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Einblicke ins Hausbuch

Eine lange Tradition der DDR, das sogenannte Hausbuch, spielt eine große Rolle in Ricarda Junges drittem Roman. In jedem größeren Haus der DDR wurde es geführt, es war eine Dokumentation des Lebens im Haus - jeder Besuch, jedes soziale Ereignis wurde darin in Foto und Text festgehalten.

Von Oliver Seppelfricke | 13.04.2011
    Ricarda Junge weiß, worüber sie schreibt. Ihre Mutter stammt aus der ehemaligen DDR und in den vielen Besuchen, die sie dorthin und zu Bekannten unternehmen durfte, hat sie das ganz besondere Flair der Republik aufsaugen können: die Mischung aus Freizügigkeit und Angst, aus innerer Zensur und äußerer Marschrichtung, aus Kontrolle und ständigem Verdacht. Eine Institution, die ihr damals schon auffiel, und die sie zu ihrem dritten Roman inspirierte, war das sogenannte Hausbuch. In jedem größeren Haus der DDR wurde es geführt, es war eine schriftliche Dokumentation des Lebens im Haus. Ricarda Junge hat mit ihrem neuen Roman diese Tradition fortsetzen wollen, und hat ihr gleichzeitig doch etwas entgegengesetzt:

    "Natürlich ist es in der Anlage so, dass es ein Gegenentwurf zu diesem Hausbuch ist. In dem alle Begebenheiten, jeder Besuch kontrolliert und festgehalten wird. Was ja Einengung, Zwang, ja eine gewisse Bedrohung bedeutet. Dieses typische DDR-Hausbuch."

    Lena, kaum 30, ist die Ich-Erzählerin in diesem Buch. Ihr Freund Leander ist älter, ein ehemaliger und ehrgeiziger Juso, der sich selbst als fortschrittlich ansieht und Lena als "reaktionär" einstuft. Es ist eine Art Hassliebe zwischen den beiden: Er braucht sie, um sich darzustellen, um sich vor ihr und anderen großzumachen, sie liebt ihn ganz einfach. Doch nicht lang. Das Ganze endet als Fernbeziehung zwischen Berlin, wo Leander einen Job als Journalist bekommt, und Hamburg, wo sie die gemeinsame Wohnung aufgibt, um in die Hauptstadt nachzuziehen. Mit dabei natürlich: der gemeinsame Sohn Adrian. Die erste Aufgabe ist: eine Wohnung zu finden. Das Ganze geht schnell, dauert einen Tag, doch die Folgen sind andauernd. Und beunruhigend. Ein Fenster bleibt plötzlich offen stehen, Lena und Adrian werden von außen in ihrer eigenen Wohnung eingeschlossen, Kerzen brennen plötzlich auf, und Adrian sieht dauernd diese "fremde Frau". Lena hält es für eine Abwehrstrategie des Kindes, sich gegen die Angst und gegen die neuen Umstände zu wehren, doch es ist viel mehr. Ricarda Junge:

    "Diese fließende Grenze zwischen Realität und Traum, auch zwischen Albtraum und Wirklichkeit, hat mich immer sehr fasziniert. In diesem Buch ist es am konkretesten. Weil die Realität der Hausbewohner fast schon ein Traum ist. Die entspricht ja nicht mehr unserer Zeit. Wie die leben und in welchem Gedankengefüge, das habe ich vorher auch so stark, ich habe auch in Leipzig und anderen Teilen Ostberlins gelebt, nie wieder und nie vorher erlebt."

    In dem Haus in der Karl-Marx-Straße passieren komische Dinge. Türen und Fenster gehen wie von Geisterhand auf und zu, das Radio läuft von allein, niemand weiß, ob nicht vielleicht Leander, der inzwischen, jedoch viel zu spät, Lena einen Heiratsantrag gemacht hat, da war. Das Ganze steigert sich bis zu Lenas Angst, das Kind könnte stolpern, aus dem Fenster fallen, um sie herum bricht schließlich alles zusammen. Es ist das Krisenjahr 2009. Zeitschriften entstehen, werden dann sofort wieder vom Markt genommen, Zeitschriften werden ausgedünnt, es beginnt das große Journalistensterben in den Redaktionen und das Verschwinden der Freien Autoren in der Szene der kreativen Schreiber. Auch Lena ist davon betroffen. Ihr Magazin, für das sie regelmäßig schreibt, nachdem sie bereits ein Buch veröffentlicht hat, geht ein. Einzig der Entschluss, alles aufzuschreiben, was passiert ist zwischen dem 13. April und dem 10. Mai, rettet ihr den Verstand und auch das Weiterleben. Sie legt ihr persönliches "Hausbuch" an, das in vielem dem Original ähnelt und das ihm doch widerspricht.

    "Natürlich korrespondiert diese Geschichte, dieser Bericht, den die Erzählerin in einer Nacht aufschreibt, auch damit. Es ist ja auch eine Art Buch über das Haus. Über seine Bewohner, über die unheimlichen Ereignisse. Aber es ist ja für sie eine Befreiung. Eine Beruhigung. Also genau das Gegenteil. Das Wort ist für sie sozusagen heilig und macht es ihr möglich, die Angst zu besiegen und die Angst im Zaum zu halten."

    Ricarda Junge gelingt es überzeugend in einem leicht dahinfließenden, doch zugleich auch protokollhaftem Ton, das langsame Hinübergleiten Lenas in eine Traumwelt und ihr Abgleiten in eine Surrealität zu beschreiben. Einzig das Wort, ihr geschriebenes "Hausbuch" über das, was ihr und ihrem Sohn passiert ist, hilft ihr aus der Versenkung heraus wieder in die Normalität zurück. Und so zeigt sich der dialektische Charakter des ehemaligen DDR-Hausbuchs: Es wachte über alles, war ein Instrument zur Einschüchterung, half manchem aber auch, sich wieder in die Normalität einzufügen. In das zumindest, was in einem Hausbuch als "Normalität" angesehen wurde. Zu Ricarda Junges großer Überraschung sind diese Hausbücher kein Relikt der untergegangenen DDR, sondern es gibt sie noch!

    "Ja, bei uns wird das geführt im Haus noch. Und in mehreren Häusern, da wo ich lebe, an der Karl-Marx-Allee in Berlin. Das war für mich so überraschend, als ich dahinzog, das war wie eine Zeitblase. Diese Hausbücher stehen da, bei den Hausvertrauensmännern, -frauen, seit 1953, 1954 geführt, auch die offiziellen, das sind ja eigentlich keine Bücher, sondern Heftchen. Aber daneben her auch quasi wie Alben angelegt, wo alle sozialen Ereignisse in Foto und Text festgehalten sind. Auch Besuche. Und als ich da einzog, war es da wirklich so, dass zwei Tage es an der Tür klingelte, ob man Fotos machen könnte für das Hausbuch."

    Ricarda Junge wird sicherlich "Ja" gesagt haben nach einigem Zögern, und beteuert heute, dass sie ohne Einblicke in dieses Hausbuch kaum eine der vielen ungeheuren Geschichten hätte erzählen können. Wahr seien sie alle, doch in welche Hausbücher sie geschaut habe, wo die Adressen seien, in denen noch solche Hausbücher geführt werden, das kann sie zum Schutz derer, die sie betreiben, nicht sagen. Was für uns zum Lesen bleibt, das ist ihr Roman!

    Ricarda Junge: "Die komische Frau". Fischer Verlag, Frankfurt/M.
    189 Seiten, Euro 17,95