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Ein Volk als Experte des Boulevards

Die Masse an Meinungen von professionellen bis semi-professionellen Medienmatadoren zum Kachelmann-Prozess sprach aus der Echokammer der eigenen Sexulafantasmen, meint Burkhard Müller-Ullrich. Von Dominanz und Unterwerfung bis hin zu persönlichen Enttäuschungen und Konflikten zum Geschlechterkampf - alles vertraute Themen.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 31.05.2011
    Unter dem vielen, das wir nicht wissen können, gibt es manches, bei dem wir uns mit unserem Nichtwissen nicht abfinden können. Die Vorgänge im Schlafzimmer von Jörg Kachelmanns Ex-Freundin, die zu seiner Verhaftung, zum Ruin seiner Karriere und einem ansonsten ergebnislosen Strafprozess führten, sind zweifellos von dieser Art. Kein Gerichtsverfahren in jüngerer Geschichte hat solches Aufsehen erregt, und es ist zu kurz gegriffen, wenn man als Grund hierfür allein die Prominenz des Angeklagten annimmt. Es geht vielmehr um die Anklage selber, deren Fragwürdigkeit uns deswegen so sehr beschäftigt, weil sie nicht nur mit der Vorstellung banaler Gewaltanwendung, sondern auch mit erotischem Kopfkino verbunden ist.

    Jeder, der sich bisher zu dem Fall geäußert hat, von den meinungsführenden Medienmatadoren bis zu Kollegen im Büro, Nachbarn im Treppenhaus und Freunden in der Kneipe, sprach aus der Echokammer seiner eigenen Sexualphantasmen. Denn die Tatsachen ließen sich ja nicht ermitteln, und selbst der Gerichtssaal wurde durch Ausschluss der Öffentlichkeit in einen Darkroom verwandelt. So diente die aufgeschäumte Berichterstattung über den Prozess als sozialpsychologische Projektionsfläche, auf der jeder darstellen konnte, was ihm gemäß seinem erotischen Erfahrungsschatz denkbar schien. Und so explodierten vor allem die Internetforen unserer Leitmedien von einer Masse an Meinungen und Mutmaßungen, die den enormen Wandel des Stellenwerts und der Erscheinungsformen von Sexualität in unserer Gesellschaft illustrieren.

    Das populäre Interesse an der Causa Kachelmann beruht eben nicht auf dem klassischen Reiz einer Schmuddelstory, die man aus sicherer Lesedistanz mit lustvoller moralischer Entrüstung verfolgt, sondern darauf, dass hier Themen ausagiert wurden, mit denen ein Großteil des Publikums durchaus vertraut ist: die Integration von Dominanz und Unterwerfung ins Liebesspiel, die Anstachelung der Lust durch trickreiches Organisieren von Parallelbeziehungen, das Ausarten persönlicher Enttäuschungen und Konflikte zum Geschlechterkampf.

    Letzterer wurde durch den Einsatz von Alice Schwarzer als Berichterstatterin der Bild-Zeitung gewissermaßen nachinszeniert, und zwar auf eine so brachiale Weise, dass viele Männer sich als putative Kachelmänner fühlten und die nicht ganz abwegige Vorstellung vom lügengestützten Rachefeldzug einer frustrierten Frau akkreditierten - ein zwar dramaturgisch platter Plot, der aber unleugbar auf einer stattfindenden Machtverlagerung im Rechtssystem beruht. Schließlich war dies das eigentliche Hauptthema dieses Prozesses, nämlich die heikle Problematik der Glaubwürdigkeit von Vergewaltigungsopfern.

    Auch hier lässt sich eine tief greifende gesellschaftliche Entwicklung feststellen, und zwar von einer Missachtung der Frauen durch die Justiz zu einem Missbrauch der Justiz durch die Frauen, was sich zum Beispiel in den USA in dem beachtlichen Zulauf äußert, den die "False Rape Society" bei zu Unrecht angeklagten Männern findet. Dieser rechtspolitische Hintergrund, der sich gleichermaßen in der Maßlosigkeit der schwedischen Staatsanwaltschaft gegenüber Julian Assange, der New Yorker gegenüber Dominique Strauss-Kahn und der Mannheimer gegenüber Jörg Kachelmann zeigt, bildet schließlich den dritten Angelpunkt des öffentlichen Interesses, das die Medien ausnahmsweise nicht selbst anheizen mussten. Denn die viel apostrofierte Betroffenheit des Publikums - hier war sie wahrhaftig gegeben.