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Eine besondere Beziehung

"Mutter" ist eine Geschichte über eine Art von Auferstehung aus Zerfall und Auflösung. Donald Antrim schildert in dem Roman eine geradezu klaustrophobische Zweierbeziehung zwischen Mutter und Sohn. Es wuchern die Tentakeln, die beide fatal aneinander binden.

Von Michael Schmitt | 22.12.2006
    Donald Antrim ist bei uns nicht so bekannt wie einige seiner literarischen Freunde und Generationsgenossen, etwa Jonathan Franzen. Er schreibt auch nicht diese Art dicker, realistischer Geschichten, humorvoll und reich an Details, wie sie seit Jahren immer wieder über den Atlantik zu uns gelangen. Antrim schreibt stattdessen Bücher mit Titeln wie "Die Beschießung des botanischen Gartens" oder "Ein Ego kommt selten allein". Und wenn es darin auch anfangs vielleicht noch um Sphären geht, die so aussehen wie die ganz normale Wirklichkeit, so werden doch deren Gesetze und Logiken nur zu bald in eine Art von Selbstüberbietungszirkel getrieben - und das solange, bis sie zerbrechen.

    In "Die Beschießung des botanischen Gartens" hat er es beispielsweise mit dem amerikanischen Bürgersinn so gehalten und Streitigkeiten in einer Kleinstadt mit Selbstjustiz und mit Vierteilen enden lassen. Und in "Ein Ego kommt selten allein" lässt er das Imaginäre auf ein paar Psychoanalytiker los und schaut zu, wie sie versuchen, es durch die Vernunft zu domestizieren - vergeblich natürlich.

    Donald Antrim spielt dabei zumeist mit einer Ausgangssituation, die der Erzähler in seinem neuesten Buch "Mutter" auf folgenden knappen Nenner bringt: "Leider ist das Wissen um die Realität nachteilig in einer Situation, in der die Realität gar nicht zugelassen wird" - in einer Situation, in der also stattdessen vielleicht nur Begierden, Gefühle und Ahnungen regieren. Dieser neue Roman, knapp 240 Seiten stark und von Nikolaus Stingl übersetzt, scheint diesem Ablauf von Beginn an ebenfalls zu folgen - aber der Eindruck trügt, und erst dadurch wird dieses Buch richtig eindrucksvoll und bewegend.

    Der Erzähler, Don, ein Schriftsteller Anfang, Mitte 40 erzählt zunächst knapp und bissig vom Tod seiner krebskranken Mutter und davon, wie sehr er diesen Tod als Erleichterung empfunden habe. Die Mutter muss völlig ausgezehrt und zerstört gewesen sein; ein Wrack, eine Ex-Alkoholikerin, eines von vielen Mitgliedern der Familie mit einen starken Hang zur Selbstzerstörung.

    Don, im traurigsten und wortwörtlichsten Sinne ein verwaister Sohn in den besten Jahren, hat selbst auch nicht die stabilste Psyche. Die Mutter-Sohn-Bindung, von der er erzählt, kann sogar eigentlich nur als pathologisch bezeichnet werden. Seine erste eigenständige Befreiungsaktion, ein irrationaler Akt des Konsums, verläuft daher in Planung und Ausführung auch geradezu kläglich. Er versucht nämlich ein Bett zu kaufen: ein neues, ein großzügiges, vielleicht sogar ein teures; eines, das ein Leben lang halten kann; eines, in dem er gut schlafen und ordentlich vögeln können wird. Wunschträume sind das, Trennungsfantasien von einem, der nur zu gut weiß, dass er bis zuletzt Angst vor seiner Mutter gehabt hat - und dass er ihr außerdem im Guten wie im Schlechten stets den fehlenden Mann im Leben ersetzen musste.

    Kein Wunder, dass aus diesen Plänen nichts rechtes wird. In schneller Folge arbeitet der Mann sich durch die Angebote des einschlägigen Fachhandels, kommt in keinem Bett zur Ruhe, kauft ständig neue und tauscht sie wieder um. So lernt er ziemlich schnell ziemlich viel über Matratzen, aber nur zögernd auch etwas über sich selbst und seine Familie.

    Er werde sein Mutter "niemals los werden" - das ist die Perspektive, aus der er ihren Tod erlebt, und das klingt, bitter-ironisch und auto-aggressiv beschrieben, mal nach Thomas Bernhard und mal nach Woody Allen. Aber während man sich noch fragt, wie Donald Antrim das über einen ganzen Roman hin weitertreiben will, ohne an Schwung zu verlieren, schlägt die Stimmung allmählich um: Der Ton wird ruhiger und an die Stelle von Fahrigkeit und Unruhe tritt eine zunehmend klare Erzählung über eine zerrissene Familie.

    Nach und nach gewinnt das Bild eines durchaus bürgerlichen Lebens in den ersten Ehejahren der Eltern Kontur. Ein beschädigtes Leben allerdings, schon von früh an: Für den Vater, der als Universitätslehrer arbeitet und lange Jahre eine Liebschaft neben der Ehe unterhält; für die Mutter, die zeitweise als Schneiderin Kleider entwirft, ebenso exzentrisch wie fantasievoll, die dann aber durch ihren Alkoholismus jedes Familienleben zerstört. Und natürlich auch für den Sohn, der nach dem Weggang des Vaters an die Mutter gebunden bleibt und irgendwann in der Situation ist, in der er fühlt, dass er sie nie, wirklich nie wird verlassen dürfen, ohne an ihr schuldig zu werden. So verkehren sich über die Jahre hin Ursache und Wirkung in dieser klaustrophobischen Zweierbeziehung, so wuchern die Tentakeln, die Mutter und Sohn fatal aneinander binden.

    Schön ist das nicht, oft sogar drastisch im Detail, und eigentlich auch gar nicht mehr komisch - aber wenn in den früheren Büchern von Antrim eher die Unordnung zugenommen hat, dann ist "Mutter" nun eine Geschichte über eine Art von Auferstehung aus Zerfall und Auflösung. Auch wenn es mit dem Bettenkauf nie klappt - denn dieses Bett ist nicht wirklich wichtig, es ist letztlich nur der psychoanalytisch leicht zu entschlüsselnde Auslöser für einen Prozess der Selbstaufklärung und der Selbsttherapie.

    Dieses Buch, das nicht als "Roman" gelesen werden will, das vielleicht sogar ein verkappter autobiografischer Bericht ist, führt den Erzähler in kleinen Schritten - und bei gelegentlichen Rückfällen - immer weiter voran: hin zu einem gewissen Respekt vor dieser Mutter, hin zur Einsicht in die wirklichen Bedingungen ihres gemeinsamen Lebens - und damit auch weg von Selbstgerechtigkeit, Jammern und Nörgeln. Und mit dem immer klareren Blick des Erzählers erlangt die Mutter am Ende in manchen Momenten dann sogar eine gewisse Größe. Das macht sie nicht harmloser als sie zu Lebzeiten gewesen sein mag, aber es rettet sie davor, als ein Monster in Erinnerung zu bleiben.