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Einblick in die irakische Gesellschaft

Die Berichterstattung über die politische Lage im Irak ist allgegenwärtig. Doch wie erleben die Menschen die Lage im Irak? Jürgen Todenhöfer gibt dem 22-jährigen Zaid das Wort, der sich nach dem Tod seines zweiten Bruders dem Widerstand gegen die amerikanischen Besatzungstruppen anschloss. Eine Rezension von Marc Thörner.

14.04.2008
    Wer auf dem Landweg in den Irak gefahren ist, dem ist vertraut, was Jürgen Todenhöfer in seinem Buch beschreibt: Asphalt, der in der Hitze flimmert; endlose Lastwagenkonvois. Und schließlich der Grenzposten, der sich am Horizont abzeichnet; Zeit für den Fahrer, sein Bestechungsgeld hervorzukramen.

    Es folgt die quälend lange Wartezeit. Und, wenn man Glück hat, am Ende die Erleichterung: Nachdem die Grenzbeamten beider Seiten das Trinkgeld angenommen haben, kann man in den Irak hinein und auf der sogenannten Todesstrecke in Richtung Bagdad weiterfahren.

    Auf diesen mühevollen Weg begibt sich der langjährige CDU-Parlamentarier Jürgen Todenhöfer. Sein Ansatz ist erfrischend: Er möchte ausbrechen aus dem Verlautbarungsjournalismus der Pressekonferenzen, weg von dem gelenkten Blick der von der US-Armee geführten Touren durch die "befriedeten" Gebiete. Keinen Thesenjournalismus möchte er betreiben, sondern erfahren, wie der Krieg für die anderen Seite aussieht, aus der Perspektive von irakischen Widerstandskämpfern.

    "Wir alle sehen nur den Krieg aus der Sicht der Amerikaner, weil man ins Land nur kommt mit den Amerikanern, und deswegen kriegt man auch nur Dinge gezeigt, die die Amerikaner zeigen wollen. Und ich wollte den Krieg aus der Sicht der Besetzten haben."

    Das Buch ist in vier Teile gegliedert. In einem sehr persönlich gehaltenen Vorwort beschreibt Todenhöfer seine Motive.

    "Mein naives Bedürfnis, immer die Wahrheit zu erfahren - notfalls auch in Krisengebieten – hat mich mein ganzes Leben lang begleitet."

    Schauplatz ist Ramadi, eine Stadt im sunnitischen Dreieck. Dort lebt Todenhöfer bei der Familie seines Gewährsmanns Abu Zaeed. Wir erleben das alltägliche Familienleben in der gewaltgeschüttelten al Anbar-Provinz mit, lernen Yussuf, einen christlichen Widerstandkämpfer kennen und Ahmad, der von US-Scharfschützen schwer am Unterleib verletzt wurde. Die beeindruckendste Figur ist zweifelsohne Zaid. Ein eigentlich hochsensibler junger Mann, den erst der Tod seiner beiden Brüder zum Widerstandskämpfer werden ließ.

    "Für einen Augenblick sieht er vor seinem geistigen Auge die Gesichter junger amerikanischer Soldaten, die behelmt in ihren gepanzerten Humvees sitzen. (...) Aber nur einen Augenblick, denkt Zaid an die amerikanischen GIs. Dann sieht er wieder (seine Brüder) Haroun und Karim in einer großen Blutlache vor sich. (...)'Ich muss jetzt abdrücken', denkt er, schließt die Augen, aber kann es nicht. 'Drück endlich', sagt er sich, 'drück!' (...) Dann drückt er ab."

    An seine Gespräche und Begegnungen in Ramadi schließt Jürgen Todenhöfer seine Kernthese an: Anders, als die meisten Medienberichte und die Fernsehbilder nahe legen, so seine Schlussfolgerung, sympathisierten so gut wie alle Iraker mit dem Widerstand. Dieser irakische Widerstand entspringe dem universellen Recht auf Selbstverteidigung.

    "Es gibt ungefähr hunderttausend Widerstandskämpfer im Irak, also fast so viel, wie es amerikanische Soldaten gibt. Diese Widerstandskämpfer sind teilweise gemäßigt muslimisch, nationalistisch, baathistisch, sozialistisch, da gibt es die unterschiedlichsten Gruppen. Die kämpfen für die Freiheit ihres Landes. Und die wollen, dass die Amerikaner abziehen. Aber sie lehnen Gewalt gegen Zivilpersonen kategorisch ab, und sie verachten deswegen auch die Terroristen al Kaida."

    Tatsächlich ist diese Art von Widerstand in der Irak-Berichterstattung unserer Medien wenig präsent. Aber jenseits von al Kaida lassen sich auch Schattierungen finden, die Todenhöfer nicht wahrnimmt oder die er ignoriert.

    Stimmen wie die des arabischen Nationalisten Auni al Kalamschi oder der Baathistin Nada ar-Ruba’i. Beide gehören zur Irakischen Patriotischen Allianz, einem Zusammenschluss gemäßigter Islamisten, Nationalisten und Baathisten, also genau jener Gruppen, auf die Todenhöfer sich bezieht, wenn er vom "echten Widerstand" spricht. Zivilisten wollen sie bei ihrer Art der Kriegsführung ausdrücklich nicht aussparen:

    "Keiner ist von unseren Aktionen ausgenommen – ob es sich um einen Geistlichen handelt, um einen Reichen oder einen Armen, ob jung oder alt. Jeder, der mit den Besatzern zusammenarbeitet, ist aus unserer Sicht ein Ziel."

    Anders, als Todenhöfer das erscheinen lässt, sind Widerständler nicht immer die schlichten Patrioten, als die sie sich selber gerne beschreiben. Manche Baathisten unter ihnen sind zugleich auch Anhänger einer menschenverachtenden Ideologie. Zur Saddam-Zeit hatten sie keine Probleme mit dem Mord an politischen Gegnern, und die haben sie auch jetzt nicht. Und ihre Kinderliebe lässt sich nicht immer mit derjenigen vergleichen, die Todenhöfer im Hause seines Gastgebers erlebt. Die Baathistin Nada ar Ruba’i:

    "Einer unserer Freunde saß bei Bekannten zu Hause, man sprach über den irakischen Widerstand: wie wichtig er sei, für den Irak und für die ganze Welt. Und eines der Kinder, die zuhörten, ein 11-jähriger Junge, fing plötzlich an zu lachen. Der Junge gehörte nämlich selbst zum Widerstand, zu einer kleinen Gruppe, die sich in der Stadt gebildet hatte. Ihre Aufgabe war, auf einen Knopf zu drücken und eine Bombe auszulösen, sobald Amerikaner vorbeikamen. Die Großen redeten über den Widerstand, und der Junge leistete ihn Tag für Tag. Aber zwei Tage später wurde der Junge getötet, bei dem Versuch, am Straßenrand eine Bombe zu legen."

    Stimmen wie diese, die Gewaltbereitschaft dokumentieren, kommen bei Todenhöfer nicht vor. Für ihn beschränken sich Brutalitäten auf die Taten ausländischer al Kaida-Kämpfer. Und daran ist das Problematische an seiner Arbeitstechnik erkennbar. Anders als der chronologische Aufbau seines Buches vermuten lässt, scheint er nicht chronologisch vorgegangen zu sein.

    Vielmehr liest sich das Buch so, als hätten Todenhöfers Schlussfolgerungen vor seiner Reise längst festgestanden. Die 5-tägigen Beobachtungen in Ramadi wirken exakt in einen bereits fertigen Thesenkatalog eingepasst. Und das geht auf Kosten des Wertes, den Todenhöfer zu Beginn des Buches bei seinen Recherchen ausdrücklich als oberste Priorität erwähnt: der kompromisslosen Suche nach der Wahrheit – oder, anders ausgedrückt: Es geht auf Kosten der Realität. Die Verhältnisse im Irak sind um ein Vielfaches komplexer, als Todenhöfer sie darstellt. Ein Großteil seines Buches besteht aus Thesen:

    "Nichts fördert den Terrorismus mehr als die 'Antiterrorkrieger' des Westens. Die muslimischen Länder müssen ihre Probleme mit dem radikalen Islamismus selber ausfechten.

    Der Westen muss die muslimische Welt genauso fair behandeln wie Israel. Muslime sind genauso viel wert wie Juden und Christen."


    Stimmige Analysen. Natürlich ist der Krieg als Mittel des Regimewechsels kontraproduktiv. Recht hat Todenhöfer, wenn er die Heuchelei westlicher Politik kritisiert und beanstandet, dass es hinter der vermeintlich zivilisatorischen Mission in der Regel um Rohstoffe geht. Aber der Impetus des Wahrheitskünders verleitet ihn neben nachvollziehbaren auch zu solchen Thesen, die einer näheren Untersuchung nicht standhalten.

    Kann man zuerst die Huntington’sche Trennung in zwei gegensätzliche Zivilisationen ablehnen - und sie sich dann im nächsten Atemzug wieder zu eigen machen, indem man "den" Westen und "den" Islam als Täter und Opfer einander gegenüberstellt? Wer über die zynische Politik der westlichen Industrienationen gegenüber islamischen Staaten spricht, darf eben eines nicht vergessen: Die glatte Trennung zwischen Westen und Islam gibt es nicht.

    Zwischen Europa, den USA und den islamischen Ländern laufen Verbindungen aller Art. Die zynische Politik, die Todenhöfer kritisiert, wird durch Komplizen in islamischen Ländern oft erst möglich. Und zwar gerade durch Vertreter jener Geisteshaltung, die der Autor idealisiert: Durch sogenannte gemäßigte islamische Kräfte, arabische Nationalisten und Baathisten. Und damit sei an eine jener Überlegungen gemahnt, die sich in Todenhöfers Thesenkatalog finden.

    "Die westliche Politik gegenüber der muslimischen Welt leidet unter einer erschreckenden Ignoranz einfachster Fakten."


    Jürgen Todenhöfer: Warum tötest Du, Zaid?
    C. Bertelsmann, 330 Seiten, 19,95 Euro