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"Ein Zimmermann wird sich bucklig lachen"

Arno Schmidt beschrieb die Welt seiner Zeit detailliert, packte mit seiner ansteckenden Geisteshaltung seine Leser. Dabei waren dem Autor gerade die Fakten sehr wichtig, aus denen er dann Geschichten entwarf. Diese sammelte er akribisch in einem Zettelkasten.

Von Ulrich Baron | 28.04.2013
    "Ein paar Worte zur Einführung. Was ist im dritten Jahrhundert vor Christi das äußere Weltbild? Ein schmaler Rand von Ländern um das Becken des Mittelmeers. Im Süden brennt die Wüste bis fast an das blaue Wasser. Unbewohnbar ist sie vor Hitze. Hier sind keine Zweifel. Im Osten fragt man sich durch bis Babylon, bis Indien. Ein großes Meer im Westen ist bekannt. Aber der Norden? Da sollen Leute wohnen mit Ziegenfüßen, die schlafen sechs Monde lang und kein Mensch weiß, wie es dort aussieht. Kein Mensch ... "

    Kein Mensch ... Das war dem Mann, der da Anfang 1956 einen prägnanten Überblick des antiken Weltbildes gab, besonders beachtenswert, denn Menschen gab es für seinen Geschmack viel zu viele. Arno Schmidt war deshalb nicht leicht vor ein Mikrofon und schon gar nicht vor ein größeres Publikum zu bekommen. So dokumentiert diese Aufzeichnung von seiner Lesung aus dem Waldschülerheim Schönberg im Taunus dann die große Ausnahme im Leben dieses scheuen, ja menschenfeindlichen Autors.

    Doch obwohl der größte Teil der Menschheit ihm leibhaftig niemals nahekommen konnte, ist er seinen Lesern doch nähergekommen, als die meisten Autoren der Nachkriegszeit. Schmidts Ich-Erzähler tragen allesamt Züge ihres Schöpfers, teilen mit ihm Lebensgeschichte, Wissen, Vorlieben und Antipathien. Und ihre Geisteshaltung ist ansteckend. Obwohl er in seinen späteren Jahren vor seinen Zettelkästen wie das Urbild des solitären Stubengelehrten wirkte, hat Arno Schmidt in seinen frühen Werken doch ein Bild seiner Zeit entworfen, dessen Detailreichtum seinesgleichen sucht. In wechselnden literarischen Inkarnationen war er Heimatvertriebener, Kriegsheimkehrer, Umsiedler der Gegenwart, war er antiker Geograf, Gnostiker und letzter Mann auf einer entvölkerten Erde.

    Während andere Denker über die Unvereinbarkeit der beiden Kulturen von Natur- und Geisteswissenschaften räsonierten, konnte Arno Schmidt über einer Logarithmentafel, einer Statistik, einem Messtischblatt so zuverlässig ins Träumen geraten wie über den Büchern des Romantikers Friedrich Heinrich Karl Baron de la La Motte Fouqué, dem er eine Biografie und etliche Zitate in seinen eigenen Werken gewidmet hat.

    So bedingungslos er sich der Kunst und der reinen Wissenschaft verschrieben hatte, war er in seinen literarischen Gedankenspielen doch auch ein moderner, handfester Robinson, der auf der von einem Atomkrieg entvölkerten Erde ein letztes Haus erbaute. Und so genau er seine Geschichten mit Orts- und Zeitangaben versah, so präzise beschrieb er dabei auch die Balkenkonstruktion dieses Domizils, deren Vollendung mit einem so feierlichen wie selbstironischen Richtfest gewürdigt wird:

    "Ein Zimmermann hätte sich bucklig gelacht, aber das Gerüst stand. Und fest auch; ich war genügend drin herumgeturnt."

    Die Selbstironie gilt hier wohl nicht nur dem als Handwerker herumturnenden Alter Ego Schmidts, sondern ein wenig auch seiner eigenen selbstherrlichen Rolle als literarischer Demiurg, als universell gebildeter Erbauer und Bewohner von Wortwelten. Zwischen aparten Bildungsschätzen, apodiktischen Urteilen und erbarmungslosen Bannflüchen gegen Gott und dessen missratene Welt samt Bewohnern scheint bei Arno Schmidt auch Unsicherheit durch - die Unsicherheit eines hochbegabten Mannes aus einfachen Verhältnissen, der nie gelernt hat, sich in "guter Gesellschaft" richtig zu benehmen.

    Die Unsicherheit eines manischen, autodidaktischen Lesers, der sich einen eigenen Olymp geschaffen hatte, dessen Bewohner nicht Goethe und Schiller, sondern Wieland und Fouqué hießen, nicht Faulkner und Hemingway, sondern Poe und Cooper. Wer sich so selbstherrlich gegen Kanon und Zeitgeist wandte wie Schmidt, hatte nur die Wahl zwischen Konfrontation und Flucht. Sein Frühwerk verbindet beides. Nachdem er 1956 mit dem Gestus des umfassend gebildeten Polyhistors kurz das antike Weltbild umrissen hatte, las Arno Schmidt seine Erzählung "Gadir oder Erkenne Dich selbst".

    Darin entkommt der greise Pytheas von Massilia aus dem Kerker von Gadir in einen Fluchttraum, der seine letzten Kräfte aufzehrt. Als Matrose verkleidet, hatte der antike Geograf vor Jahrzehnten auf phönizischen Schiffen angeheuert, um die Welt jenseits der Säulen des Herakles zu erkunden. Schließlich war er entdeckt und zu lebenslanger Haft in Gadir, dem heutigen Cadiz, verurteilt worden.

    Pytheas von Massilia und seine Entdeckungsfahrten hat es wirklich gegeben, doch die Werke, die er verfasst hat, sind so fragmentarisch überliefert wie seine Lebenszeugnisse. Dass die Phönizier ihn als Spion enttarnt und für mehr als ein halbes Jahrhundert eingekerkert hätten, war eine Vermutung Schmidts, die er literarisch plausibel zu machen wusste. Herodot hatte er gelesen und noch weit mehr, aber seine historische Erzählung war weniger die Kurzfassung eines Professorenromans als vielmehr die literarische Fantasie eines umfassend, aber autodidaktisch gebildeten ehemaligen Lagerbuchhalters.

    Aus dem Gedankenstrom des sterbenden Greises erwächst auch ein Selbstporträt des Dichters als junger Mann. Hinter dem dort recht unantikisch "Gryphius, Massilia, Berufs- und Sportkleidung" benannten Laden, an den sich Pytheas in seiner Zelle erinnert, verbergen sich die Greiff-Werke im schlesischen Lauban, in denen Schmidt nach seinem Abitur von 1934 bis zu seiner Einberufung im Jahre 1940 als kaufmännischer Angestellter gearbeitet hatte. Und wenn sich Pytheas an die finstere Küche seiner Kindheit in Massilia mit den Eltern am Holztisch erinnert und an die Soldatenflüche seines Vaters, so scheint dabei unverkennbar jene Wohnung durch, in der Schmidt seine ersten 14 Lebensjahre verbrachte.

    Geboren am 18. Januar 1914 in Hamburg-Hamm, wuchs Arno Schmidt zwischen den Baugruben eines Neubauviertels auf, in dem vom Flair der Hansestadt nichts zu spüren und von freier Natur nichts zu sehen war. Eine Wohnküche war sein erster Lebensmittelpunkt. Und dass er kurzsichtig war, wurde erst bemerkt, als er 1920 eingeschult wurde. Da aber hatte Arno, zusammen mit seiner knapp drei Jahre älteren Schwester Luzie, längst schon Lesen gelernt.

    Die Literatur erschien ihm rasch wirklicher als die stumpfe Realität. Was er auf dem kahlen Balkon angesichts der Wildnis eines vernachlässigten Blumenkastens, was er in der winterlichen Wohnküche schon geahnt hatte, wenn sich deren bereifte Scheiben in Gärten voller Eisblumen verwandelten, war keine bloße Einbildung. Man konnte davon auch lesen!

    Warum musste man sich der Welt der Erwachsenen aussetzen, sich schmerzhaft an ihr reiben, wenn sie doch der schlechtere Teil der Wirklichkeit war? War die eigentliche Welt nicht voller Wunder, die man erfuhr, wenn man mit äußerem und innerem Auge zugleich zu sehen vermochte? Wenn man die Stimmen hörte, die aus brodelndem Wasser, aus knisterndem Feuer, aus dem Rauschen des Windes sprachen?
    "So wurde der Balkon zum Anfang seltsamer Flugträume, in denen man die gedämpft schreienden und scheltenden Eltern hinter sich ließ. Und mit wehenden Armen weit um die Häuserecken dicht über den menschenarmen nachtgrauen Straßen schräg nach unten glitt."

    Mit der Einschulung wuchs auch die Mobilität, weitete sich der Blick über Bahngeleise und schollige Felder bis ins fernste Blau, aus dem der Wind zauberfarbenes Laub vor sich her blies, raschelnd und wispernd. War überhaupt nicht jeder Windstoß "ein Wesen für sich, deren viele diesen großen rauschenden Vorort bewohnen mussten"?

    Aber anders, als ein anderer großer Träumer, der von ihm überhaupt nicht geschätzte Ernst Jünger, hatte Arno Schmidt mit der Schule nie ein Problem. Groß und kräftig, naturwissenschaftlich-mathematisch und musisch gleichermaßen begabt, zählte er stets zu den Klassenbesten, auch wenn er im Unterricht wohl nur halb anwesend war. Schulkameraden erinnern sich später an einen durchaus sympathischen Jungen, dem sie nicht wirklich nahegekommen sind.

    Während Arno Schmidt den Schulstoff mühelos aufsog, konnte er seinen Fantasien freien Lauf lassen. Ahnten seine Kameraden, ahnten die Erwachsenen in ihren steinernen Behausungen nichts davon, dass ihre Welt voller mess- und wiegbarer Dinge auf einem Ozean aus Unbegreiflichkeiten schwamm? Spürten sie nichts? Hörten sie nichts? Sahen sie nicht, was das Kind sah, wenn der stumpf-schwarz bedruckte Ziegel eines Briketts glühend im Ofen verging?

    "Feine rote Risse drangen von allen Seiten in ihn hinein. Und darüber am Außenrand lag schon eine blättrige, weiße Aschenschicht, aus der zuweilen noch lautlos winzige, bläuliche Flämmchen mit hellgelber Spitze blähten, wenn aus dem dunklen, unbekannten Berginnern die Gasströme stürzten."

    Der Rumpffsweg in Hamburg-Hamm wurde zum Startpunkt von Traumreisen, die von den technischen Fantasien eines Jules Verne ebenso beflügelt wurden wie von den Elementargeistern der Romantiker. Ein letzter Blick noch auf das zum Berg angewachsene Brikett, dann wanderte das innere Auge weiter:

    "Für einen Augenblick konnte man am Fuße der felshohen Wand stehen und tief in die wilden stumm glühenden Klüfte schauen; auch in roten felsigen Hochländern und funkelnden Sandwüsten wandern; oder behutsam Papierschiffchen auf ein noch schwarzes Stück Kohle setzen und mit vergehendem Herzen warten, bis das rote Meer lautlos an die verkohlenden Planken schlug, wehe der Zaubermannschaft."

    An der Rückenlehne eines Sofas verband ein fingerlanges Ende Zwirn eine Seilschaft aus Stecknadeln. An den Fenstern der noch nicht durchheizten Küche wuchsen Gärten aus Eisblumen, in denen sich die kindliche Fantasie verlief. Wen wundert es da, dass Bücher diesem Kind bald die Welt bedeuteten?

    Doch seit Mitte der 1920er-Jahre gab es auch noch ein anderes, längst nicht ausgereiftes Kind jener Zeit, das Arno Schmidt fortan begleiten und das ihm in den 1950er-Jahren vor allem dank Alfred Andersch sein Leben als freier Autor mitfinanzieren sollte: das Radio. Zwei Jahrzehnte später erinnerte sich eine seiner literarischen Inkarnationen der ersten Begegnung damit:

    "Nun, und da hatte er auf dem Tisch ein kleines technisches Gewirre: drahtumwickelte Spule, Detektor, ein Kupferdraht hing zur Antenne, Kopfhörer. Ich nahm die Hörer unbeholfen um die Kleinohren - da sang eine grillenfeine Geige: Heute noch seh' ich den Tisch und die blöde Decke darauf. Ganz leise zisterte die Musik aus der Norag."

    Die Norag, das war die in Hamburg-Billwerder gegründete Nordische Rundfunkgesellschaft AG. Als sie am 2. Mai 1924 ihren Sendebetrieb aufnahm, gab es zunächst nur 896 angemeldete Hörer. Der zehnjährige Arno zählte gewiss noch nicht zu ihnen, aber hier begann eine neue Ära - mit dem Klang einer grillenfeinen Geige, von einer Spule, einem Detektor und einer Antenne aus dem Äther gefischt: Magie der Technik.

    Arno Schmidt war nicht nur ein in die Hamburger Steinwüste hineingeborener Romantiker, sondern auch ein mathematisch begabter Träumer mit einem fotografisch anmutenden Gedächtnis. Fantasie und Exaktheit waren für ihn angesichts der Unzulänglichkeit unseres Erkenntnisapparates keine Gegensätze, doch für den Meister der Mondmetaphern gehörte es sich einfach, dass der Erdtrabant auch in einem Roman zur richtigen Zeit am richtigen Ort stand, um sein Silberlicht zu verströmen.

    Überhaupt haben Arno Schmidts literarische Inkarnationen allesamt eine "wahnsinnige Lust an Exaktem", an Daten, Flächeninhalten, Einwohnerzahlen, Grenzen, Tabellen, Karten. Er habe "die Gabe, über Statistiken wahnsinnig werden zu können", lässt er den Helden seines Romans "Das Steinerne Herz" sagen. Und das ausgerechnet angesichts einer staubtrockenen Reihe statistischer Jahrbücher, die den Ausdruck "Wissensdurst" zu verhöhnen scheint.

    Aber nein. Für Arno Schmidt bargen solche Faktensammlungen "Traumvorlagen"; waren "noch völlig unzerträumtes Material". Exakte Daten, Einfälle, Gedankensplitter und Momentaufnahmen nach der Natur waren die Mosaiksteinchen, die Schmidt im Gedächtnis und später auch in Zettelkästen sammelte, um daraus seine kleinen und großen literarischen Welten zusammenzusetzen. Was in Kindertagen auf dem Balkon begann, setzt sich fort, wenn Schmidts Alter ego in "Aus dem Leben eines Fauns" eine Landkarte aus der Franzosenzeit in die Hände fällt:

    "Das gehört mir. (Ganz kalt!) Ich! Ich bin der wahre Eigentümer, auf den diese Dinge seit hundert Jahren lauern! Bei Niemand außer mir ziehen sich die linden Grenzkolorite um mich. Niemand, außer mir, sieht hier an jenem Punkthaus: Die zwei jungen Stachelbeersträucher machten einander zerflüsterte Liebeserklärungen, dehnten dünne grüne Arme, zusammen, in ihre runke Nacht unterm Sternengestückel."

    Wo die Liebe aus mürbem Papier erblüht, ist der lineare Zeitverlauf aufgehoben. Schmidt sah die Zeit nicht als Linie, sondern als Ebene, auf der Wahrträume möglich waren. Einst und Jetzt sind bisweilen kurzgeschlossen. Und das nicht nur in der Fantasie des Ich-Erzählers Heinrich Düring, der das Dritte Reich als kleiner Beamter übersteht. Bei weiteren Forschungen entdeckt er Hinweise auf einen französischen Deserteur jener längst vergangenen Zeit und findet dessen verborgene Behausung. In dieser Hütte führt der moderne Faun fortan eine verborgene Zweitexistenz - dort, wo selbst die exaktesten Karten nur einen weißen Fleck aufweisen.

    Für den jungen Arno Schmidt hatte es solche Hütte nicht gegeben. Stattdessen gab es quälend lange Jahre als Buchhalter im Dritten Reich und als Soldat, in denen sich seine Menschenscheu bis zum Ekel gesteigert haben muss. Als er dann Ende 1945 aus britischer Kriegsgefangenschaft ins niedersächsische Cordingen entlassen wurde, hatte er nicht nur die produktivsten Jahre seines Lebens, sondern auch Heim und Bücher verloren.

    Vor dem Nichts stehend, entschied er sich für die Literatur. Auf dem Mühlenhof in Cordingen entstanden erste Veröffentlichungen wie "Leviathan" und "Gadir". "Brand's Haide" gab Schmidts materielles Elend jener Jahre wieder und erschien 1951 zusammen mit einer Erzählung, in der er der ganzen Menschheit den Garaus machte. "Schwarze Spiegel" geht auf ein längeres Gedankenspiel zurück, in das sich Arno Schmidt gerettet hatte, als man ihn 1945 zusammen mit anderen deutschen Kriegsgefangenen in einen Käfig pferchte.

    Ein Mann, allein auf dem Fahrrad, in lichterloser Nacht über eine zerbröckelnde Landstraße durch eine menschenleere Welt radelnd. Als Gefährten hat er nur den Mond über Wacholdersträuchern und den Wind, der ihm bisweilen spöttisch durch die Haare fährt. So beginnt diese Ein-Mann-Erzählung. Und wir müssen uns deren Helden wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

    "Es ist doch gut, dass mit all dem aufgeräumt wurde! Und wenn ich erst weg bin, wird der letzte Schandfleck verschwunden sein: Das Experiment Mensch, das stinkige, hat aufgehört!"

    Endlich allein, beinahe zumindest, zieht er wie Robinson mit zwei Flinten auf dem Rücken durch das entvölkerte Niedersachsen. Die Fantasie aus Schmidts Kriegsgefangenschaft hat nun eine reale Topografie bekommen: Walsrode, Düshorn, Kolonie Hünzingen. Doch obwohl seinem Helden und dessen Brechstange alle Paläste offen stünden, baut auch er sich selbst eine Hütte und bedauert darüber wieder einmal, eher Kopf- als Handarbeiter zu sein:

    "Wehe dem Manne, der nicht wenigstens zehn Mal in seinem Leben bereut hat, dass er kein Tischler wurde! Oder der sich beim Anblick eines neuen Nagels der Vorstellung von appetitlich zubereitetem Holz und kleinklobigem Hammer enthalten kann!"

    Aber auch, wenn ein echter Handwerker sich bucklig gelacht hätte, steht am Ende nicht nur das Gerüst, sondern das ganze Haus. Mag sein Erbauer auch kein perfekter Zimmermann sein, so ist er doch der beste, den es noch gibt, weil er ja der einzige ist. Zehn mal fünf Meter misst jenes Häuschen am Waldrand, von dem Arno Schmidt selbst Anfang der 1950er-Jahre nur träumen konnte.

    Aber dieses Haus muss hier sein. Es muss mit eigenen Händen erbaut werden, um zu beweisen, dass auch ein Kopfarbeiter so etwas zustande bringt - dass er niemanden braucht, weil er alles zu machen versteht. Und bald ist dieses Haus auch beseelt, das heißt mit Büchern und Bildern versehen, die sein Held aus den Bibliotheken, Antiquariaten und Museen Hamburgs requiriert hat.

    Doch dieser Held ist ein durchaus rechtschaffener Mann - er nimmt sich nur das, was das Dritte Reich seinem Autor vorenthalten, was der Krieg Arno Schmidt genommen hatte - seine Freiheit, seine Bücher, sein Heim. Und um das zu bekräftigen schickt sein Autor ihn zu einer Autopsie, bei der der arme Poet Schmidt in seiner kärglichen Behausung posthum in Augenschein genommen wird:

    "Ein Bett mit Bretterboden, ohne Kissen und Federbetten, bloß fünf Decken. Ein zerwetzter Schreibtisch, darauf 20 zusammengelaufene Bücher in Wellpappkartons als Regälchen; ein zersprungener winziger Herd ... Papier in den Schüben, Manuskripte; "Massenbach kämpft um Europa", "Das Haus in der Holetschkagasse"; ergo ein literarischer Hungerleider, Schmidt hatte er sich geschimpft. Allerdings lange Knochen: Musste mindestens seine sechs Fuß gehabt haben."

    So also sah sie aus, die Basis, auf der Arno Schmidt 1946 mit dem Bau seiner Wörterwelten beginnen wollte. Und so imaginierte sich Arno Schmidt in "Schwarze Spiegel" nicht nur ein Überleben nach, sondern auch seinen Tod im Dritten Weltkrieg. Und erweist sich selbst ironische Reverenz, indem er sein literarisches Alter Ego vor den Knochen salutieren und erwägen lässt, den Schädel dieses Hungerleiders bei sich aufzustellen. Doch er braucht den Platz ja für die Bücher. So bleibt Schmidt hier intakt, aber unbestattet, während seine Inkarnation sich dem Hausbau widmet und durch Wälder streift, auf dem Rad, mit dem Fernglas, in der Fantasie und ganz im Einvernehmen mit James Fenimore Coopers "Lederstrumpf" Natty Bumppo:

    "Im Glas sah man sogar die primitive Leiter des Hochstandes genau. Und ich träumte mich einen Augenblick hinauf, wo der Wind Haut und Haar glatt strich, weit umher nur die glänzenden einsamen Wipfel; Natty hatte schon recht: Wälder sind das schönste! Und ich war erst Anfang Vierzig; wenn Alles gut ging, konnte ich noch lange über die menschenleere Erde schweifen: Ich brauchte Niemanden!"

    Doch so rabiat sich Arno Schmidt "das Experiment Mensch, das stinkige" vom Leibe wünschte, so akribisch hat er dessen Gegenwart festgehalten, die Gärten und Straßen, albernen Schlager und banalen Gespräche, die Rundfunkmeldungen, Essensmarken und Wurstbuden, Straßen- und Ladenschilder, Karten und Messtischblätter, an denen sich auch noch der letzte Mensch orientiert. Schroff, aber dünnhäutig hielt Schmidt auch das fest, was ihn abstieß. So sind seine Werke voll von Beschreibungen, wie übel riechend, schmeckend, aussehend und tönend die goldenen 50er-Jahre waren.

    Und ein echter Robinson Crusoe wird sein literarisches Alter Ego nie. So sehr Schmidt die Natur liebte, so sehr widerte Landarbeit ihn an. Zur Einrichtung eines Kartoffelfelds muss sein Held in "Schwarze Spiegel" sich zwingen, obwohl neben Günter Grass kein zweiter deutscher Nachkriegsschriftsteller die Kartoffel so in den Himmel gelobt hat wie der jahrelang unterernährte Arno Schmidt. In "Brand's Haide" erwächst aus einer ausnahmsweise einmal gut gefüllten Kartoffelkiste eine Krippenszene in altmeisterlicher Manier:

    "Mit einem Licht an der gefüllten Kiste: Grete, notgelehrt die Tür mit der Hand schattend, sah rührend aus: Was ist eine Madonna mit dem Kind gegen dieses Bild der kleinen Flüchtlingsfrau mit Kartoffeln! Und die Lichteffekte waren frappant; wie in der Abendschule oder bei Schalcken."

    Typisch für Schmidt, dass er hier mit Godfried Schalcken einen der weniger bekannten Niederländer des Goldenen Zeitalters nennt, während er dessen Malstil mit Wörtern kopiert. Typisch auch ist die Profanisierung des religiösen Motivs, bei der das Christkind in seiner Krippe durch ein paar Zentner Kartoffeln in einer Kiste ersetzt wird. Aber dies lässt sich auch umkehren: Die profane Szene wird hier zum säkularen Altarbild verklärt, denn sie ist ja ein Teil eines Kunstwerks, Teil eines literarischen Werks, das hier Werke der bildenden Kunst zitiert und deren Schattenwurf mit Wörtern nachmalt.

    Der Mensch muss essen, um zu überleben, doch um wahrhaft zu leben, reichen die Kartoffeln nicht aus. Wie viele Geschichten Schmidts, enthält auch "Brand's Haide" eine Liebesgeschichte. Sein Kriegsheimkehrer lernt in seinem Notquartier zwei junge Flüchtlingsfrauen kennen. Nicht der madonnenhaften Grete, sondern der so elfenhaften wie pragmatischen Lore gegenüber macht er dann ein Geständnis, das man als persönliches Credo Schmidts verstehen kann:

    "Kunst überhaupt! – Weißt Du, für mich ist das keine Verzierung des Lebens, sondern Feierabendschnörkel, den man wohlwollend begrüßt, wenn man von der soliden Tagesarbeit ausruht; ich bin da invertiert: Für mich ist das Atemluft das einzig Nötige. Und alles andere Klo und Notdurft. Als junger Mensch: 16 war ich, bin ich aus Euerm Verein ausgetreten."

    Der Kriegsheimkehrer, der hier spricht, trägt nicht nur den Namen Schmidt, sondern arbeitet, wie sein Autor, an einer Biografie des Romantikers Fouqué, dessen Werke und Lebensgeschichte besonders diese Erzählung in vielfältigster Weise durchweben. Umso harscher fällt dagegen dann die Polemik gegen die Kultur der Nachkriegszeit aus:
    "Was Euch langweilig ist -Schopenhauer, Wieland, das Campanerthal, Orpheus - ist mir selbstverständliches Glück; was Euch rasend interessiert - Swing, Film, Hemingway, Politik - stinkt mich an."

    Man muss heute schon erläuternd hinzufügen, dass Ernest Hemingway der so hoch verehrte wie schlecht kopierte Abgott etlicher gefeierter Nachkriegsautoren der Gruppe 47 war. Arno Schmidt aber verstärkte seine Ekelgeste gegen ihn in "Schwarze Spiegel" sogar noch:

    "Ich bin mehr für die Spitzen der US-Entwicklung, so Poe und Cooper: Was soll ich da mit dem Missing Link?"

    Man sollte solche Polemik freilich nicht überbewerten. Aus den harten Bandagen, mit denen Schmidt sich hier Hemingway vom Leibe hält, spricht auch der Furor des Autodidakten, der den sehr persönlichen Bildungskanon verteidigt, der ihm in seinem nicht allzu glücklichen Leben zugewachsen ist. Aber noch, indem er sie verdammte und in den Untergang schickte, hat Arno Schmidt seine Welt und seine Zeit detailreicher festgehalten, als manch anderer Autor, hat sie in den eigenen Blick gebannt - objektivierend und subjektiv zugleich. So wie er es im August 1952 im Funkhaus Stuttgart einem jungen, noch unerfahrenen Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks namens Martin Walser ins Mikrofon sprach.

    "Wenn wir überhaupt sagen wollen, dass ein Schriftsteller etwas soll, in Anführungsstrichen, dann hat er, meinem Gefühl nach, bestenfalls die eine Aufgabe, dass er ein Bild seiner Zeit geben soll, was der Historiker, der nachfühlend eine vergangene Epoche zu beschreiben versucht, niemals geben kann. Ein Historiker kann nur das Messtischblatt einer Zeit geben, also die, den exakten Grundriss, auf dem ich Entfernungen übertragen, also Daten abgreifen kann. Aber über diesen Bergschraffen, über diesen schwarzen Häuservierecken erhoben sich doch eben dreidimensionale räumliche Gebilde, da auf den Hügeln standen Wälder, Wolken flogen darüber, das ist das, was der Schriftsteller festhalten soll, in Anführungsstrichen. Und nicht allein das, sondern meiner Ansicht nach muss er auch das Porträt des Denkprozesses eines Menschen jener Zeit mitgeben. Und auch darum habe ich mich bemüht."

    Wie aber lassen Denkprozesse sich porträtieren? Sein Leben sei "kein Kontinuum", sagt Arno Schmidts verbeamteter Faun. Und in seiner poetologischen Schrift "Berechnungen II" gab Schmidt die Erläuterung dazu:

    "Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht 1 Tag, sondern 1440 Minuten - und von diesen wiederum sind höchsten 50 belangvoll!"
    Um dieses von ihm "löchrig" oder "musivisch" benannte Dasein literarisch zu erfassen, suchte Schmidt solche Erlebniseinheiten auch typografisch nachzubilden. Kurze, kursiv eingeleitete Absätze und Kaskaden von Satzzeichen wirkten auf unerfahrene Leser freilich eher befremdlich.

    Aber manche Erkenntnisse der modernen Hirnforschung über die getaktete Form unseres Denkens bestätigen Schmidts Überlegungen. Und der zunächst zögerliche, doch anhaltende Erfolg seiner Bücher hat gezeigt, dass sein literarisches Zettel- und Baukastensystem, dass die Konzentration auf eine Reihe bedeutsamer und erinnerungsträchtiger Augenblicke Leseerlebnisse schuf, die weit nachhaltiger wirkten, als die meisten Werke seiner Zeitgenossen.

    Präzise Orts- und Zeitangaben, Landschaftsbilder, Mondphasen und Wetterbeobachtungen bilden ein faktisches Grundgerüst. Verdeckte Zitate und Anspielungen liefern Modelle, die man als Leser nach Vorgaben des räsonierenden Ich-Erzählers, aber auch nach eigenen Vorstellungen entwickeln kann. Schmidts Erzählungen laden dazu ein, an seinem Wissen, seinen Vorlieben und Antipathien, also an seiner Weltsicht zu partizipieren, indem sie das Subjektive zu objektivieren vorgeben und Fakten zum Gedankenspielmaterial machen. Wäre es heute auch vermessener als je zuvor, die ganze Welt erfassen zu wollen, gelang es ihm doch, Modelle von ihr in die Nussschalen seiner frühen Werke zu packen.

    Und diesen Gerüsten sind verborgene Anleitungen zum universellen wie individuellem Ausbau eingefügt.