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Eine andere Familiengeschichte

"Stille Post" handelt von der Familiengeschichte, die ein jeder in sich trägt. Autorin Christina von Braun entfaltet eine Geschichte voller Widersprüche ohne Schönfärberei und ohne Besserwisserei.

Von Joachim Büthe | 12.07.2007
    Familiengeschichten. Unendlich viele sind niedergeschrieben worden und etliche sind publiziert worden. Es ist ein beliebtes Genre, eine Familie hat schließlich jeder. Wenn Christina von Braun nun eine andere Familiengeschichte vorlegt, dann ist das auch ein Versuch, den Mechanismen der Familiengeschichtsschreibung, inklusive der dickleibigen Familienromane, zu entkommen. Dieser Versuch kann nur gelingen, wenn sich der Blick auf die Familienverhältnisse ändert und wenn man die Materialien, besonders ihre Überlieferungsformen, zu unterscheiden weiß.

    "Die wenigen Quellen, über die ich verfüge, unterscheiden sich auf fast klischeehafte Weise nach geschlechtlichen Mustern. Die Männer haben Memoiren hinterlassen: publizierte im Fall von Magnus von Braun, unvollendete und unpublizierte im Fall meines Vaters und meines Onkels Hans. Die Frauen haben Tagebücher geführt. Memoiren, aus dem Rückblick verfasst, verführen dazu, die eigene Geschichte mit 'der Geschichte' in Einklang zu bringen. Sie treten in jedem Sinne des Wortes die Herrschaft über die Vergangenheit an. Tagebücher hingegen sind aus dem 'Jetzt' geschrieben, die Verfasser und Verfasserinnen wissen nicht, wie der weitere Verlauf 'der Geschichte' sein wird."

    Die beiden Hauptpersonen in Christina von Brauns Familiengeschichte sind ihre Großmutter mütterlicherseits, die sie nicht mehr gekannt hat, deren Spuren sie mühsam suchen musste, auch weil die zweite Hauptperson, ihre Mutter, so wenig von ihr berichtet hat. Dadurch gerät die titelgebende Überlieferungsform ins Visier: "Stille Post". Es ist eine Nachrichtenkette unterhalb der offiziellen Mitteilungen und Lesarten, uneindeutig und verschwimmend, die gleichwohl einen prägenden Eindruck hinterlassen kann. Auch diese Form der Übermittlung ist eine weibliche Domäne, doch werden die Traditionen der kulturellen Abweichung ebenfalls in einer nicht fixierten Art und Weise, als stille Post, weitergegeben. Deshalb ist es vielleicht kein Zufall, dass Greil Marcus sein Buch über den kulturellen Untergrund des 20. Jahrhunderts "Lipstick traces" genannt hat. So wirksam die Nachrichtenkette der stillen Post ist, objektivieren lässt sie sich nicht und eben daraus bezieht sie ihre Kraft.

    "Diesem Buch sind einige Photos der Menschen beigefügt, an deren Geschichte ich zu erinnern versuche. Dennoch ist es nicht ihre Geschichte. Es ist meine Geschichte, und sie erzählt davon, wie die 'Stille Post', die sie aufgegeben haben, bei mir angekommen ist. Ich werde nie genau wissen, was am anderen Ende ins Ohr geflüstert wurde; ich kann nur das wiedergeben, was bei mir angekommen ist."

    Es ist die Geschichte einer Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bei Christina von Braun angekommen ist, und natürlich ist sie eng verknüpft mit der deutschen Geschichte dieses Zeitraums. Ihr Vater war Diplomat, ihr Großvater, Magnus von Braun, aus ostelbischem Landadel stammend, war der erste Reichspressechef, die Rolle ihres Onkels, Wernher von Braun, ist hinreichend bekannt. Im Vordergrund stehen jedoch die Frauenfiguren, besonders die Großmutter, deren stille Post schon angekommen zu sein scheint, bevor sie entziffert werden konnte. Sie war Halbjüdin, früh verwitwet, eine emanzipierte Frau, die ihre Familie mit Bravour allein ernährt hat. Sie war auch eine frühe Frauenpolitikerin, die nach deutschnationalen Anfängen am Ende Kontakt zu einer kommunistischen Widerstandsgruppe aufnahm und im Gefängnis starb. In ihrer Biografie sind die Themen bereits vorgezeichnet, mit denen sich die Wissenschaftlerin und Filmemacherin Christina von Braun beschäftigt hat.

    Die zweite Figur, die Mutter, entwickelt ihre Stärke erst im zweiten Teil des Buches. Es ist, als verlange ihr Unglück und ihre Kraft endlich die Anerkennung, die sie verdient. Sie hat die klassische weibliche Rolle eingenommen und ist an ihr fast zerbrochen. Wie Christina von Braun diese stille Post entziffert, ihr Tagebuch zum Sprechen bringt, das erzählt auch von ihrem Mut und erreicht eine Intensität, die für sie auch schmerzhaft gewesen sein muss.

    "So rudimentär dieses Tagebuch auch ist, seine Lektüre versetzte mich in die psychische Verfassung von Hilde, so dass ich nach den Transkriptionen manchmal ganz benommen war und Schwierigkeiten hatte, mir klar zu machen, dass dies alles mehr als fünfzig Jahre zurückliegt. Ich kannte Hildes Wortschatz, ihre Ausdrucksweisen, es genügte ein kleines Wort, um ihre Stimme zu hören und zu wissen, welche Bedeutung es für sie hatte. Alles was dieses bestimmte Wort aus ihrem Mund in sich trug, verspürte ich im eigenen Körper. Selten ist mir die Macht, mit der sich die Gefühle der Eltern auf ihre Kinder übertragen, so bewusst geworden."

    "Stille Post" handelt auch von der Familiengeschichte, die ein jeder in sich trägt und von dem dicken Dossier, wie Christina von Braun es nennt, das diese Generationen hinterlassen haben. In Fall ihrer Großeltern väterlicherseits gehört dazu auch die Vertreibung aus Schlesien, an der sie, durch ihre politische Haltung, nicht völlig unschuldig waren. Christina von Braun versucht, ihnen wenigstens ihr Leid zurückzugeben. Es ist eine Familiengeschichte voller Widersprüche, die hier erzählt wird, ohne Schönfärberei und ohne Besserwisserei. "Stille Post" ist auch ein überzeugender Versuch, das psychische Wissen gleichberechtigt in die Geschichtsschreibung einzubeziehen. Dass wir uns ihm nicht entziehen können, mit all seinen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten, wird durch diese in jeder Hinsicht andere Familiengeschichte eindrucksvoll belegt.


    Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte
    Propyläen Verlag
    416 Seiten, 22 Euro