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Ein Tropfen Blut genügt

Fast jeder Mensch trägt Gendefekte in sich. Dass diese nicht automatisch zu einer Krankheit führen liegt daran, dass es in unserem Erbgut immer zwei Versionen von einem Gen gibt und sich die gesunde durchsetzt. Gefährlich für den Nachwuchs kann es werden, wenn der Partner genau denselben Gendefekt für dieselbe Erbkrankheit in sich trägt.

Von Marieke Degen | 17.01.2011
    Christiane Benson ist fröhliches Mädchen mit dunkelblondem Haar und blauen Augen. Im Internet kann man Videos von ihr anschauen: Christiane in einem Schmetterlingskostüm oder auf der Schaukel. Sie will Lehrerin werden, sagt sie in die Kamera. Doch dieser Traum wird wohl nie in Erfüllung gehen. Christiane leidet an einer seltenen Erbkrankheit, der Vogt-Spielmeyer-Stock-Krankheit, kurz VSS.

    "Die Erkrankung wurde im März 2008 bei ihr diagnostiziert, damals war sich acht. Sie hatte auf einmal Probleme mit dem Sehen. Inzwischen ist sie so gut wie blind. Sie geht zwar immer noch in die Schule - ihre Eltern möchten, dass sie ein ganz normales Leben führt - aber sie haben mir auch gesagt: Christiane erinnert sich nicht mehr an das, was sie in der Schule gelernt hat."

    Stephen Kingsmore arbeitet am Children's Mercy Hospital in Kansas City. Er ist Spezialist für Erbkrankheiten, und er weiß: Christianes geistige und körperliche Fähigkeiten werden immer weiter abbauen. Wahrscheinlich wird sie noch vor ihrem 18. Geburtstag sterben. Die Vogt-Spielmeyer-Stock-Krankheit ist eine rezessive Erbkrankheit.

    Das bedeutet: Christianes Eltern haben beide einen Gendefekt, der die Krankheit auslösen kann. Davon haben sie nichts gewusst, die Eltern selbst sind gesund. Es gibt nämlich immer zwei Versionen von einem Gen im Erbgut. Bei Christianes Eltern ist die zweite Version normal und dominant, sie setzt sich gegenüber dem defekten Gen durch, und deshalb bricht die Krankheit nicht aus. Christiane hat von ihren Eltern aber nur die beiden defekten Gene geerbt und ist an VSS erkrankt. Es gibt mehr als 1000 solcher rezessiv vererbbaren Krankheiten, zum Beispiel auch Mukoviszidose und eine Form von Muskelschwund. Viele davon sind extrem selten, und viele sind nicht heilbar.

    Christianes Vater leitet selbst eine Biotech-Firma. Er wollte etwas unternehmen. Also hat er einen Wohltätigkeitsorganisation gegründet und viel Geld gesammelt. Er hat sich zwei Ziele gesetzt: Erstens: einen Weg zu finden, die Krankheit seiner Tochter zu behandeln. Zweitens: all diese rezessiven Erbkrankheiten zu vernichten.

    Die Erbkrankheiten ein für allemal loswerden: Deshalb hat sich Christianes Vater an Stephen Kingsmore gewandt. Der Forscher sollte einen Gentest entwickeln, mit dem Paare vorab feststellen können, welche krankhafte Mutationen sie in ihrem Erbgut tragen. Eigentlich sind solche Tests nichts neues. Für viele Krankheiten gibt es sie schon seit Jahren, zum Beispiel für Mukoviszidose. Doch der Test von Stephen Kingsmore sprengt alle Dimensionen. Er kann das Erbgut der Eltern nach fast 600 Erbkrankheiten gleichzeitig durchforsten. Eine einzige Blutprobe reicht dafür aus.

    "Wir haben den Test an 104 Menschen ausprobiert. Bei den meisten war vorher schon bekannt, dass sie bestimmte krankhafte Mutationen in ihrem Erbgut haben – aber wir mussten ja überprüfen, ob unser Test wirklich funktioniert und die Mutationen auch alle findet. Und er hat funktioniert, mit einer Genauigkeit von 99,98 Prozent, und sogar noch andere Defekte aufgespürt."

    Mitte 2011 soll der Gentest im Rahmen eines Forschungsprogramms weiter erprobt werden – möglicherweise an der Berliner Charité. Es könnte sein, dass solche Tests bald schon zum klinischen Alltag gehören. Und das sei für alle, für Patienten und Fachleute, eine völlig neue Situation, sagt Peter Propping, Professor für Humangenetik an der Universität Bonn.

    "Wenn beide Eltern mischerbig sind für Mutationen im selben Gen, dann haben sie ein Risiko von 25 Prozent, dass ihre Kinder betroffen sind. Sie könnten daraus folgende Schlüsse ziehen: Sie könnten auf Kinder verzichten, sie könnten das Risiko auch eingehen, sie könnten auch eine vorgeburtliche Untersuchung durchführen auf diese Krankheit und im ungünstigsten Fall diese Schwangerschaft auch abbrechen, sie könnten im Extremen auch eine Präimplantationsdiagnostik durchführen, um diese betreffende Krankheit zu vermeiden."

    Die Paare müssen im Zweifelsfall also eine sehr schwierige Entscheidung treffen. Aber es gibt noch ein anderes Problem. Der Test kann zwar 600 Erbkrankheiten aufspüren. Aber:

    "Manche dieser genetischen Krankheiten sind sehr wohl behandelbar, und eigentlich gibt es dann keinen Grund, beunruhigt zu sein. Noch ein weiterer Gesichtspunkt darf nicht vergessen werden: Wenn solche Tests im größeren Stil angewendet werden, wird es wenig Motivation geben, Therapieforschung für diese Krankheiten zu betreiben, weil man ja einfach sagt, man könnte diese Krankheiten ja durch dieses jetzt neue Verfahren verhindern."

    Stephen Kingsmore sagt: Jedes Paar wird für sich selbst entscheiden müssen, ob es so einen Test machen möchte oder nicht. Wichtig ist, dass es sich dabei von Fachleuten beraten lässt.