Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Ein Tyrann als Namensgeber

Der Bau der dritten Bosporusbrücke in Istanbul spaltet die Türkei. Die alevitische Minderheit des Landes ist entsetzt über den Namensgeber des Projekts: Sultan Selim I., ein Sunnit, war vor rund 500 Jahren brutal gegen die Aleviten vorgegangen.

Von Luise Sammann | 03.06.2013
    Eine schönere Kulisse hätte sich Abdullah Gül nicht aussuchen können: Die Sonne strahlt über Istanbul, lässt den Bosporus postkartengleich glitzern. Ein paar bunte Fischerboote schaukeln in der Flussmitte, Möwen kreisen lautlos darüber. Tausende Istanbuler jubeln, als ihr Staatspräsident schließlich ans Mikrofon tritt:

    "Der Name der dritten Bosporusbrücke wird Yavuz-Sultan-Selim-Brücke sein","

    verkündet er strahlend an genau dem Ort, an dem bis 2015 eine der längsten Brücken der Welt entstehen soll.

    ""Wir haben diesen Namen gewählt, um diesem großartigen Sultan unseren Dank zu zeigen, der das Osmanische Reich in alle Richtungen vergrößert hat, der großartige Eroberungen eingefahren und zahlreiche islamische Relikte nach Istanbul geholt hat."

    Bis in den Abend zieht sich die Feier am Bosporusufer. Bands spielen, es wird gepicknickt und getanzt. Doch nicht für alle Istanbuler ist die neue Brücke und vor allem deren Name ein Grund zum Feiern.

    "Yavuz Selim Sultan ist dafür bekannt, das größte Massaker der Geschichte an den Aleviten begangen zu haben","

    sagt Feti Bölükgiray, Vorsitzender einer der größten Aleviten-Organisationen von Istanbul. Ausgerechnet diesen Sultan zum Namensgeber des Megaprojekts zu machen, ist für ihn und die etwa 20 Millionen Aleviten in der Türkei ein Schlag ins Gesicht.

    ""Genau jetzt, da der Nahe Osten im Krieg versinkt und an der türkisch-syrischen Grenze ein Konflikt zwischen Sunniten und Aleviten geschürt wird, geben sie dieser Brücke einen Namen, der die Aleviten ganz bewusst verletzen soll! Das ist eine ganz bewusste politische Entscheidung! Sie wissen genauso gut wie wir, woran der Name Yavuz Sultan Selim uns Aleviten erinnert."

    Tatsächlich ist die Diskussion um Sultan Selim "den Grausamen" – wie er schon zu Lebzeiten vor gut 500 Jahren genannt wurde – alles andere als ein Geheimnis in der Türkei: Als strenger Sunnit ging Selim hart gegen sämtliche Schiiten im Osmanischen Reich vor. 40.000 Aleviten soll er außerdem umbringen haben lassen, als die sich gegen ihn auflehnen wollten.

    So jedenfalls sehen es Feti Bölükgiray und seine in der Türkei nach wie vor nicht als Minderheit anerkannte Glaubensgemeinschaft.

    Die offizielle türkische Geschichtsschreibung dagegen verehrt Yavuz Sultan Selim, weil er in wenigen Jahren beinahe die gesamte arabische Halbinsel unterwarf, weil er das Kalifat ins Osmanische Reich holte, genauso wie zahlreiche islamische Reliquien – darunter einige Barthaare des Propheten Mohammed, die bis heute am Bosporus bewahrt und verehrt werden. Für die Regierung Erdogan, die sich gern in die Tradition ihrer osmanischen Vorfahren stellt, ist er damit ein unbestreitbarer Held.

    "Die stolze Berufung auf die Osmanen ist in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Wir sehen das überall: in Schulbüchern, Medien und Fernsehserien","

    erklärt die Soziologin Nilüfer Narli von der Istanbuler Bahcesehir-Universität den Grund, warum es unbedingt ein osmanischer Sultan sein muss, der der dritten Bosporusbrücke ihren Namen gibt.

    ""Die türkische Republik durchlebt schwere Zeiten. Lange litten wir unter Unterentwicklung und Armut. Daraus hat sich eine Art Trotzhaltung entwickelt. Viele Türken denken heute: Unsere osmanischen Großväter sprachen zahlreiche Sprachen und bestimmten die Weltpolitik mit, sie lebten in großartigen Palästen. Das ist etwas, worauf man stolz sein kann."

    36 osmanische Sultane hätte die Regierung von Ministerpräsident Erdogan zur Auswahl gehabt, um der neuen Brücke einen gebührenden Namen zu verleihen. Unter ihnen zum Beispiel Süleyman der Prächtige – auch "der Gesetzgebende" genannt – bekannt für seine weisen und gerechten Entscheidungen.

    Dass es jedoch ausgerechnet Sultan Selim "der Grausame" sein musste, erscheint deshalb umso mehr wie eine gezielte Provokation. Ganz gleich, ob das Massaker an den Aleviten historisch belegt ist oder nicht: ‚Allein die Diskussion darüber, hätte ihn bei der Auswahl disqualifizieren müssen, um den religiösen Frieden in der Türkei zu wahren‘, kritisiert Aleviten-Vertreter Feti Bölükgiray.

    "Hier geht es am Ende nicht um einen Brückennamen, sondern um eine Botschaft an uns Aleviten: Aus religiöser Sicht sind wir Bürger zweiter Klasse. Erste Wahl ist in diesem Staat der sunnitische Islam."