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Ein Treffen mit dem toten Großvater

Einer Behauptung wie: 'Irren ist menschlich' kann man getrost beipflichten, denn das der Mensch während seines Lebens oft genug fehl geht, ist hinlänglich bekannt. Andere Erfahrungen hat Günter Kunert sicherlich auch nicht gemacht, und dennoch widerspricht er mit dem Titel seines neuen Erzählungsbandes dieser Erkenntnis mit einiger Vehemenz: Irrtum ausgeschlossen heißt sein Band, der 25 Erzählungen vereint, darunter sechs bisher unveröffentlichte.

Von Michael Opitz | 16.08.2006
    Da schert sich einer nicht um jene Worte, die der Geheime Rat dem Herren im Prolog zu seinem Faust in den Mund gelegt hat: "Es irrt der Mensch so lang er strebt!" Kunert hingegen erweckt den Eindruck, ihm ginge es nicht um Irrtümer, sondern um Wahrheiten, die kein Wenn und Aber dulden würden. Das nun wiederum verwundert, denn unbezweifelbare Tatsachen haben Kunert, der kein philosophischer Scharlatan, sondern eher ein erkenntnisfördernder Pessimist ist, bisher weniger interessiert. Wie der Titel gefunden wurde, ist denn auch eher simpel:

    " Ich hab's mit Titeln nicht so sehr. Ich muss gestehen, es war der Vorschlag meines Lektors und den habe ich akzeptiert, weil er sehr gut ist."

    Die Titelgeschichte des Erzählungsbandes berichtet von einem Ereignis, dem ein tatsächlicher Irrtum zugrunde liegen würde, denn es kann nicht stimmen, dass der Enkel seinem vor längerer Zeit verstorbenem Großvater mehrfach in einem Antiquariat begegnet ist. Entgegen dem, was wahrscheinlich wäre, ist der Enkel aber überzeugt davon, dass er sich diese Wiedersehen mit dem Todgeglaubten nicht eingebildet hätte - sie haben seiner Meinung nach wirklich stattgefunden. Die Entschiedenheit, mit der er das behauptet, überzeugt schließlich auch den Erzähler, sodass dieser von jedem relativierenden Einspruch absieht und nicht zu bedenken gibt, dass das, was der Enkel erzählt, pure Einbildung ist.

    " Natürlich kann man seinen toten Großvater nicht treffen, das ist ziemlich ausgeschlossen. Aber der Erzähler hier möchte diese Illusion, also den Irrtum des Enkels, nicht zerstören. Er möchte ihm diese Fiktion erhalten, weil sie ihm offenkundig lebensnotwendig für diesen Enkel erscheint. Und so bekennt er sich dann dazu, dass dieser Irrtum ausgeschlossen ist. Weil der Enkel so fest daran glaubt, dass dieser Glaube schon fast Wahrheit genannt werden kann.

    Und da alle Geschichten sich mehr oder minder um die Identität von Personen drehen, ihre eigene Ungewissheit oder in Ungewissheiten gestürzt werden, ist dieser Titel dieser Geschichte, natürlich absolut ironisch gemeint und auch als Buchtitel ironisch, denn Irrtümer sind ja das durchaus Übliche in unserem Leben. Also, da doch ein großer Teil der Geschichten Grotesken sind, mehr oder minder satirisch, ist der Titel entsprechend diesen Grotesken und teilweise komischen Geschichten.

    Es sind alles Varianten oder Versionen menschlichen Irrens, die manchmal dazu führen, das die Figur verunsichert ist und sich zwangsläufig verändert, vielleicht zu sich selber findet oder zum Teil zu sich selber findet, zum Teil aber eben den Irrtum akzeptiert und annimmt wie in der Titelgeschichte zum Beispiel. Aber das sind alles Stationen - wie gesagt - des menschlichen Irrens."

    In der Erzählung Der Hai spricht vieles gegen einen Überlebenden einer Schiffskatastrophe. Nach seiner Rettung stellt sich heraus, dass noch eine zweite Person im Rettungsboot war und es stellt sich die Frage, was mit diesem Mann passiert ist. Der gerettete Miller behauptet, sein Freund sei über Bord gegangen und wäre von einem Hai gefressen worden. Es finden sich nur wenige in der Stadt, die diese Version glauben. Als sich aber die Frau des auf so mysteriöse Weise verschwunden Kameraden in den verliebt, der eventuell, auf welche Weise auch immer, Schuld am Tod ihres Mannes hat, melden sich die Zweifler und Mahner.

    Doch Miller kann sich auf seine Geliebte verlassen. Sie hält zu ihm: "Jetzt liebe ich dich. Wer war der Schatten, der Harry hieß? Wer das belebte Fleisch bei dir im Boot? Sein einziges Verdienst, dass es dich überleben ließ. Für mich." Dieses Bekenntnis ist eindeutig. Es schließt jeden Zweifel aus. Aber es schwingt in dem Geständnis auch ein leises Zweifel mit, der verhindert, dass die beiden zusammenkommen, obwohl sie in ihrer Liebe zueinander nicht irren.

    " Ich muss immer wieder Brecht zitieren, der ja gesagt hat: "Woran arbeiten sie? Ich bereite meinen nächsten Irrtum vor!"

    Merkwürdigerweise ist es ja manchmal so, dass gerade besonders große Mühe auch die besonders großen Irrtümer erzeugen. Ich will jetzt gar nicht in die Politik abschweifen - das geht auch Schriftstellern so, dass die Mühe um einen Text, beispielsweise um ein Gedicht, das man immer wieder überarbeitet, am Ende dazu führt, dass man es eigentlich zerstört hat. Man hat eine Riesenarbeit investiert in einen kleinen Text um ihn immer präziser zu machen, weiter zu führen und am Ende hat man ihn entleert und ausgelaugt, d.h. also, am Ende dieser Mühe steht etwas Irrtümliches, was am Anfang gar nicht geplant war. Aber so verlaufen sehr viele Dinge in unserem Dasein."

    Die Geschichten in dem Band sind werden durch ein feines Netz zusammengehalten. Kunert spielt in den Geschichten die Facetten menschlichen Irrens durch. Der ausgeschlossene Irrtum wird in der Erzählung Der Hai zur unterschwelligen Anklage, in Geschichte einer Neurose erweisen sich die Aktionen von Herrn Michaelis als vergebliche, wenn auch verständliche Irrungen, gegen erfahrenes Unrecht aufzubegehren; und in der Erzählung Wenn die Not am größten versucht die zentrale Figur einen Irrtum nicht aufzuklären. Sie gibt vor, jemand anderes zu sein und muss schließlich erfahren, dass sie sich mit diesem Rollentausch übernommen hat.

    " Es ist ja die Frage nach der Identität. Und insofern liegt der Irrtum immer nahe. Man glaubt oft, jemand zu sein, der man realer Weise doch gar nicht ist. Und insofern sind diese Geschichten Geschichten nach Identitätssuche - auf Irrtümer stoßend oder von Irrtümern ausgehend. Das ist ein Komplex, der natürlich zusammengehört. Die Verunsicherung der Figuren, die sich für etwas anderes gehalten haben, also geirrt haben, als sie dann plötzlich erkennen mussten."

    Günter Kunert, der 1950 mit Wegschilder und Mauerninschriften debütierte, gestattet in der ersten und der letzten Geschichte des Bandes Einblick in seiner Dichterwerkstatt. Er erzählt in Rekonstruktionsversuch eines fernen Augenblicks davon, wie sich nach dem Krieg ein jemand anschickt, ein Dichter zu werden und beschreibt in Selbstporträt im Gegenlicht, wie dieser jemand weiterhin ausdauernd Papier beschreibt, das dabei eine Metamorphose erfährt und so zu einem Kunert wird. Für mitteilenswert hält Kunert nicht das, was allgemein für wesentlich gehalten wird, Lebensdaten, Kragenweite, Hutgröße, Schuhnummer, Gewohnheiten und Vorlieben, sondern ihn interessiert als zentrales Thema seiner literarischen Arbeit die Suche nach der eigenen Identität.
    " Es ist eigentlich immer mein Thema gewesen, nicht nur in den Geschichten, auch in Hörspielen, in denen das Thema immer wieder auftaucht und variiert wird. Also, mir geht es nach dem Spruch von Benn: Jeder Dichter schreibt fünf Gedichte, immer die gleichen. So ist man - ungewollt und unbewusst - Themen verhaftet, die man sich erschrieben hat. Und man bewegt sich in diesem, vielleicht engen Themenkreis am besten, weil sie einem - jetzt sage ich ein großes Wort - seelisch am nächsten sind. Und insofern steckt hinter der Verbindung all dieser Geschichten, der unterirdischen, kein Plan, sondern es ist eben jede Geschichte Ausdruck dieser auch eigenen Unsicherheit und der Frage nach der Identität: Wer bin ich denn eigentlich? Viele Leute fragen sich das gar nicht erst, andere verzweifeln darüber. Ich bin nicht verzweifelt, aber es ist eine Grundfrage dieses merkwürdigen homo sapiens in einer so auch obskuren Welt. Wir sind ja im Grunde doch alle in dieser Zivilisation bis zu einem gewissen Grade alle zu Kunstgebilden geworden und haben viel von unserer Natürlichkeit eingebüßt - physisch und psychisch. Und das ist eben etwas, was mich sehr bewegt, weil ich es selber kenne und spüre."