden die doch auch dafür trainiert, damit sie einen passenden Kommentar abgeben können. Das können die inzwischen."

    "Oh, wenn die früher immer in ihrem Dialekt rumstammelten! Besonders der Planckaert damals."

    Das schönste, da sind sich die vier einig, ist, dass man an der frischen Luft ist, dass man mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommt und dass das ganze Spektakel auch noch umsonst ist.

    Dafür kann man auch mal eine Stunde vorbeirasende Werbung über sich ergehen lassen. Irgendwie gehört das ja auch dazu, meint Marc.

    Und dann geht es endlich richtig los:

    "In dem Tempo fahren die jetzt noch bis vier Uhr so weiter, unglaublich!"

    "Kommen da jetzt noch welche?"

    "Ja, doch!"

    "Ja wirklich, das ist außergewöhnlich! Ich glaube, am Start war's nass und kalt und da sind sicher einige gestürzt."


    "Da, guck Dir das an. Verrückt, völlig verrückt. Das ist lebensgefährlich, mit dem Auto so dicht dahinter."

    "Ich wette, dass jetzt die grüne Flagge kommt. Ja, ja."
    "Ja, da ist sie, die grüne Flagge. Jetzt sind sie alle durch. Hier ist das Rennen jetzt vorbei."

    Aber nicht für Raf und Ditta. Die beiden machen sich schnell auf zu ihrem Auto, sie wollen noch ein paar Kilometer weiter, um die Fahrer ein zweites Mal zu erleben, diesmal am Kwaremont, einer besonders gemeinen Steigung. Auch Marc und Monique gehen zu ihrem Auto: Auf nach Hause, das flämische Fernsehen überträgt am Nachmittag das Rennen noch einmal - in voller Länge.

    Musik

    Überall in Flandern – in den großen Städten ebenso wie in kleinen Gemeinden und Dörfern – gibt es Kneipen, in denen die Flamen ihrer Leidenschaft für den Radsport freien Lauf lassen. Diese so genannten Supporter-Cafés sind ein wichtiger Bestandteil der flämischen Kultur. Sie gehören zu besonderen Lebensart der Flamen genauso wie die glückseligen Biergärten in Bayern, die fröhlichen Pubs in Irland oder die stilvollen Kaffeehäuser in Wien, schreibt Walter Rottiers, der belgische Journalist, in seinem Buch "Treffpunkt Tresen."

    Musik

    Literatur:
    Es ist ein sonniger Junitag, anfangs der unbändigen Fifties. Ein kompaktes Peleton ehrgeiziger Profiradler, die in Flandern zu dieser Zeit auch respektvoll "Die Großen" genannt werden, nähert sich beim nachbarlichen Kirmesrennen mit enorm viel Speed dem kleinen Ort Perk. "Opgepast, de renners zijn in aantocht!", dröhnt unentwegt die kreischende Lautsprecherstimme des Führungsfahrzeugs, als dieses hoch motiviert und mit quietschenden Reifen durch die holprigen Straßen der eigentümlichen Gemeinde donnert: "Aufgepasst, die Rennfahrer sind in Sicht!"
    Wie auf Kommando stürmen rund sechzig, siebzig selbst- bewusste Herren mittleren Alters, die Tellermütze schräg ins Gesicht gezogen und mit einer malträtierten Zigarettenkippe im Mundwinkel, aus der verrauchten Dorfkneipe, drängeln sich voller Ungeduld an den Straßenrand und recken die Hälse bis zum geht nicht mehr, um die Vorbeifahrt des hastigen Rennfahrerpulks bloß nicht zu verpassen.

    Rüttelnd auf ihren glänzenden Felgen biegen die Radstars wie an einer Schnur gezogen, voll konzentriert und in technisch perfekter Haltung – das rechte Bein elegant gestreckt – in die Linkskurve ein. Dort prustet einer der Coureurs durch seine verdreckte Nase, ein anderer greift mit Schwung zur Trinkflasche, der Geruch von Massageöl auf strammen Radlerwaden mischt sich für einen Moment mit dem Bier- und Nikotindunst aus dem Supporter-Lokal an der Ecke.


    Musik

    Anders als zum Beispiel in den Niederlanden ist Radfahren für viele Belgier ausschließlich ein Sport. Niemals würden sie damit zur Arbeit oder zum Einkaufen fahren. Das gilt vor allem für Brüsseler und Wallonen. Während vor flämischen Bahnhöfen im Norden des Landes zehn Mal mehr Fahrräder stehen als Autos parken, sind im Süden und in der Hauptstadt Fahrräder nur an Sonntagen zu sehen.

    In Brüssel gibt es seit geraumer Zeit Initiativen, das Fahrrad als Transportmittel wieder zu etablieren. Die Stadt lässt Radwege anlegen, richtet Fahrradparkplätze ein, verpflichtet den öffentlichen Nahverkehr auch Fahrräder mitzunehmen. Es macht nur niemand. Die Brüsseler haben das Fahrradfahren verlernt. Manche erinnern sich jetzt wieder und besuchen Fahrradschulen, um wieder in Tritt zu kommen.

    Überlebenstraining für Radfahrer – Velo-Traffic in Brüssel

    Sebastien ist ein zierlicher junger Mann, der gerne jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Uni fahren würde. Aber er traut sich nicht mehr, denn von seiner Studentenbude in der Brüsseler Innenstadt bis zur Uni sind es gut fünf Kilometer. Fünf Kilometer allein gegen die Autos.

    "Auch wenn ich mir eigentlich ganz sicher bin, dass ich mich verkehrsgerecht verhalte und alle Regeln beachte, dann hupen trotzdem ständig Autofahrer. Da entstehen gefährliche Situationen und ich wüsste gerne, wo ich Fehler mache und wie ich das verbessern kann."

    Sebastiens Hoffnungen ruhen auf Velo-Traffic, einer Art Überlebenstraining für Radfahrer in Brüssel. Der vierstündige Kurs wird von der Gracq angeboten, einem Verein, der das Fahrrad in Brüssel wieder zum normalen Verkehrsmittel machen will. "Wir müssen mehr werden," meint Stephane Smets, "dann gewöhnen sich die Autofahrer auch an uns".

    "Wir versuchen Ihnen heute Nachmittag beizubringen, wie man in der Stadt Rad fährt. Wir üben aber nicht das Radfahren, sondern wie man sich auf dem Rad im Großstadtverkehr bewegt, das ist eine ganz andere Sache."

    Stephane Smets mit der großen Brille und dem Pferdeschwanz ist ein freundlicher und geduldiger Mensch. Der Autofahrer ist kein Feind, sagt er, sondern ein unberechenbares Wesen, auf das sich der Fahrradfahrer eben einstellen muss.

    Als erstes empfiehlt er grell gelb leuchtende Schutzwesten: Solange Autofahrer nicht an Fahrradfahrer gewöhnt sind, muss man eben das ganze Jahr wie ein Weihnachtsbaum durch die Stadt radeln, sagt er, bevor er zum Wichtigsten kommt.

    "Klarmachen: Achtung, ich bin auch da!"
    "Das ist eine gute Klingel."

    Julio, ein fülliger und freundlicher Enddreißiger mit Schnauzbart, verteilt die Stadtpläne mit dem Radwegenetz. Julio ist der einzige Festangestellte des Fahrradvereins.

    "Auf dem Plan seht ihr, dass es drei unterschiedliche Farben gibt, nein zwei: Orange, das sind die Fahrradwege, die ausgeschildert und entsprechend eingerichtet sind, gelb das sind einfache Fahrradwege ohne Hinweise. 2009 soll dieses Radnetz fertig sein, das zumindest verspricht unser Regionalminister."

    Doch an fehlenden Radwegen liegt es sicher nicht, dass so wenige Menschen in Brüssel ihr Rad benutzen. Fast überall gibt es inzwischen Fahrradspuren - sie sind nur immer zugeparkt. Doch das gefährlichste, da sind sich alle einig, das ist das Linksabbiegen. Das wird jetzt geübt und dazu stellt sich Paloma mitten auf den Weg und lässt die Teilnehmer vorbeiradeln.

    "Die Teilnehmer müssen geradeaus fahren, sich dann umdrehen und sagen, wie viel Finger ich hochgehalten habe. Es geht darum, sich beim Fahren umzudrehen und zu schauen, ob hinter einem ein Auto kommt."

    Kursleiter Smets erklärt , dass man den Autofahrern beim Abbiegen immer in die Augen schauen muss. Immer in die Augen schauen, sonst wird man nicht gesehen.

    Und dann geht's los in den richtigen Straßenverkehr.

    Vorne Stephane, hinten Paloma, dazwischen sechs Teilnehmer, alle mit neongelben Westen, die nun tapfer auf den Stadtring zuradeln. Immer wieder müssen sie um Autos herumkurven, die in zweiter Reihe geparkt sind.

    "In Brüssel und in Belgien insgesamt glauben die Autofahrer wirklich, dass ihnen die Straße gehört, vielleicht in Flandern ein bisschen weniger, weil da mehr Fahrradfahrer unterwegs sind. Aber hier in Brüssel meinen vor allem die Älteren, dass Straßen nur für Autos da sind, nicht für Fahrräder."

    Gegen Ende des Kurses kommen die schwierigeren Übungen. Vor der roten Ampel mitten auf der Kreuzung Diamant am Stadtring gibt Stepane die letzten Instruktionen. Links, rechts und über ihm rasen Autos auf dreispurigen Straßen:

    "Da hinten hat die Straßendecke genau da jede Menge Löcher, wo wir Radfahrer eigentlich fahren müssten. Sie müssen also entweder mit großen Bogen nach links oder sie fahren mitten durch die Schlaglöcher. Dabei müssen Sie die Autofahrer hinter sich im Blick haben. Denn die begreifen nicht, warum Sie so weit links fahren, also Achtung. Vielleicht müssen Sie auch mal durch ein Schlagloch fahren, das kann schon sein, aber wir versuchen es zu vermeiden."

    Und los geht es. Sebastien tritt erst zögernd, dann kräftig in die Pedale. Rüber über den Ring, rein in die Avenue des Cerisiers.
    Und plötzlich sind sie mitten drin im Nahkampf mit Hindernissen. Die Autofahrer hupen, drängeln, versuchen um jeden Preis zu überholen. Vor jedem Schlagloch zögern die Teilnehmer einen Moment: ausweichen oder durchfahren. Die Übung "links abbiegen" am Ende der Straße, sie wird zu einer echten Herausforderung. Aber alle halten durch, Gemeinsamkeit macht stark.

    Auch Sebastien hat es gut geschafft. Er ist sehr zufrieden mit dem Trainingsnachmittag. Aber er steht noch deutlich unter dem Eindruck der letzten Übungen:

    "Mir kommt das schon noch gefährlich vor, aber mit den Tipps sollte es klappen. Die geben einem schon Sicherheit. Das ist genau das, was ich mir von diesem Kurs erhofft hatte. Alles in Ordnung, echt."

    Musik

    Manche Kneipen in Belgien waren und sind heute noch mehr als nur beliebte Stätten, in denen Gäste in bester Stimmung ein gepflegtes Bier trinken. In vielen von ihnen erfährt und erlebt man auch am Tresen den Radsport in all seinen Spielarten. Ihr Ursprung reicht weit zurück in die Gründerzeit des Radsports, als dieser gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts in Flandern so populär wurde wie sonst in ganz Europa nur der Fußball.

    In dieser Zeit wurde auch der Mythos des "Flandriens" geboren, jener unerschütterliche Rennfahrertyp, der mutig war wie ein Löwe, tapfer wie ein Gallier und kämpferisch wie ein Gladiator, der weder Regen, Wind noch Kälte scheute und bei den ultraschweren Ein-Tages- Klassikern die geballte Konkurrenz das Fürchten lehrte. Einer der ersten Champions des belgischen Radsports, der von den Fachleuten mit dem Prädikat "Flandrien" versehen wurde, war Cyrille Van Hauwaert aus Moorslede, "der Löwe von Flandern", wie er genannt wurde oder Rik Van Steenbergen, der Straßenweltmeister von 1957. Mit ihnen identifizierte sich einst ein ganzes Land.

    Musik

    Literatur:
    Ein siegestrunkener Zuschauer glaubt das Trikot von Weltmeister Rik Van Steenbergen entdeckt zu haben. "Alleeeee Riiiiik…", brüllt er sich voller Leidenschaft die Kehle heiß und hofft dabei, seinem über alles geliebten Favoriten einen zusätzlichen Adrenalinstoß verpassen zu können. Ein anderer ärgert sich in allen Farben des Regenbogens über Raymond Impanis, den Tour de France- Helden von 1947, der sich nach seinem Geschmack "Verdomme doch…" viel zu weit hinten im dichten Peleton aufhält.
    Nach nur wenigen Sekunden ist das Spektakel bereits zu Ende. Doch kaum ist das bunte Schlussfahrzeug, der so genannte Besenwagen, außer Sichtweite, da stürmen die Herren Supporter bereits genau so schnell in die Kneipe, wie sie gekommen waren. An der bierdurchtränkten Theke werden bis zum Umfallen die nächsten Durstlöscher bestellt. Über Favoriten wird frenetisch gestritten, es wird gewettet, am laufenden Band geflucht und herzhaft gelacht, dass in Rom förmlich die Alarmglocken läuten. Zwanzig Minuten vergehen, bis sich die Lautsprecherstimme erneut aus der Ferne ankündigt, und das irrwitzige Spektakel kann von vorne beginnen.


    Musik

    In Belgien ist Rennradfahren Volkssport Nummer 1, populärer sogar noch als Fußball. Radsportstars wie "Briek" Schotte, Stan Ockers, Rik van Steenbergen, Rik Van Looy, Eddy Mercks oder Freddy Maertens werden als Nationalhelden verehrt. Und die Idole finden natürlich Nachahmer. So radeln zehntausende flämische Amateure Woche für Woche auf einem der zahlreichen Kirmesrennen um die Wette, auf der Jagd nach Siegerkränzen aus Plastik, Aluminiumpokalen und Ehrenurkunden.

    Mit 10 Millionen Einwohnern ist Belgien eher ein kleines Land in Europa. Aber wenn es um Radsport geht, ist Belgien ganz groß. Und wenn es auch in den letzten Jahren nicht so gut lief, in Zukunft werden sie wieder da sein. Dafür sorgen die rund 50 Radsport-Klubs im ganzen Land.

    Berufsziel Profi – Die Rennradschule von Charleroi

    "Man muss ausgeglichen essen, nicht zu viele Bonbons und Kuchen, keine Chips. Man muss vor allem regelmäßig essen. In der Schulpause und nachmittags keine Bonbons, sondern Obst. Manchmal dürfen wir ja Bonbons essen, aber nicht oft, weil das schlecht für die Gesundheit ist und auch für die Zähne."

    Die richtige Ernährung war das erste, was Alexandre in der Radrennschule von Charleroi gelernt hat. 11 Jahre ist Alexandre gerade geworden, seit ein paar Monaten trainiert er, Woche für Woche, um möglichst bald bei Rennen mitzufahren.

    "Einer meiner Wünsche ist, Profi zu werden. Das wäre nicht schlecht."

    Aber bis dahin ist ein weiter Weg, sagt Didier Dieudonné, und nur wenige kommen durch. Dieudonné ist Ausbilder an der Radrennschule von Charleroi, ein lustiger Herr in den Sechzigern, der ein bisschen mit seinen Pfunden kämpft. "Radrennfahren", sagt er, "das ist der schönste Sport überhaupt und deshalb macht er sich auch keine Sorgen um den Nachwuchs".

    "Ich kümmere mich seit 25 Jahren um die jungen Fahrer, seit der Club existiert. Wir haben die Aspiranten, das sind die zwischen 12 und 14 Jahren, dann die ganz Kleinen ab acht Jahren und die Junioren, die an allen möglichen belgischen Rennen teilnehmen. Einer von unseren Fahrern hat sich gerade für die Junioren-Weltmeisterschaft qualifiziert."

    57 junge Radrennfahrer sind in Charleroi eingeschrieben, fürs nächste Jahr liegen schon jetzt elf neue Anmeldungen vor. Schule ist vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck. Dieudonné und seine Kollegen unterrichten vor allem in den Ferien und an den Wochenenden. Gepaukt wird die Straßenverkehrsordnung, die Technik der Rennräder, die richtige Ernährung und natürlich die richtige Einstellung zum Sport.

    "Man braucht Charakter. Wenn Sie keinen Charakter haben, werden Sie auch nicht Radrennfahrer."

    Mit Charakter meint er vor allem Durchhaltevermögen und Ausdauer. Denn wer das Radfahren ernst nimmt, hat nicht mehr viel Zeit für anderes. Schließlich dauert bereits der Schulunterricht in Belgien bis vier Uhr nachmittags. Der 16jährige Kevin, ein hagerer Typ mit langen Beinen, fährt jeden Sonntag bei Radrennen mit.

    "Am Montag putze ich dann mein Fahrrad und mache den Dreck vom letzten Rennen weg. Dienstag fahre ich eineinhalb bis zwei Stunden und übe kleine Angriffsversuche, Mittwoch mache ich die große Tour mit 70 bis 80 Kilometer, am Donnerstag fahre ich eine bis eineinhalb Stunden in ruhigem Tempo, und am Freitag trainiere ich entweder im Radstadion oder ich mache Lockerungsübungen als Vorbereitung auf das Rennen am Sonntag."

    An diesem Freitag ist wieder das Radstadion dran. Das Velodrom von Charleroi ist eine ovale Betonschüssel auf einem Hügel über der Stadt. Rund 70 Meter Durchmesser, mit hohen Steilkurven, an denen die Nachwuchsfahrer an ihrer Technik feilen.

    Von der Tribune aus sieht man nicht nur die Radrennbahn, sondern in der Ferne auch die Schornsteine und Abraumhalden von Charleroi. Für ein Dach hat es beim Velodrom nicht mehr gereicht, deshalb ist das Stadion bei Regen immer gesperrt. Eine nasse Fahrbahn ist zu gefährlich.

    Aber Charleroi hat einfach kein Geld mehr. Die Schwerindustrie, die die Stadt einst groß gemacht hat, ist zusammen gebrochen. Charleroi, das ist in Belgien heute der Inbegriff des wirtschaftlichen Elends und Niedergangs. Umso mehr sind die Betreuer des Radsportclubs stolz darauf, dass sie ausgerechnet hier einen der erfolgreichsten Clubs des Landes aufgebaut haben. Trotz der prekären Lage vieler Mitglieder. Oder gerade deshalb, wie Walter Pitou meint.

    "Unter unseren wirklich guten Radrennfahrern sind in der Tat viele, die aus finanziell eher schwierigen Verhältnissen kommen und im Radsport eine Möglichkeit sehen, da raus zu kommen. Bei denen, die es zuhause leichter haben, gibt es eher Schwierigkeiten, sie zu motivieren. Da ist der Druck geringer, sich im Sport zu beweisen."

    Walter Pitou ist der Organisator des Vereins. Während die Jungen ihre Runden drehen, kniet der gelernte Mechaniker im Innenraum und schraubt an zwei Fahrrädern gleichzeitig herum. Er und Dieudonné sind fast jeden Abend mit ihren Schützlingen irgendwo zum Training unterwegs.

    "Man braucht Leidenschaft. Es sieht vielleicht nicht so aus, aber das ist viel Arbeit. Vor allem im Winter muss man für jedes Training heißen Tee und Sandwiches vorbereiten. Stellen Sie sich vor, wie es im Januar und Februar aussieht, da sind die patschnass und durchgefroren. Die brauchen danach sofort eine warme Dusche. Wir haben das Glück, dass wir zwei Stadträte haben, bei denen sich die Fahrer umziehen dürfen. Da können die Jungs dann auch duschen."

    Didier Dieudonné sieht sich längst nicht mehr nur als Radrenntrainer. "Wir versuchen, den Jungen auch eine Erziehung für's Leben mitzugeben," sagt er, "Sie werden hier zum Beispiel nie ein Schimpfwort hören, darauf legen wir Ausbilder großen Wert."
    Doch ohne sportlichen Ehrgeiz geht es nicht. Weil sonst das Geld fehlt, das der Verein unbedingt braucht.

    "Wenn man keine Erfolge bringt, dann hat man bald keine Sponsoren mehr. Und ohne Sponsoren kein Geld. Schauen Sie: um unsere Fahrer auszurüsten, brauchen wir 20 000 Euro im Jahr. 20 000 Euro nur für die Ausrüstung."

    Didier Dieudonné ist früher selber Rennen gefahren, als Amateur, später hat er seinen Sohn trainiert. Der ist inzwischen auch Ausbilder an der Radrennschule von Charleroi. Und so kümmert sich Dieudonné jetzt um die Jüngsten. Etwas anderes kann er sich kaum vorstellen. "Schauen Sie, das ist doch unsere Zukunft," sagt er und freut sich, als die jungen Radfahrer wieder an ihm vorbeirauschen.

    Neben Dieudonné steht der 11-jährige Alexander mit Helm auf dem Kopf und seinem Rennrad an der Hand. Jetzt ist er zu müde, um weiter mitzufahren. Aber seine Augen leuchten. Er träumt von seinem ersten Rennen. "Und dann werde ich vielleicht sogar mal gewinnen," sagt er. "Das wäre schon Klasse."

    Musik

    In keiner anderen Region Europas begegnet man auf so frappierende Weise einem faszinierenden, harmonischen Dreiklang aus Tradition, Radsport und Geselligkeit. Profiteure dabei sind die Wirte der Supporter- Cafés, denn nahezu jede Tour der Hobby- und Freizeitsportler endet am Tresen eines solchen. Und Experten sind sie dort alle.

    Musik

    Literatur:
    Nachdem die Rennfahrer zum fünfzehnten und letzten Mal den sonst eher friedsamen Ort überfallartig passiert haben, greift der Wirt zum Telefonhörer, um zu erfahren, wer denn nun letztendlich gewonnen hat. Eine Szene, wie sie sich eigentlich nur in Flandern abspielen kann. Eine Szene, wie sie das deutsche angesehene Reisemagazin "Merian" vor Jahren in einer Sonderausgabe einmal so vortrefflich charakterisierte: Die Titelseite zeigte eine bunte Gruppe Radsportler, die sich kämpfend gegen Wind und Wetter auflehnten. Und auf der Rückseite präsentierte das Magazin eine ganzseitige Bieranzeige.


    Belgien ist eine Doppelmonarchie, schrieb Christian Eichler einmal in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der eine König heißt Albert, der andere Eddy. Der eine ist es durch Geburt, der andere durch Siege. Gemeint ist Belgiens König Albert II. und Belgiens Radsport-Idol Eddy Merckx, der in seiner aktiven Zeit wegen seines unersättlichen Hungers nach Siegen "der Kannibale" genannt wurde. 525 Mal fuhr er bei Profirennen als erster über die Ziellinie. Fünf Mal gewann er die Tour de France und den Giro d’Italia. Er errang vier Weltmeistertitel und 17 Siege bei einem der vier Frühjahrsklassiker. Sein Stundenweltrekord hatte 28 Jahre Bestand. Eddy Merckx ist im Radsport begeisterten Belgien heute noch ein Nationalheld.
    Eddy Mercks ist sicherlich der berühmteste belgische Rennradfahrer. Doch es gab auch andere erfolgreiche Akteure, wie zum Beispiel Freddy Maertens, der in seiner aktiven Zeit zwar stets im Schatten des großen Eddy Mercks stand, aber den trotzdem in Belgien jedes Kind kennt.

    Vom Rennrad zum Hochrad – Freddy Maertens im Fahrradmuseum von Roeselare

    Beim Hochrad ist es so, wenn der Vorderreifen einen Meter Durchmesser hat, dann kommt man mit einer Pedalumdrehung genau 3 Meter 14 voran. Das ist Mathematik, sagt Freddy Maertens und grinst.

    Maertens war früher einmal Straßenweltmeister, zweimal sogar, 1976 und 1981. Allein 1976 hat er 54 Rennen gewonnen, dazu acht Etappen bei der Tour de France und das grüne Trikot als schnellster Sprinter. In normalen Zeiten wäre Maertens damit in Belgien unsterblich geworden. Sein Pech war, dass seine besten Jahre auch die besten von Eddy Merckx waren. Was Maertens auch machte, Merckx war schon da. Und so kommt es, dass Merckx heute noch im Fernsehen auftritt, während Freddy Maertens seit fünf Jahren im Fahrradmuseum in Roeselare das Hochrad erklärt. Mit einigem Erfolg, wie er meint.

    "Es mag ein bisschen hochmütig klingen, aber vor sechs Jahre kamen hier nur 4000 zahlende Besucher, jetzt haben wir über 20.000. Sie brauchen Publizität, und ich bin, wie die Menschen sagen, noch eine lebende Legende. Wenn ich hier bin, wollen sie mich noch einmal sehen."

    Dass das Museum des Belgischen Nationalsports ausgerechnet in Roeselare steht, mitten in der westflämischen Provinz und über 150 Kilometer von Brüssel entfernt, das ist kein Zufall. Aus dieser Gegend kamen fast alle großen belgischen Radsportler des zwanzigsten Jahrhunderts.

    In Brüssel nannte man die starken flämischen Bauernsöhne "Flandriens", bewunderte Exoten mit dem muskulösen Charme junger Halbwilder.

    "Ja, diese Grundeinstellung, dieser Einsatz war es vor allem, dieses: niemals aufgeben. So, wie eben die frühen "Flandriens" fuhren, die berühmten westflämischen Radrennfahrer wie Brik Schotte, van Steenbergen, Sylvain Maes. Von mir sagen sie ja auch, ich sei ein Flandrien gewesen, aber das stimmt nicht. Bei uns war vieles schon normal, mit dem Flugzeug zum Training und so. Früher, wo alle hier arm waren, da hieß die Alternative: Malochen in der Fabrik oder Radrennen. Rennfahrer konnten mehr verdienen als ein Arbeiter an der Werkbank. Deshalb haben sich damals viele für den Radrennsport entschieden. Dann kamen die ersten Fanclubs auf, die Radrennfahrer bekamen 100 Francs hier zugesteckt und 100 Francs da und da konnten sie ihren Lebensstandard deutlich verbessern."

    Auch für Freddy Maertens war das Geld wichtig, als er sich vor fast vierzig Jahren entschied, Radprofi zu werden. Außerdem war da noch die Familie: Sein Onkel war Radprofi, sein Cousin war Radprofi, viele Bekannte seiner Eltern auch.

    Wer hier in Westflandern vor 40 Jahren über Sport als Beruf redete, der meinte Rennradfahren. Natürlich haben die meisten Jungs seiner Klasse Fußball gespielt, erzählt Maertens, aber von denen hat keiner daran gedacht, daraus seinen Lebensinhalt zu machen. Doch in jeder Klasse gab es auch drei oder vier, die mit dem Rennrad trainierten - und die wollten Profis werden.

    "Ich habe sehr früh begonnen mit den Radrennen. Ich war erst 14 Jahre alt. Immer nach der Schule, in den Ferien. Als ich ungefähr 17, 18 Jahre alt war, war die Alternative Universität oder weitermachen als Profi. Meine Eltern haben mich unterstützt, als ich mich für den Radprofi entschied, aber sie waren sehr streng mit mir. Nicht mit Mädchen ausgehen, um 9 ins Bett, Sommer und Winter - ja, viel trainieren, dafür leben, keinen Alkohol trinken, nur Essen, was man darf."

    Es ist zwar nicht sehr hügelig rund um Roeselare, aber man hat immer Gegenwind und es regnet oft und ausgiebig. Maertens und seine Rennradfreunde waren es von klein auf gewohnt, sich zu quälen. Nie fiel ein Training beispielsweise wegen Regens aus. Wenn das Wetter richtig schlecht und die Straßen schlammig waren, erzählt Maertens, dann sind sie eben die vierzig Kilometer an die Nordsee gefahren, um auf dem Sandstrand zu üben. Das gibt Kraft, sagt er, deshalb gibt es so viele Sieger aus dieser Gegend. Er kennt sie alle, und mit einigen ist der einstige Weltmeister Maertens sogar verwandt. Für seinen Schwager hat er einen eigenen Raum im Museum eingerichtet.

    Jean-Pierre Monserré aus Roeselare wurde 1970 Straßenweltmeister, gerade 20 war er damals. Ein paar Monate danach stürzte er bei einem Radrennen und starb. Freddy Maertens verlor seinen Schwager und fünf Jahre später auch den kleinen Bruder des Schwagers. Ebenfalls tödlich verunglückt bei einem Radrennen. Maertens selber fuhr damals gerade bei der Tour de France mit, drei Etappen waren es noch bis Paris. Und weil er gute Chancen auf einen der vorderen Plätze hatte, überbrachte ihm niemand die schlimme Nachricht. Maertens erfuhr erst nach dem Rennen vom Tod seines Neffen.

    "Ich finde das sehr schön von der Presse, den Konkurrenten Radfahrern, dass sie es mir nicht gesagt haben, sonst wäre ich vielleicht nach Hause gegangen. So habe ich noch zwei Etappen gewonnen."

    Freddy Maertens spricht so, wie er früher gefahren ist: immer geradeaus. Auch übers Doping.

    "In die Welt der Rennradfahrer, denke ich, dass es normal ist, dass sie eine Begleitung haben und einen guten Sportarzt brauchen, Doping und Doping sind zweierlei. Da gibt es Rennfahrer, die im Kopf haben, wenn ich ein bisschen dope, dann fahre ich schnell wie Tom Boonen. Das geht nicht. Sie müssen sehr viel trainieren und mit Training und der richtigen Begleitung erreichen sie was. Und sie wissen auch, eine Spanienrundfahrt, der Giro d’Italia, die Tour de France, die schafft man nicht mit drei Brötchen und zwei Tassen Kaffee - das geht nicht."

    Die Spanien-Rundfahrt hat Freddy Maertens übrigens auch gewonnen, 1977 war das. Nach dem Ende seiner aktiven Karriere geriet Maertens´ Leben etwas ins Schlingern. Einige Geldanlagen gingen in die Binsen, sein Buchhalter brannte mit einem Teil der Kasse durch und dann kam auch noch das Finanzamt mit Steuer-Nachforderungen. "Was verstehen wir Radfahrer schon von Geschäften", fragt der 52-jährige heute, "vom Rennradfahren wissen wir alles, aber von Geschäften?" Fast hätten sie ihm damals seine Villa weggenommen. Doch da bewies Maertens seine Kämpferqualitäten. Er rappelte sich auf, brachte seine Finanzen in Ordnung und als ihm das Nationale Fahrradmuseum einen Job anbot, nahm er den sofort an. Seitdem hat er zwei Zuhause: Die Villa, wo seine Frau auf ihn wartet, mit der er seit 34 Jahren verheiratet ist, und das Museum, wo Freddy Maertens das Hochrad erklärt.

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    Radfahrer haben es in der heutiger motorisierten Welt oft nicht leicht sich zu behaupten. Besonders in den Städten haben meist nur die Autofahrer Vorfahrt. Um die Interessen der Radfahrer zu vertreten, haben sich in Flandern Mitte der 90er Jahre Radfahrer zusammengeschlossen und den "Fietsersbond" gegründet, eine Art Vereinigung für Fahrradfahrer. Sie verstehen sich als Lobbyisten, setzen sich für mehr Fahrradwege ein, für Geschwindigkeitsbegrenzungen in Städten oder für Radtransporte in öffentlichen Verkehrsmitteln.

    Lobbyarbeit für die Fahrradfahrer – Patrick d’Haese, Vorsitzender des Fietsersbonds

    Donnerstagmorgen bei D´Haeses im ostflämischen Waasmunster, kurz nach acht. Der Himmel ist grau. Patrick d´Haese holt das bunte Kinderfahrrad seiner Tochter aus der Garage und schwingt sich auf sein altes Herrenrad. Der Wind weht kräftig und kalt von Westen her, aber der Mann scheint trotz des kurzärmeligen Hemds nicht zu frieren. "Der hält mich warm," lacht er und klopft auf seinen kleinen Bauchansatz.

    "Mit dem Fahrrad zu Schule fahren, das ist hier nichts Besonderes. Es gibt sehr viele Eltern, die ihre Kinder mit dem Rad in die Schule begleiten. Und für die kleinen Einkäufe wie beim Bäcker fahren hier die meisten ebenfalls mit dem Rad."

    Eigentlich sollte es so immer und überall sein in Flandern, findet Patrick d´Haese, und dass er das so sieht, hat auch mit seinem Beruf zu tun, denn er ist der Vorsitzende des Fietsersbonds, einer Organisation, die sich für die Belange der Radfahrer einsetzt. Fietserbonds ist eine einflussreiche Organisation. Seine Lobbyarbeit beginnt in der eigenen Familie, bei seiner

    "Fährst Du im Winter auch immer mit dem Fahrrad?"
    "Manchmal."
    "Und wenn du nicht mit dem Fahrrad fährst?"
    "Dann mit dem Auto."
    "Und wie fährst du am liebsten, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto?"
    "Och, mit beidem. Mit beiden, ja?"

    Patrick d´Haese ist kein Ideologe. Dass seine Frau das Auto benutzt, um zu ihrer Arbeitstelle zu kommen, findet er normal. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad bräuchte sie dreimal so lang. Er selber aber nimmt lieber das Fahrrad: zehn Kilometer von Waasmunster bis zum Bahnhof in Lokeren, dann mit dem Zug nach Antwerpen, und wenn er dort aussteigt, fährt er mit dem Fahrrad bis zu seiner Arbeit.

    "Ich hab’s im Sommer mal mit dem Wagen versucht. Tja, prompt war da ein Unfall, und das hat mich zwei Stunden gekostet. Einen Tag danach bin ich mit dem Fahrrad die ganze Strecke gefahren Waasmunster- Antwerpen. Nach einer Stunde und zwanzig Minuten war ich an meinem Arbeitsplatz, also schneller mit dem Fahrrad als Tags zuvor mit dem Auto. Natürlich steht man nicht jeden Tag wegen eines Unfalls zwei Stunden im Stau, aber übers Jahr gesehen bin ich mit Fahrrad und Zug viel schneller an meiner Arbeitstelle als mit dem Auto."

    Vor fünfzig Jahren fuhr jeder in Flandern mit dem Fahrrad zur Schule oder zur Arbeit. Dann wurden es immer weniger. Jetzt werden es wieder mehr, erzählt Patrick d´Haese: Weil es in der Stadt schneller ist, weil das Benzin so teuer geworden ist, weil es der Gesundheit gut tut. Er selber ist seit Jahren nicht mehr richtig krank gewesen. Und Spaß macht ihm seine tägliche Tour zu dem auch noch. Der Fahrradlobbyist meidet allerdings die direkten Wege, denn die sind für Autofahrer zwar schnell, für Radfahrer aber vor allem gefährlich. Einmal raus aus Waasmunster, führt ihn sein Weg eine gute Viertelstunde quer durch die Felder, vorbei an Kohl, Rüben und Salat.

    "Das hat was von Urlaub, nicht? Der Vorteil beim Radfahren ist, dass man sozialen Kontakt hat. Im Auto fährt man aneinander vorbei, auf dem Rad grüßt man sich."

    An diesem Morgen sind nicht viele Leute mit dem Fahrrad unterwegs zwischen Waasmunster und Lokeren., Aber es sind deutlich mehr als in Brüssel oder im französischsprachigen Landesteil Belgiens, der Wallonie. Den Beamten und Politikern dort fehlt oft jedes Grundverständnis für Sicherheit und die Bedürfnisse von Radfahrern, hat Patrick d´Haese bei seiner Lobbyarbeit erfahren. Sie sind anders als die meisten Flamen noch nicht mal als Kinder Rad gefahren. Und deshalb, so glaubt der Fahrradlobbyist, sind Fahrradfahrer auf dem Weg zur Arbeit steuerlich immer noch schlechter gestellt als Autofahrer: Belgiens Finanzminister Didier Reynders kommt aus der Gegend um Lüttich und wurde noch nie auf einem Fahrrad gesehen.

    "Premierminister Verhofstadt ist vor ein paar Jahren in einem Kreisverkehr angefahren worden, da hat er am eigenen Leib erfahren, dass man es als Radfahrer nicht immer leicht hat und dass man investieren muss in die Sicherheit von Radfahrern, etwa sichere Radwege anlegen muss. Das hilft schon, wenn Politiker sich regelmäßig auf den Sattel schwingen."

    In Belgien ist allen Radrennfahrer-Legenden zum Trotz das Auto der wirkliche König. Deshalb kämpft die Fahrradlobby auch nicht gegen das Auto, das hält Patrick d´Haese für zwecklos und für falsch. Er und seine Leute vom Fietsersbond setzen sich statt dessen dafür ein, dass die Fahrradfahrer ihren Raum im Straßenverkehr bekommen: Sichere Wege und Übergänge, gute Beschilderung, viele und gesicherte Fahrradabstellplätze. So wie es zum Beispiel in Lokeren schon der Fall ist.

    "Wir sind da!"

    Vor dem Bahnhof in Lokeren stehen hunderte von Fahrrädern. Hinter dem Bahnhof noch einmal fast genauso viele, unter einem Dach gut geschützt vor Regen. Dafür haben der Fietsersbond und sein Vorsitzender gesorgt:

    "Das ist ein neuer Fahrradparkplatz, der vor drei Jahren gebaut wurde, mit Dach, Beleuchtung und Videobewachung. Vom Bahnhof aus kann man den Parkplatz überwachen. So muss ein Fahrradabstellplatz aussehen: Überdacht, komfortabel, und bewacht."

    Fahrradlobbyist d´Haese schließt sein Fahrrad am Bahnhof mit einer extra langen Kette an Vorderrad und Rahmen fest: Fahrräder werden in Flandern immer beliebter, auch bei Dieben. Als er die Schlüssel in den Aktenkoffer legt, fällt ihm noch etwas ein:

    "Ich habe hier in meinem Aktenkoffer immer Regenjacke und Regenhose dabei. Aber es regnet nur sehr selten. Leute, die so oft Fahrrad fahren wie ich, die können das bestätigen. Es sieht schon die ganze Zeit schwer nach Regen aus, aber wir haben auf der ganzen Strecke hierher keinen Tropfen abbekommen. Es regnet viel seltener, als die meisten Menschen annehmen."

    Literatur: Walter Rottiers, Treffpunkt Tresen, Covadonga Verlag Bielefeld 2004