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Ein Werk mit Schönheitsfehlern

Nancy Huston wurde 1953 im kanadischen Calgary geboren. Sie zog mit ihrer Familie nach Amerika, studierte in New York und Paris. 1973 ging sie nach Paris, wo sie seither lebt. Als Schriftstellerin hat Nancy Huston eine ungewöhnliche Karriere vorzuweisen: Ihre Muttersprache ist Englisch, doch ihre ersten neun Bücher schrieb sie in Französisch. Ihr neues Buch "Ein winziger Makel" ist ein kompliziert konstruierter Generationenroman.

Von Beate Berger | 16.04.2008
    Der neue Roman von Nancy Huston beginnt im Jahr 2004. Der sechsjährige Solomon, der in wohlbehüteten Verhältnissen im sonnigen Kalifornien aufwächst, erzählt, womit er sich so den lieben langen Tag lang beschäftigt. Erwachsenen gegenüber mimt er den Musterknaben, doch sobald sich die Gelegenheit ergibt, surft er heimlich im Internet. Da er schon vor seiner Einschulung lesen und schreiben gelernt hat, fällt es ihm nicht schwer, gezielt, nach allem zu suchen, was Kinder lieber nicht sehen sollten. Das bleibt nicht ohne Folgen:

    Nach dem Kindergarten gehe ich mit meinen Playmobilfiguren unter die Veranda und staple sie zu Pyramiden auf wie in Abu Ghraib und schließe sie an den elektrischen Strom an und zwinge sie, sich gegenseitig keuchend und stoßend in den Arsch zu ficken, während ich sie auslache wie Lynndie England.

    Gewieft googelt sich der Kleine rund um den Erdball, doch seine naheliegenden Fragen bleiben offen: Warum ist seine Großmutter Sadie so schwierig und warum ist es der Urgroßmutter so dringend, nach Deutschland zu fliegen? Unerklärlich ist auch Solomons Aversion gegen alles Arabische. Darin kommt er ganz auf seinen Vater Randall, der im zweiten Teil des Romans im Jahr 1982 das Wort ergreift. An dieser Stelle wird dem Leser das Konstruktionsprinzip des Romans klar. Die Autorin erzählt diese Familiengeschichte aus der Rückschau und portraitiert jede Generation stellvertretend mit den Augen eines sechsjährigen Kindes.

    Randall, der Vater von Solomon, kommt aus New York. Er ist ein eher schüchterner Junge, der unter den Spannungen zwischen dem kunstsinnigen Vater und der rastlosen intellektuellen Mutter Sadie leidet. Diese konvertiert zum Judentum und zieht ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse von Mann und Kind nach Israel, um sich auf die Suche nach ihren familiären Wurzeln zu machen. Die Ursache ihrer Getriebenheit ist im dritten Kapitel zu erfahren, in dem sie als kleines Mädchen ihre Sicht der Dinge darlegt. Am Schluss des Romans ist die Stimme von Solomons Urgroßmutter Kristina zu hören, die später als Sängerin weltberühmt werden wird.

    Die vier Romanhelden haben ganz unterschiedliche Temperamente und Schicksale, doch eines verbindet sie schon rein äußerlich: ein Muttermal. Im Grunde ist das bloß "ein winziger Makel", wie es auch der deutsche Buchtitel suggeriert, doch im Laufe des Romangeschehens wird das Mal zum Symbol für ein Familientrauma, das von Generation zu Generation unbewusst weitergereicht wird. Am Anfang, das heißt am Ende des Romans, steht die im Jahr 1938 geborene Kristina. Sie ist die Erste, die dem kleinen Schönheitsfehler symbolische Bedeutung beimisst:

    Ein paar Tage gehen dahin. Ich schwebe. Gewöhnlich meinen die Leute, wenn sie sagen, sie schweben, dass das Glück sie leicht macht, aber bei mir ist es umgekehrt, es ist das Unglück, das mich leicht macht, wie ein Nebelfetzen, kurz davor, von der Sonne verbrannt zu werden. Ich streichle mein Muttermal, wenn niemand hinsieht, aber das lindert nicht den Schmerz tief in meinem Innern. Von wem habe ich mein Muttermal?

    Auf diese Frage wird Kristina zeitlebens keine genaue Antwort erhalten. Sie wächst während des Zweiten Weltkriegs in einer deutschen Familie auf und entdeckt per Zufall, dass sie ein Adoptivkind ist, das ursprünglich aus der Ukraine stammt. Was sie nicht weiß: Sie wurde ihren Eltern im Zuge eines nationalsozialistischen Lebensbornprogramms gewaltsam entrissen. Nach Kriegsende wiederholt sich dieser Alptraum: Das Mädchen muss seine deutsche Familie verlassen, wird nach Kanada verschickt, wo es abermals eine Adoption über sich ergehen lassen muss.

    Kristinas Lebensweg markiert die Bruchstelle, von der alle weiteren familiären Verwerfungen ausgehen. Risse in der Erdrinde werden im Englischen "fault lines" genannt, im Französischen spricht man von "lignes de faille". Nancy Huston hat die geologische Begrifflichkeit mit Bedacht als Titel für die englische und französische Ausgabe ihres Romans gewählt:

    "Ich hielt das geologische Bild der Verwerfungen für passend, denn eine solche geologische Störzone kann Erdbeben auslösen. Man weiß jedoch nie genau, in welche Richtung sich der Falz entwickeln wird, wie sich die Erde spalten wird."

    In Frankreich wurde "Ein winziger Makel" mit dem renommierten Prix Femina preisgekrönt und stand wochenlang in den vorderen Rängen der Bestsellerlisten. Offenbar goutierte die französische Leserschaft sowohl die komplexe, mosaikartige Erzählweise als auch die ironischen und gesellschaftskritischen Botschaften des Romans. In Amerika indessen dauerte es ungewöhnlich lange, bis das Buch einen Verlag fand, was vor allem an den schockierenden amerika-kritischen Anfangspassagen gelegen haben mag.

    Das Kapitel über den altklugen Sol ist in der Tat die Schwachstelle des Romans. Während die übrigen Erzählerfiguren glaubwürdig und sympathisch erscheinen, wirkt der kleine Internetjunkie eher wie eine überfrachtete Karikatur.

    "Ein winziger Makel" ist zwar ein Werk mit Schönheitsfehlern - doch insgesamt ist es ein solide erzählter Generationenroman, der an eine historische Tatsache heranführt, über die allgemein wenig bekannt ist. Während des 2. Weltkrieges entführten die Nationalsozialisten aus den besetzten Gebieten in Osteuropa systematisch Tausende von Kindern, um sie als Nachwuchs im Deutschen Reich einzubürgen. Selten konnten diese Kinder nach Kriegsende in ihre Heimatländer zurückgebracht werden, denn ihre Dokumente waren perfekt gefälscht und die Spuren ihrer Herkunft gründlich verwischt. Nancy Huston ließ das Thema aus mehren Gründen nicht mehr los:
    "Jedes Buch braucht mehrere Inspirationsquellen. Eine alleine reicht nicht. Es ist, wie beim Aneinanderreiben von Stöcken. Man braucht mindestens zwei Stöcke, um ein Feuer zu entfachen. Und einer der Stöcke war definitiv das Buch von Gitta Sereny: Das deutsche Trauma. Darin habe ich zum ersten Mal von dem Programm erfahren, das Hitler und Himmler 1944 gestartet hatten, um die deutschen Kriegs-Verluste wettzumachen. Es hat mich entsetzt, zu erfahren, dass 250.000 Kinder damals entführt worden waren. Sie wurden einfach so aus dem Armen ihrer Mütter gerissen oder auf dem Schulweg gekidnappt."

    Hinzu kam dann, dass ich mir schon sehr lange gewünscht hatte, einmal mit Kinderstimmen zu arbeiten. Ich arbeite meistens mit Stimmen und es war mir klar, dass dieses Buch unbedingt aus der Perspektive von Kindern erzählt werden musste. Ich wollte das unbedingt versuchen. Das Schreiben selbst war aber eine ziemlich harte Erfahrung.

    Sich über Monate hinweg in eine kindliche Weltsicht zurückzuversetzen, nahm Nancy Huston sehr mit. Geradezu körperlich wurde ihr bewusst, wie schutzlos Kinder sind. Ein bloßer Zufall ist es vermutlich nicht, dass sich die Autorin dieser seelischen Zeitreise freiwillig aussetzte, hatte sie doch selbst als Sechsjährige die Scheidung ihrer Eltern und den Auszug ihrer Mutter verkraften müssen.

    Verlust- und Fremdheitserfahrungen, Fragen nach den unentbehrlichen Eckpfeilern menschlicher Identität durchziehen das gesamte Werk von Nancy Huston wie ein roter Faden. Während ihrer Arbeit an diesem Roman machte sie eine ebenso erstaunliche wie versöhnliche Entdeckung:

    "Ich denke, wir alle kultivieren ein bestimmtes Bild unserer Kindheit, das sich irgendwann verfestigt. Wann immer wir danach gefragt werden, fördern wir genau dieses eine Bild zutage. Und wir glauben dann auch, dass wir als Kind genau so waren. Doch ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir uns genauer mit unserer Kindheit beschäftigen würden, feststellen könnten, dass wir eigentlich viele Kindheiten in uns tragen. Jeder von uns."

    Nancy Huston ist ein künstlerisches Multitalent. Sie ist eine begabte Cembalospielerin und steht hin und wieder auch als Schauspielerin auf der Bühne. All diese Begabungen nutzt sie bewusst beim Schreiben. Sie komponiert ihre Texte wie Musikstücke und liest sich die Texte, wenn sie fertig sind, immer laut vor, um zu prüfen, wie sie klingen. Das Schreiben, sagt sie, sei ihr die kostbarste aller Künste, wenngleich sie wohl auch die schwierigste ist:

    "Wenn das Schreiben leicht wäre, dann wäre es auch eine sehr oberflächliche Angelegenheit - schließlich lässt man eine Welt aus dem Nichts erstehen. Und dafür gibt es keinerlei Spielregeln. Die muss man bei jedem Buch immer wieder aufs Neue erfinden. Man kann sich nicht einfach immer wiederholen. Und jedes Mal zweifelt man daran, ob man die Kraft haben wird. Es ist so, als wäre man Gott. Man muss ein Universum erschaffen, das die Leute gerne betreten, das sie glaubwürdig finden und wichtig. Man wünscht sich, dass sie die Figuren lieben und ihre Probleme auch ernst nehmen. Also man spürt einen enormen Verantwortungsdruck und oft hat man das Gefühl, dass man der Herausforderung unmöglich gewachsen sein wird."

    Wann immer Nancy Huston ein neues Buch beginnt, stellt sich für sie die Frage, ob sie es in ihrer englischen Muttersprache verfasst oder ob sie es auf Französisch schreibt. Das ist bemerkenswert, denn die kanadische Schriftstellerin wurde mit der französischen Sprache erst im Erwachsenenalter gründlich vertraut, als sie 1973 zum Studium nach Paris kam.

    Nancy Huston muss sich damals rasch heimisch gefühlt haben, denn schon im Jahr 1981 erschien ihr erster Roman "Les Variations de Goldberg" in französischer Sprache. Von da an wurde der fliegende Sprachenwechsel für sie zur literarischen Routine. Erst die fremde Sprache, erklärt sie, habe es ihr ermöglicht, alle einschüchternden englischen Literaturgötter hinter sich zu lassen und ihre eigene Stimme als Schriftstellerin zu finden.

    "Es hat mir das Gefühl der Freiheit vermittelt, einen neuen Sprachraum zu betreten, sozusagen ein jungfräuliches Territorium, das weder mit der Kindheit, noch mit dem Akademischen zu tun hatte. Beides kann sich ja verheerend auf das Selbstbewusstsein auswirken. Ich glaube, dass jeder, der ernsthaft schreiben will, so tun muss, als schriebe er in einer Fremdsprache, denn man kann die Sprache nicht benutzen wie im Alltag. Wörter sind schnell dahingesagt, heißt es doch, billig. - Beim Schreiben müssen sie zu Edelsteinen werden."

    Nancy Huston: Ein winziger Makel
    Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller und Claudia Steinitz
    Reinbek: Rowohlt 2008