Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Ein Wagner-Roman, der keiner ist

Der französische Schriftsteller Elémir Bourges gehört zu den vergessenen Schriftstellern der Wende zum 20. Jahrhundert. Bereits sein erster Roman "Götterdämmerung" wurde ein großer Erfolg. Doch Leser sollten sich vom Titel nicht irreführen lassen. Denn Wagner spielt bei Bourges nur eine Nebenrolle.

Von Dina Netz | 14.10.2013
    Klären wir zunächst mal die Label-Frage: Der Verlag kündigt "Götterdämmerung" als "Wagner-Roman" an, druckt sogar ein Bild des Komponisten auf dem Titel. Aber "Götterdämmerung" ist kein Wagner-Roman, wie Albert Gier in seinem Nachwort auch erläutert: Bei Wagner hat Bourges sich den Titel geliehen und einige Motive: den Untergang eines Herrschergeschlechts, die Geschwisterliebe. Aber Bourges kannte wahrscheinlich nur wenig von Wagners Musik, im Roman hat der Komponist nur zwei kurze Auftritte – die Assoziation zum Jubilar ist eher lose.

    Der französische Schriftsteller Elémir Bourges gehört zu den vergessenen Schriftstellern der Wende zum 20. Jahrhundert. Bereits sein erster Roman "Götterdämmerung" wurde ein großer Erfolg. Doch Leser sollten sich vom Titel nicht irreführen lassen. Denn Wagner spielt in Bourges Roman nur eine Nebenrolle.

    Streichen wir also das sicherlich werbewirksame Etikett "Wagner-Roman" und kommen zu der Frage, was für ein Buch "Götterdämmerung" denn dann ist. Antwort: Elémir Bourges war ein Schriftsteller des Fin de Siècle, der Décadence. Und all deren Motive blühen in "Götterdämmerung" in voller Schönheit: Prunksucht, Weltekel, Untergangsangst.

    Im Zentrum steht Karl von Este, Herzog von Blankenburg, Letzter des Welfengeschlechts. Bourges hat in ihm Züge des Bayernkönigs Ludwig II. und Karls II., Herzog zu Braunschweig-Lüneburg, vermischt. Der Roman setzt ein mit Karls Geburtstagsfeier 1866. Sie wird von Krieg überschattet: Karl hatte sich im Krieg zwischen Preußen und Österreich auf die Seite Österreichs geschlagen – und nun vertreiben die Preußen ihn aus seiner Heimat. Am Vorabend der Katastrophe aber feiert Karl noch einmal ein rauschendes Fest:

    "Eine verschwenderische Lichterpracht erhellte den vergoldeten Saal. Überall schillerten Edelsteine, Satin, prunkvoller Zierrat. Diamanten schleuderten ihr Feuer in alle Richtungen, bemalte Fächer bewegten sich, Unmengen von Bändern in Orange oder Himmelblau, den Farben der Welfen und des Cheval-Blanc, hoben sich von den schwarzen Uniformen ab; und die in den Logen des ersten Ranges wie Perlen aufgereihten Frauen, halb nackt, herausgeputzt, mit hochgetürmten Frisuren, stellten ringsherum Busen, Schultern und prachtvolle Haut zur Schau. Es war die Zeit der Volants, der silbern paillettierten Gaze, der Veilchen- und Myosotisschals; an laubverzierten Ketten um die Taillen hingen kleine Renaissancespiegel; viele Frauen hielten Kameliensträuße in der Hand; und so stiegen die vier symmetrisch aufgebauten Logenreihen in zarten Farben schillernd an, bis zu der rosa und weiß gestrichenen Decke, auf der Apollo inmitten fülliger Göttinnen-Körper thronte. Am Hof ging das Gerücht, dass Herzog Karl für den nackten Gott selbst Modell gestanden habe. (S. 21 f.)

    Bei diesem Fest hat auch Richard Wagner einen seiner Auftritte im Buch – der Herzog hat ihn vom Bayernkönig "ausgeliehen", aber das Konzert mit Werken des Komponisten muss abgebrochen werden, weil die Preußen im Herzogtum einmarschieren. Karl von Este hat gerade noch Zeit, Wagner nach dem Titel des letzten "Ring"-Teils zu fragen - "Götterdämmerung", der Name wird prophetisch werden. Der Herzog flieht nach Paris und tut, als sei nichts gewesen, frönt seinem extravaganten Lebensstil wie zuvor. Ein absolutistischer Herrscher, der regiert, als habe es die Revolutionen von 1789 und 1848 nicht gegeben. Ein lächerlicher Anachronismus, der sich ganz dem Luxus und seinen Launen hingibt und sich dennoch zu Tode langweilt, dem an seinem Sittich mehr liegt als an seinen Kindern – Bourges blickt staunend-angewidert auf diesen Herzog Karl. Er lebt in einem Schlangennest, umgibt sich mit Günstlingen und Schleimern und ist blind für die Gefahren, die von den Intriganten in seinem Umfeld ausgehen.

    Die Sängerin Giulia Belcredi bringt ihn allein um drei seiner fünf Kinder – begierig, selbst das Erbe anzutreten. Die Geschwister Hans Ulrich und Christiane, die in einer Art unschuldiger Kinderliebe verbunden sind, treibt sie in die Inzest-Enge, bis Hans Ulrich sich erschießt und Christiane ins Kloster geht. Und mit dem Sohn Otto beginnt sie eine Affäre, die natürlich auch nicht gut endet. Auch die anderen Kinder verliert Karl: Die jüngste Tochter erliegt einer Nervenkrankheit, ein anderer Sohn verfällt dem Glücksspiel und muss untertauchen.

    Am Schluss wohnt Karl von Este der Uraufführung von Wagners "Götterdämmerung" bei – als alter, kranker Mann, der voller Abscheu für die Emporkömmlinge um ihn herum ist. Besonders übel bekommen es die Juden ab – Elémir Bourges hatte, wie viele seiner Zeitgenossen, antisemitische Ansichten. So distanziert Bourges den Herzog sonst betrachtet: In diesem Schlusskapitel blicken sie eindeutig gemeinsam angewidert auf das neue Premierenpublikum aus dem Volk.

    Elémir Bourges' Erzählstil ist fast so ausschweifend wie Herzog Karls Lebenswandel. Vielleicht ist das weit ausgreifende Erzählen ja auch eine formale Referenz an Wagner. Für heutige Lesegewohnheiten hätten's ruhig 100 Seiten weniger sein dürfen; aber die Üppigkeit gehörte eben auch zur Dekadenz, und die drastische Bildlichkeit ist beeindruckend. Die Personenbeschreibungen sind plastisch, wie Gemälde; so "malt" Bourges den Fürstensohn Otto:

    "Seine Rasereien nahmen kein Ende mehr; ein solcher Taumel an Perversität erstaunte selbst Karl von Este. An einer dunklen Stelle im Wald hätte man Angst vor ihm bekommen, vor seiner Leichenblässe, seinen scheelen und wilden Blicken und dem erschreckenden Tick, andauernd den Kopf nach vorne zu werfen, als wolle er seinen Dämon erbrechen. Allnächtlich las man Otto auf und trug ihn sturzbetrunken zu Bett; dann gegen Mittag, wenn er erwachte, folgte ein äußerst seltsames Defilee von Zuhältern, Gaunern, Kupplern, nach Moschus stinkenden Matronen, schmutzigen Bärten, Kutschern." (S. 212 f.)

    Psychologie ist Bourges' Sache nicht. Die leidenschaftliche Liebe, der Otto und die Sängerin Belcredi plötzlich verfallen, erscheint bei ihren egozentrischen Charakteren ziemlich unwahrscheinlich. Aber die Schilderung der Stimmung, des Lebensgefühls des Fin de Siècle ist Elémir Bourges meisterlich gelungen.

    Wie gut also doch, dass auch ein bisschen Wagner vorkommt. Sonst wäre dieser fulminante Roman vielleicht immer noch nicht auf Deutsch zu lesen.

    Elémir Bourges: "Götterdämmerung". Aus dem Französischen von Alexandra Beilharz, Nachwort von Albert Gier, Manesse Bibliothek der Weltliteratur, 474 Seiten, 24,95 Euro