Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Ein Werk aus einem Guss

Von Leidenschaft und Einsamkeit, zwei gegensätzlichen Gefühlen, erzählt der Roman "Solitud", der 1905 erschien. Er ist Frauen-, Bauern- und Liebesroman zugleich, ein Liebesroman allerdings, in dem die Liebe nicht gelebt und Sexualität nur einmal - als Vergewaltigung - vollzogen werden kann.

Von Alain Claude Sulzer | 01.02.2008
    "Das Leben", so Victor Catala alias Caterina Albert i Paradis, "schäumt und sprudelt über jede Form hinaus." Trotzdem hat die Frau, die sich als Schriftstellerin in Katalanien einen männlichen Namen gab, für ihren Roman "Solitud" einen Rahmen gefunden, in den auch paßte, was leicht hätte überkochen können. Von Leidenschaft und Einsamkeit, zwei gegensätzlichen Gefühlen, erzählt dieser Roman, der 1905 erschien; davon in allen Ausprägungen und Schattierungen handelt er. Er ist Frauen-, Bauern- und Liebesroman zugleich, ein Liebesroman allerdings, in dem die Liebe nicht gelebt und Sexualität nur einmal - als Vergewaltigung - vollzogen werden kann. Der verzehrend große Rest ist Sehnsucht und Verlangen, enttäuschte Liebe und verpaßtes Leben, all das Unvollständige, was eine unglückliche Frau nicht nur in einer rückständigen ruralen Gesellschaft vor hundert Jahren zu erwarten hatte, sofern sie sich nicht in ihr Schicksal fügte.

    Caterina Albert i Paradis wurde 1869 in dem nordkatalanischen Küstenort L'Escala geboren und starb dort 1966 im Alter von sechsundneunzig Jahren, nachdem sie ihr Leben von ihrem achtzigsten Lebensjahr an vornehmlich im Bett verbracht hatte. Sie, der Stricken keinen Spaß machte, die nur selten spazieren ging und sich fast nirgends auskannte, wie sie 1926 in einem Interview bekannte, veröffentlichte 1902 - also im Alter von 32 Jahren - ihren ersten Erzählband, dem 1904, 1930 und 1950 weitere folgten. Sie war also, entgegen dem, was der Klappentext suggeriert, unter Franco, der die katalanische Sprache zu Beginn seiner Diktatur offiziell verbieten ließ, keineswegs verstummt, und schon gar nicht seinetwegen.

    Der nun auf Deutsch vorliegende Roman "Solitud" entstand als Auftragsarbeit für die Zeitschrift "Joventud", eine Tatsache, die der Autorin Anlass zur Unzufriedenheit gab; unverständlicherweise, denn auf keiner Seite ist es, was sie sich vorwarf, nämlich die Arbeit eines "Journalisten, der weder über Genie noch Handwerkszeug, noch Leidenschaft, noch Geschickt verfügt." Das Gegenteil ist der Fall. Diese "von einem Tag zum nächsten entstandene Arbeit", die "mit fliegender Feder" geschrieben wurde, während nebenher noch die kranke Mutter versorgt werden musste, ist - gleichgültig unter welchen widrigen Umständen sie entstand - ein Meisterwerk ohne Makel, ein Werk aus einem Guss; Hitze und Kälte sind denn auch die elementaren Temperaturen, zwischen denen dieser Roman und seine Heldin schwanken; sengende Sonne und leidenschaftlicher Sturm prägen die karge (sowohl geographische als auch psychische) Landschaft, in der sie sich bewegt.

    Hier zu leben ist Mila gezwungen, eine junge Frau, die ihrem Mann in eine abgelegene Einsiedelei folgt, die sie als Hausmeister zu bewirtschaften haben. Wenn sie auch sonst vom Leben noch nicht viel weiß, eines hat Mila spätestens dann begriffen, als der Roman über ihrem beschwerlichen Aufstieg zur Einsiedelei anhebt: Sie liebt ihren Mann nicht; dass er impotent ist, verschweigt sie sich nicht; dass sie es nicht tut, und mit welcher bezwingenden Selbstverständlichkeit Victor Catala davon erzählt, zeugt vom Mut der Autorin und zeigt, dass ihre Heldin sich auch künftig nichts vormachen wird.

    Wir kommen einer jungen Frau ganz nah. Das ist es, was dem über hundertjährigen Buch die Frische, Jugend und Modernität erhalten hat. Die Autorin rückt Mila auf den Leib und schaut mit einem Dichtermikroskop in ihre Seele. Während draußen die Jahreszeiten wechseln, verändert sich mit jeder neuen Erkenntnis über ihre ausweglose Situation die Stimmung der Protagonistin. Erhöhte Empfindsamkeit ist nicht auf die höheren Stände beschränkt. Hysterie und Depression bedrängen Mila und drohen sie zu zerstören. Wäre da nicht ihr guter Hirte, der Schäfer und fantasievolle Geschichtenerzähler Gaieta, wer weiß, ob sie sich nicht längst das Leben genommen haben würde. Während sich ihr windiger Ehemann Matias im Verlauf des Romans unter dem Einfluss des zwielichtigen Landstreichers Anima vom Taugenichts zum haltlosen Spieler entwickelt, fühlt sie sich immer stärker zu Gaieta hingezogen. Ist er, ein Witwer ungewissen Alters, nicht der einzige, der ihr geben könnte, was Matias ihr nicht geben kann und was sie, in einem Augenblick hingebungsvoller Sinnlichkeit, auf den Lippen eines Lämmchens spürt? Ein Lämmchen, dessen "weiches Mäulchen ihre Lippen berührte und sie mit einem süßen, fast menschlichen Atem anhauchte. (Dessen) Blick so tumb wie der ihres Gatten (war), doch welche Sanftheit, welche unvergleichliche Zärtlichkeit lag darin!"

    Ein Lämmchen kann man streicheln, doch es antwortet nicht. Wohin den Blick also wenden? Wohin als zu Gaeta, der Mila jenes Verständnis entgegenbringt, das ihr die anderen vorenthalten. Während eines langen gemeinsamen Spaziergangs im Gebirge glaubt sie, seine Liebe zu spüren, auch sein Verlangen nach ihrem Körper, und Victor Catala schildert ihre Erregung als ein unendliches Vorspiel zu einem Akt, der nicht vollzogen werden wird. Die Autorin schildert unverblümt, was sehnlich erhofft und gewünscht, aber aus Gründen des Anstands nicht ausgeführt werden darf.

    Denn: "...die Würfel waren gefallen, und was ihr Lebensglück hätte werden können, wäre es ihr zu rechten Zeit begegnet, konnte jetzt nur noch Verfehlung, Sünde, Niedertracht sein. (...) Aufgrund welcher Ungereimtheiten des Schicksals war heute etwas verwerflich, das gestern noch die natürlichste und heiligste Sache der Welt gewesen wäre? (...) Die gesunde, offenherzige Erfüllung ihrer Liebe würde ihr versagt bleiben, und die heimliche Lust, das erschlichene Glück waren sündhafte Wonnen, unvereinbar mit ihrem Gewissen..."

    Ja, unvereinbar mit ihrem Gewissen, aber doch Bestandteil ihrer Existenz, in der Sexualität mindestens soviel Gewicht hat wie Glück. Sie begegnet der Versuchung, einmal in ihrem Leben befriedigt zu werden, mit einem schäbigen Trick, den Catala - wir schreiben das Jahr l905! - mit geradezu psychoanalytischer Schärfe demontiert. Als Gaieta Mila mitteilt, dass er bereits vierundsechzig sei, versetzt ihr das einen "dermaßen harten Schlag", dass sie ihm zunächst keinen Glauben schenken will.

    "'Daher die Tugendhaftigkeit! Daher die Gelassenheit! Daher die Ausgeglichenheit...! Sie rang die Hände im Schoß, dass die Gelenke knackten. 'Vierundsechzig! Was für einem grotesken Irrtum sie aufgesessen war... '"

    So also schiebt sie ihrem Verlangen einen Riegel vor, der ihre heimlichen Wünschen verdrängen soll. Sie zieht sich aus dem, was eine Affäre werden könnte, weil eine Affäre völlig undenkbar ist, indem sie nach einem Strohhalm greift, der sie nicht retten kann.

    Nachdem ihr ein letztes schreckliches Unrecht zugefügt wird, geht sie. Sie verlässt den Berg, die Einsiedelei, ihren Mann, die Konventionen, die ihr bisheriges Leben bestimmten. Wir wissen nicht, was aus ihr wird. Ihr Schritt ins Ungewisse ist eine Folge dessen, was bis dahin geschah. Victor Catala alias Caterina Albert i Paradis hat diese schmerzlichen Erfahrungen auf unbeschreiblich treffende Weise beschrieben.

    Victor Català. Solitud. Roman. Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann.
    379 S. Schirmer Graf 2007