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Ein Typ mit Ecken und Kanten

Der Theologe und Politiker Friedrich Naumann war ein Mann mit liberalen Grundsätzen. Sein größter Verdienst war die Zusammenführung verschiedener liberaler Strömungen in die Fortschrittliche Einheitspartei, die FVP.

Von Hartmut Goege | 25.03.2010
    "Naumanns geschichtliches Bild ist für das Bewusstsein der Deutschen noch nicht geprägt. Sein Lebensweg war hitzig umkämpft. Da er in keine vorhandene Typensammlung passte, musste er anecken, und er musste sich daran gewöhnen, dass das Misstrauen der Rechten und die Selbstsicherheit der marxistischen Linken sich in dem mitleidsvollen Urteil begegneten, dass er ein 'Schwärmer' sei."

    So beschrieb Theodor Heuss seinen politischen Weggefährten Friedrich Naumann 1924, fünf Jahre nach dessen Tod. Naumann hatte 1919 den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war er zum Vorsitzenden der neuen liberalen Deutschen Demokratischen Partei, DDP, gewählt worden und saß im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung. Nur vier Wochen nach seiner Wahl aber starb der gerade 59-Jährige durch einen Schlaganfall.

    Bekannt geworden war der evangelische Theologe Friedrich Naumann vor allem durch zahlreiche Veröffentlichungen während der Kaiserzeit, in denen er für soziale Reformen eintrat:

    "Der Ausgangspunkt meiner politischen Gedanken ist die Sozialpolitik. Ich gehöre zu denen, die vom Rhythmus der Arbeiterbewegung erfasst wurden und denen die Lehre von Marx viele neue Gesichtspunkte gab. Ich hätte zur Sozialdemokratie gehen können, wenn diese für die nationale Macht des Deutschtums Verständnis gezeigt hätte."

    Naumann war durch das Wilhelminische Zeitalter geprägt und stellte den Machtanspruch der Monarchie nicht in Frage.

    Geboren wurde das älteste von acht Geschwistern in der Nähe von Leipzig. Als er mit 19 Jahren sein Theologiestudium begann, folgte Naumann der Tradition des Elternhauses. Schon Vater und Großvater waren Pfarrer gewesen. Doch die Funktion der Kirche, die sich, wie er fand, nur auf das Seelenheil und die sonntägliche Erbauung beschränkte, war Naumann bald zu wenig.

    "In demselben Grad, in welchem ich mich in die Bibel hineinlebe und in kirchlicher Erziehungspraxis stehe, werden mir Organisation und Lehrformen der Kirche gleichgültig. ... Wenn ich über heilige Dinge nachdenke, sind diese Gedanken gewiss ebensoweit entfernt von lutherischer Schultheologie wie von reformierter."

    Als Pfarrer in Langenberg hatte er die Sorgen der sächsischen Industriearbeiter kennengelernt. In seinem Buch Arbeiterkatechismus oder der wahre Sozialismus forderte er für sie mehr Rechte und Freiheiten. Sein seelsorgerisches Engagement trat zusehends in den Hintergrund. Auch beeinflusste ihn der Soziologe Max Weber. Mit ihm gründete er 1896 den Nationalsozialen Verein: Eine klassenübergreifende Partei, die für Demokratie und ein "soziales Kaisertum" eintrat. Naumanns Ideal war eine liberale Gemeinschaft, in der sich auch die Arbeiter für die Großmachtpolitik des Kaiserreichs begeistern sollten. Seine Vorstellungen gipfelten 1915 während des Krieges in seinem umstrittenen Buch Mitteleuropa: Darin beschreibt er die Visionen einer Wirtschaftsordnung mit Österreich-Ungarn, Polen und den Balkanstaaten: Eine Art "liberaler Imperialismus", der die deutsche Führungsrolle hinter der geografischen Bezeichnung kaschieren sollte:

    "Das noch nicht historisch verbrauchte Wort ‚Mitteleuropa’ hat den Vorzug, dass es keine konfessionelle oder nationale Färbung mit sich bringt und darum nicht von vornherein Gefühlswiderstände weckt."

    In dieser Beschwichtigungs-Absicht ließ Naumann das Buch während des Krieges gleichzeitig in englischer und französischer Sprache in London und Paris erscheinen. Theodor Heuss 1924 dazu:

    "Es ist ein seltsames Nebeneinander von Rationalem und von Phantasie, Wirtschaftsgeschichte und Volkspsychologie, Nüchternheit und Pathos. Seine Wirkung war außerordentlich; das Missverständnis aber konnte ihm nicht erspart bleiben, dass es in England und Frankreich als Zeugnis des deutschen Imperialismus verbreitet wurde."

    Letztendlich scheiterte Naumann mit seinem Anspruch, für ein sozial-liberales Bündnis alle Gesellschaftsschichten ins Boot zu holen. Er fand weder unter der Arbeiterschaft noch im Großbürgertum genügend Anhänger, ganz zu schweigen davon, dass Kaiser Wilhelm II. von Demokratie nichts wissen wollte. Naumanns politischer Erfolg beschränkte sich auf die Zusammenführung aller linksliberalen Gruppen, aus denen 1910 die Fortschrittliche Einheitspartei, die FVP entstand. Als 1958 die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit gegründet wurde, sollten mit Naumanns Namen vor allem dessen liberale Grundsätze gewürdigt werden. Die FDP-nahe Bildungseinrichtung verfolgt seit über 50 Jahren für alle gesellschaftlichen Bereiche das Kernziel: Freiheit in Menschenwürde.