Samstag, 20. April 2024

Archiv


"Eine besonders ärgerliche Erfahrung"

Bundestagspräsident Norbert Lammert hat die jüngsten Personalentwicklungen in den Volksparteien kritisiert. Durch die Vorgänge um den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering und CSU-Chef Edmund Stoiber habe die Politik einen Ansehensverlust erlitten, sagte Lammert.

Moderation: Jochen Spengler | 06.11.2005
    Jochen Spengler: Sie gelten, Herr Lammert, als der profilierteste Kulturpolitiker, den die Union hat. Sie waren im Kompetenzteam von Angela Merkel zuständig für die Kulturpolitik, Sie wurden auch gehandelt als möglicher neuer Kultur-Staatsminister. Warum haben Sie sich dennoch gegen das Amt des Kultur-Staatsministers entschieden?

    Norbert Lammert: Ich bin seit 25 Jahren jetzt Mitglied des Deutschen Bundestages, bin Parlamentarier mit Leib und Seele. Ich habe in den 25 Jahren auch verschiedene Regierungsämter wahrgenommen, kenne insofern das politische Geschehen – sowohl aus der Perspektive der Regierung wie aus der Perspektive des Parlamentes. Und ohne dass ich jetzt in eine Bewertung der Bedeutung verschiedener politischer Ämter eintreten möchte: Für mich ganz persönlich gibt es kein wichtigeres, kein schöneres Amt als das des Präsidenten des Deutschen Bundestages.

    Spengler: Heißt das, dass dieser Kultur-Staatsminister, dass das nur ein Spielball gewesen ist?

    Lammert: Nein, ganz sicher nicht. Wir haben im Bundestagswahlkampf ein Kompetenzteam vorgestellt, das die wichtigsten Aufgaben, die eine Regierung in ihren Ressortzuständigkeiten wahrzunehmen hat, mit Köpfen versehen hat. Für die Besetzung der herausragenden Funktionen des Parlamentes ist die Regierung nicht zuständig. Insofern gab es folgerichtig im Kompetenzteam von Angela Merkel keinen Vorschlag für das Amt des Parlamentspräsidenten oder für andere Aufgaben im Parlament selbst. Im Übrigen wäre ja auch gut möglich gewesen, wie vor drei Jahren auch, dass unbeschadet der Erwartungen an das voraussichtliche Wahlergebnis die SPD ein paar Mandate mehr gehabt hätte als wir. Dann wäre, dem guten Brauch folgend, das Amt des Parlamentspräsidenten bei der SPD geblieben, und dann wäre ich jetzt vermutlich in der Rolle, in der manche mich auch ganz gerne gesehen hätten.

    Spengler: Sie sich auch?

    Lammert: Es gibt ja üblere Lagen im Leben, als sich zwischen diesen beiden möglichen Ämtern entscheiden zu müssen. Nur, als die Situation so war wie sie denn war, dass wir stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag waren, habe ich – wie gesagt – auf Grund meiner ganz persönlichen parlamentarischen Leidenschaft wirklich keine 30 Sekunden gebraucht, um mich dann für das Amt des Parlamentspräsidenten, und insoweit, aber nur insoweit gegen eine Regierungsaufgabe zu entscheiden.

    Spengler: Könnten Sie die erste Antwort, die Sie gegeben haben, noch ein bisschen konkretisieren? Warum ist das für Sie das schönste Amt, das Sie nun innehaben?

    Lammert: Weil nach meinem allerdings ganz dezidierten Politikverständnis sich der Wert eines politischen Systems am Rang des Parlamentes entscheidet. Regiert wird in jedem Land unter welchen Bedingungen auch immer. Aber ob ein politisches System Teilnahmechancen eröffnet, ob es die Möglichkeit gibt, durch das Volk selbst darüber entscheiden zu lassen, von wem man regiert wird und wie lange, das entscheidet sich an der Frage, ob es ein Parlament gibt und welche Bedeutung es hat, ob es eine dekorative oder eine praktische politische Bedeutung hat. Und insofern gibt es für mich insoweit eine ganz klare Rangfolge der Wertigkeit zwischen Parlament und Regierung. Das zentrale Verfassungsorgan einer lebendigen Demokratie ist nicht die Regierung, sondern das Parlament. Und ich selber habe beispielsweise auch nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich mich um Kulturpolitik auch in Zukunft, soweit ich dazu noch die zeitlichen Möglichkeiten habe, weiter intensiv kümmern werde.

    Spengler: Ist Ihr Vorgänger Wolfgang Thierse, dem man aus Unionskreisen Parteilichkeit vorgeworfen hat, zu weit gegangen in seinem Amt als Bundestagspräsident?

    Lammert: Das weiß ich nicht. Es hat jedenfalls die Wahrnehmung des Amtes nicht erleichtert, dass er gleichzeitig stellvertretender Parteivorsitzender war und in dieser Rolle in einem viel stärkeren Maße auch in die unmittelbare rivalisierende Auseinandersetzung der Parteien auf Bundesebene einbezogen war, als das vielleicht bei dem einen oder andern Vorgänger der Fall war.

    Spengler: Sie sind auch Vorsitzender der CDU im Ruhrgebiet. Würden Sie diesen Posten dann zur Verfügung stellen irgendwann?

    Lammert: Die Frage wird sich in der Tat für mich recht bald stellen, zumal ich fast 20 Jahre, und damit eigentlich eher zu lange als zu kurz, dieses Amt wahrnehme. Aber es macht natürlich einen Unterschied, ob sich Parteiämter auf genau der gleichen Ebene ergeben, auf denen diese Verfassungsposition als Parlamentspräsident wahrzunehmen ist, oder ob das in einem doch regional abgegrenzten Bereich stattfindet.

    Spengler: Wie wird sich Ihre Handschrift von der Wolfgang Thierses unterscheiden?

    Lammert: Das weiß ich nicht, und schon gar nicht habe ich die Neigung, mit Ankündigungen hier völlig unnötige Erwartungen zu erzeugen.

    Spengler: Trotzdem noch mal konkreter: Gibt es so was wie eine Agenda? Es gibt ja nicht nur in der Gesellschaft Reformbedarf, sondern auch im parlamentarischen System im engeren Sinn. Das betrifft zum Beispiel die Parteienfinanzierung, dass da der Bundestagspräsident eine entscheidende Rolle spielt bei der Begutachtung. Es geht um die Verlängerung der Legislaturperiode. Immer mal wieder wird gesagt, statt vier sollten es fünf Jahre sein. Das Recht der Parlamentsauflösung wird debattiert. Das liegt nun nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts eher beim Bundeskanzler als beim Parlament selbst. Das sind alles mögliche Reformbaustellen. Welche Reform von diesen möglichen halten Sie denn überhaupt in den kommenden vier Jahren für umsetzbar?

    Lammert: Für keine der von Ihnen genannten Themen kann der Bundestagspräsident ein alleiniges Gestaltungsrecht beanspruchen. Aber bei den meisten der angesprochenen Themen ist er direkt oder indirekt in seiner Rolle betroffen. Und ich habe ja gut überlegt in meiner Antrittsrede auf einige dieser Themen hingewiesen, bei denen ich mir tatsächlich Veränderungen gegenüber dem gegenwärtigen Zustand wünschen würde. Das gilt etwa für die Legislaturperiode, die für den Bundestag nach wie vor vier Jahre dauert, inzwischen aber in der großen Mehrheit der Landtage auf fünf Jahre verlängert ist, auch bei einer Reihe unserer großen Nachbarländer fünf Jahre beträgt. Auch das Europäische Parlament hat eine fünfjährige Legislaturperiode. Und hier handelt es sich nicht um eine Glaubensfrage, sondern um eine Zweckmäßigkeitsfrage. Wir erleben im Augenblick gerade wieder, dass nach einem komplizierten Wahlergebnis es doch beachtlich lange Zeit dauert, bis eine Koalition gebildet und eine Regierung ins Amt gewählt ist. Bis sie dann mal voll funktionstüchtig ist, dauert es noch einmal ein paar Wochen. Dann ist schon eine Reihe von Monaten der gerade begonnenen Legislaturperiode vorbei. Und erfahrungsgemäß wirft der nächste Termin der dann folgenden Bundestagswahl, von den zwischenzeitlich stattfindenden Landtagswahlen gar nicht zu reden, schon einen langen Schatten voraus, so dass der von solchen Rücksichten nicht betroffene Teil der Legislaturperiode eben nicht annähernd die vier Jahre ausmacht, für die ein Parlament gewählt wird. Deswegen könnte man tatsächlich durch eine Verlängerung auf fünf Jahre einen doch erheblichen Zuwachs an operativ verfügbarer Gestaltungszeit gewinnen.

    Spengler: Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht jetzt – unter den Bedingungen einer großen Koalition?

    Lammert: Ja, so ähnlich sehe ich die Aussicht auch. Das Wahlrecht, und schon gar die Dauer einer Legislaturperiode, kann man eigentlich nur im Einvernehmen verändern, zumal sie Bestandteil unserer Verfassungsfestlegungen ist. Also, wir brauchen eine Zweidrittelmehrheit, was, wie ich finde, eher glücklicherweise auch nicht alleine von der großen Koalition beschlossen werden kann. Auch die beiden großen Parteien brauchen die Zustimmung einiger kleinerer Parteien, wenn es zu einer Verlängerung der Legislaturperiode kommen soll. Aber ich habe wie Sie den Eindruck, dies wäre jetzt eigentlich unter vielen Gesichtspunkten, nicht nur unter diesem statistischen Gesichtspunkt, ein besonders günstiger Zeitpunkt, eine solche Initiative zu ergreifen, wenn es denn dazu die Bereitschaft gibt. Das halte ich für denkbar.

    Spengler: Wo Sie die kleineren Parteien schon angesprochen haben: Besteht in einer solchen Konstellation, wie wir sie ja jetzt einmalig erst mal haben – drei kleine Parteien, zwei große Parteien – die Gefahr, dass die drei kleineren unter den Tisch fallen, dass sozusagen die Minderheitenrechte nicht gewahrt werden?

    Lammert: Das erwarte ich nicht. Jedenfalls habe ich ja auch meine feste Entschlossenheit bereits angekündigt, darauf zu achten, dass die unverzichtbaren Rechte der Opposition – das hat wieder etwas mit meinem Parlamentsverständnis im Verhältnis mit der Regierung zu tun –, dass die unverzichtbaren Rechte der Opposition nicht dadurch, dass sie jetzt von kleineren Parteien wahrgenommen werden müssen, für weniger bedeutend gehalten werden, als das bei großen Parteien für selbstverständlich gehalten wird.

    Spengler: Am kommenden Dienstag will die PDS beziehungsweise die Linkspartei Lothar Bisky ein viertes Mal ins Rennen um den Bundestagsvizepräsidenten schicken. Ist sie darin gut beraten?

    Lammert: Die Frage muss die Linkspartei für sich selbst beantworten. Sie hat das ja offenkundig getan. Die drei bisherigen Wahlgänge und die Notwendigkeit eines vierten sind weder für das Parlament im Ganzen, noch für die Partei, noch für ihren Kandidaten eine besonders glanzvolle Erfahrung. Deswegen hoffe ich auch sehr, dass wir das Thema jetzt zügig abschließend erledigen können.

    Spengler: Das heißt, Sie hoffen, dass Bisky eine Mehrheit bekommt?

    Lammert: Ich werde selbstverständlich keine Wahlempfehlung an die Kolleginnen und Kollegen vortragen, schon gar nicht, nachdem ja jeder bereits drei Mal in einer bestimmten Weise sich zu diesem Vorschlag verhalten hat. Ich glaube aber auch, dass allen Beteiligten klar ist, dass wir ganz gewiss nicht sozusagen eine Dauerprozedur gewissermaßen als Einstieg in jede Tagesordnung des Deutschen Bundestages gebrauchen, um das Präsidium zu komplettieren.

    Spengler: Hat denn Lothar Bisky Ihr persönliches Vertrauen, hätte er das als Bundestagsvizepräsident?

    Lammert: Ich habe in allen drei bisherigen Wahlgängen Lothar Bisky gewählt. Aber ich finde es schon einigermaßen kurios, mit welcher Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass eine Wahl, die als eines der Mindestbedingungen demokratischer Kultur wie jede Wahl geheim ist, dann, wenn ein Ergebnis zustande kommt, dass man – aus welchen Gründen auch immer – für eher unerwünscht hält, mit Auskunftserwartungen versehen wird: Wer sich, bitteschön, bei dieser Wahl wie und warum so und nicht anders verhalten habe.

    Spengler: Sie müssen keine Auskunft geben. Fragen wird man dürfen.

    Lammert: Ich will ja nur auf den Punkt aufmerksam machen, für wie selbstverständlich dieses Fragerecht gehalten wird, ohne dass Journalisten auch nur auf die Idee kommen, es für eine mögliche Verletzung eines Prinzips demokratischer Kultur zu halten, dass Wahlen geheim sind.

    Spengler: Wieso brauchen Sie eigentlich sechs Stellvertreter. Reicht es nicht, wenn jede Partei ein Mitglied im Präsidium hat?

    Lammert: Die Anzahl der Mitglieder des Präsidiums ist durch den Bundestag gestaltbar. Und tatsächlich hat der Bundestag in der Abfolge der Legislaturperioden diese Frage unterschiedlich gelöst. Wir haben erst seit vergleichsweise kürzerer Zeit, allerdings inzwischen auch schon insgesamt relativ lange, die Regelung, dass jede Fraktion mindestens einen Vizepräsidenten stellt. Daraus ergibt sich schlüssig, dass nach dem Wahlergebnis, das die Wähler entschieden haben, fünf Vizepräsidenten zu wählen waren. Der sechste wäre nach der Geschäftsordnung nicht zwingend, ist aber nach der Geschäftsordnung ausdrücklich möglich, weil hier von 'mindestens jeweils einem' die Rede ist, was ganz offenkundig bedeutet, es können auch mehr sein. Ich verstehe die Einwände, die es gegen eine Ausweitung auf sechs Vizepräsidenten gibt, aber ich bitte auch um Verständnis dafür, dass eine Partei wie die SPD, die fast genau so viele Mandate hat wie die CDU/CSU und jedenfalls deutlich mehr Mandate aufgrund des Wählerentscheides als die drei kleinen Fraktionen, für sich den Anspruch erhebt, mit einer ähnlichen Zahl im Präsidium vertreten zu sein, wie die andere große Partei und nicht mit einer ähnlichen Mindestzahl wie die sehr viel kleineren anderen.

    Spengler: Nur beim Volk entsteht so der Eindruck, da geht es wieder mal nur um Posten, da geht es nicht darum, Probleme zu lösen und auch die Vorgänge um Müntefering und Stoiber dürften ja nicht gerade das Ansehen der Politik gesteigert haben.

    Lammert: Nein, da darf man nun wirklich keine Illusionen haben. Das, was in den vergangenen Tagen stattgefunden hat im Zusammenhang mit Personalentwicklung in beiden großen Parteien, hat ganz sicher nicht zur Stärkung des Ansehens der Politik beigetragen. Und es hat, wie ich fürchte, die Vermutung bestätigt, die wir ja aus einer Reihe auch jüngerer Befragungen kennen, dass viele Wählerinnen und Wähler den Eindruck haben, den Parteien gehe es keineswegs immer und ausschließlich um Land und Leute, sondern nicht selten um eigene Interessen an politischen Ämtern oder Funktionen. Und deswegen ist das auch für mich, sowohl als Mitglied meiner Partei als auch in dem Amt, in dem Sie mich jetzt ansprechen, eine besonders ärgerliche Erfahrung der letzten Tage.

    Spengler: Ich will es noch mal anders sagen: Setzen Politiker nicht falsche Signale, wenn zum Beispiel die letzte Ministerpräsidentenkonferenz der Bundesländer in Aachen sehr bescheidene Ergebnisse hervorgebracht hat, aber das Beste offenbar gerade gut genug ist für die Ministerpräsidenten. Also, man hat ein ganzes Luxushotel gemietet, die Stadt war einen halben Tag lang abgesperrt. Das erfährt man dann nur aus den Lokalzeitungen, was das für Unmut hervorbringt. Ich frage mich, müssen in diesen Zeiten Politiker nicht mit gutem Beispiel vorangehen und einfach bescheidener auftreten?

    Lammert: Also, ich kann zu dieser Veranstaltung, die Sie da gerade angesprochen haben, überhaupt nichts sagen . . .

    Spengler: … das war nur ein Beispiel von vielen.

    Lammert: Gut, aber was die Grundsatzfrage angeht, bin ich völlig Ihrer Meinung. Jawohl, die Politiker, die Parteien, müssen in Zeiten wie diesen mit besonders gutem Beispiel vorangehen. Sie müssen überall da, wo der Eindruck entstehen könnte, hier wird ohne Not unnötiger Aufwand betrieben, genau solchen Aufwand vermeiden.

    Spengler: Ist es auch das, was Sie mit dem provozierenden Begriff 'Leitkultur' meinen?

    Lammert: Ja, der Anspruch, der sich mit diesem Begriff verbindet, geht natürlich über das Thema weit hinaus, das wir jetzt gerade angesprochen haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Gesellschaft, wie andere Gesellschaften auch, ein Mindestmaß an gemeinsam getragenen Überzeugungen braucht, ohne die sich auch die konkreten Probleme, mit denen wir – wie übrigens andere Gesellschaften auch – konfrontiert sind, gar nicht lösen lassen. Gerade in einer Zeit, in der es ja auch für die absehbare Zukunft nicht darum geht, dass wir Wohlstandszuwächse verteilen könnten, sondern wo wir unter ganz schwierigen internationalen Wettbewerbsbedingungen eine eher stagnierende als prosperierende Wirtschaft mit den bescheidenen, sich daraus ergebenden Ergebnissen neu sortieren müssen, braucht eine Gesellschaft um so mehr eine Verständigung darüber, woran sie sich eigentlich gemeinsam festhalten. Wir haben diese Diskussion aus vielerlei Gründen in den vergangenen Jahren vermieden, teilweise auch sozusagen nach kurzen Strohfeuern wieder abgebrochen, und wir stellen heute doch in immer stärkerem Maße fest, dass sich daraus nicht eine Erleichterung sondern eher eine zusätzliche Erschwernis für die Lösung dieser Probleme ergeben hat. Auch das große Thema Integration von Menschen mit anderen Lebenserfahrungen, mit anderem auch kulturellen Hintergrund, zeigt die Dringlichkeit dieser Debatte im Sinne der Dringlichkeit der Verständigung darüber, was die Grundsätze, die Grundlagen und auch die gemeinsamen Überzeugungen dieser Gesellschaft sind.

    Spengler: Ich würde da noch mal dabei bleiben und möchte gerne noch etwas dazwischenschieben. Warum dieser umstrittene Begriff 'Leitkultur'? Hätte es nicht ein anderer Begriff sein können? Der hat vor fünf Jahren zu einem Sturm der Entrüstung geführt, und heute sagt der Vorsitzende, ich zitiere das mal, des deutsch-türkischen Forums in der CDU Bülent Arslan: Ja zur Nationalhymne, Ja zur Flagge, Ja dazu, dass Menschen, die in diesem Land leben, auch stolz auf dieses Land sein sollten, Ja zu deutschen Dichtern, zur Fußballnationalmannschaft, Ja also zu einer gemeinsamen Identität, aber Nein zur Leitkultur. Leitkultur, das grenzt aus.

    Lammert: Also, an diesem Einwand ist richtig, dass der Begriff sicher schwierig ist. Und ich habe überhaupt kein Problem damit, dass es in einer solchen Debatte nicht darum geht, den Begriff zu patentieren, wenngleich offenkundig die Provokation, die der Begriff enthält, eine auch hilfreiche Funktion für das In-Gang-setzen schwieriger, aber notwendiger Auseinandersetzung darstellt. Ich habe dieser Tage in einer großen deutschen Wochenzeitung den Satz gefunden, dies sei der falsche Begriff für eine richtige Debatte. Mit dieser Charakterisierung habe ich kein Problem. Ich stelle allerdings auch fest, dass bisher all denjenigen, die sich vor allen Dingen an dem Begriff abarbeiten, eine Alternative auch nicht eingefallen ist, die alle Missverständnisse vermiede und auf allgemeine Zustimmung träfe. Mir geht es ausdrücklich nicht um den Begriff, aber mir geht es mit großer Entschiedenheit um die Sache. Und da dürfen wir uns das Thema auch nicht einfacher machen, als es ist. Auch als Fußballfan wäre mir die Begeisterung über die deutsche Nationalmannschaft zu wenig. Und die Verselbständigung der Flagge oder auch der Nationalhymne, gewissermaßen anstelle der Verständigung über das, was damit an nationaler Identität zum Ausdruck kommen soll, wäre genau der Sprung zu kurz, den wir nach meiner festen Überzeugung uns für die Zukunft zumuten müssen.

    Spengler: Herr Lammert, wenn ich Sie richtig verstehe, Sie sagen, es gibt in Deutschland derzeit keine allgemein akzeptierten Orientierungen, die über das Grundgesetz hinaus gehen, aber es müsste wieder welche geben. Ist es nicht denkbar, dass es solche allgemein akzeptierten Überzeugungen in unserer heutigen Zeit der Globalisierung, der Multikulturen, des Individualismus, dass es solche gar nicht geben kann, dass man auf der Suche nach einer kollektiven Identität einer Chimäre hinterher jagt.

    Lammert: Das bestreite ich entschieden. Ich bestreite nicht nur, dass es dies nicht geben könne, sondern auch, dass es das nicht gäbe. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass es eine Reihe von Überzeugungen gibt, die breit geteilt werden, über die nur in einer Mischung aus Leichtsinn und Oberflächlichkeit am liebsten nicht geredet wird. Diese Gesellschaft vermeidet die Diskussion über das, was sie miteinander eigentlich verbindet. Und anstelle einer solchen Verständigung finden dann solche Ersatzorientierungen statt – Ersatz jetzt gar nicht im negativen Wortsinne –, dass wir doch schließlich eine Verfassung hätten, die für alle gelte, und dass wir doch Gesetze hätten, die für alle richtig seien, und das müsse doch als geistiges Gerüst einer Gesellschaft reichen. Dies reicht als Gerüst eben nicht aus, weil jede historische Erfahrung und im übrigen auch die aktuelle Erfahrung in unserem Land uns zeigt, dass Verfassungen und Gesetze schon der Ausdruck zugrunde liegender Wertüberzeugungen sind. Und wenn diese Wertüberzeugungen, warum auch immer, verloren gehen, werden diese Setzungen nicht Bestand haben. Und wir haben zu lange verdrängt, und offenkundig sind da in den vergangenen Jahren Einsichten wieder gewachsen, dass es eine Bereicherung und zugleich eine Herausforderung für eine Gesellschaft darstellt, wenn unterschiedliche kulturelle Traditionen und Erfahrungen miteinander konfrontiert werden, aber es ist eine treuherzige Beschreibung dieser Erfahrung, wenn man leugnen wollte, dass es kulturelle Differenzen gibt. Und es wäre grob unredlich, zu bestreiten, dass solche kulturelle Differenzen auch praktische Bedeutung haben können. Der Anspruch beispielsweise auf Gleichberechtigung der Frau und der Anspruch auf Dominanz des Mannes, beides kulturell begründet, sind in ein und derselben Gesellschaft nicht zu haben. Der Anspruch auf Trennung von Staat und Kirche, von Religion und Politik, und der Anspruch auf unmittelbare Geltung göttlichen Rechts, auch im politischen und rechtlichen Handeln, jeweils kulturell begründet, sind in ein und derselben Gesellschaft nebeneinander nicht möglich. Und wir haben zu viel Zeit mit der vielleicht gut gemeinten Illusion verloren, dies solle man am besten nicht einmal diskutieren, schon gar nicht klären. Und inzwischen ist immer deutlicher geworden, dass sich eine Gesellschaft diesen Klärungsbedarf nicht schenken kann.

    Spengler: Aber es ist doch eine sehr schwierige Debatte, wenn man zum Beispiel an Begriffe wie Treue, wie Sexualität denkt, da gibt es keinen Konsens in einer solchen Gesellschaft wie der unsrigen. Oder wollen Sie einen solchen Konsens wieder herstellen bei einer Bevölkerung, in der es 30 Prozent Scheidungen gibt?

    Lammert: Dass diese Debatte schwierig ist, habe ich ausdrücklich eingeräumt. Ich werbe nur mit Nachdruck dafür, die Debatte nicht deswegen zu vermeiden, weil sie halt schwierig ist. Ich will ein anderes konkretes Beispiel zur Illustration dieses Problems heranziehen. Wir werden seit Wochen mit einer bestürzenden Regelmäßigkeit mit so genannten 'Ehrenmorden' konfrontiert, wo insbesondere in türkischstämmigen Haushalten Probleme, wie Sie sie gerade angesprochen haben, unter dem Stichwort Sexualmoral und Ehevorstellungen und Treuevorstellungen durch Mord an Familienmitgliedern geahndet werden. Der Hinweis auf das in Deutschland geltende Recht führt für das Problem, mit dem wir es hier zu tun haben, überhaupt nicht weiter. Natürlich gilt das in Deutschland geltende Recht. Natürlich ist über jeden Zweifel erhaben, dass jeder dieser Fälle nach in Deutschland geltendem Recht verfolgt und geahndet wird. Das Problem ist ein ganz anderes, dass es in dieser Gesellschaft Vorstellungen von Moral und Recht gibt, die zu der subjektiven Legitimation führen, sich in einer Weise durch "Selbsthilfe" zum Ausdruck bringen zu dürfen, die mit unserer Rechtsordnung völlig unvereinbar sind. Und an solchen Stellen wird dann offenkundig, dass es eben einen Zusammenhang gibt zwischen Kultur und Recht, und dass man nicht unter Hinweis auf das eine die Bedeutung des anderen für nachrangig erklären könnte.

    Spengler: Glauben Sie denn, dass man diese Ehrenmorde, wie Sie sie genannt haben, nicht mehr hätte, wenn man sich auf so einen gemeinsamen roten Faden verständigt hätte?

    Lammert: Also, ich könnte jetzt ganz simpel darauf verweisen, so lange, wie es in Deutschland dieses Nebeneinander von unterschiedlichen Kulturen nicht gegeben hat, haben wir mit dieser Art von Problemen nichts zu tun gehabt. Daraus ziehe ich ja auch ausdrücklich nicht den Schluss, dass wir deswegen Multikulturalität als Nebeneinander verschiedener Menschen mit unterschiedlicher Herkunft unterbinden oder vermeiden sollten. Ich weise nur darauf hin, dass gerade eine Gesellschaft, die multikulturell geprägt ist, umso dringender die Verständigung über gemeinsame und insofern verbindliche Werte und Überzeugungen braucht. Ich kann es auch anders formulieren: Wir können uns Multikulturalität nur erlauben, wenn wir uns entschließen, uns darüber zu verständigen, was aber bitte für alle gilt.

    Spengler: Was stünde am Ende einer solche Debatte um Identität, um Leitkultur? Eine Art Magna Charta?

    Lammert: Also, wir fangen diese Debatte hoffentlich jetzt gerade mal ernsthaft an, das müssen Sie nicht gleich mit der Vorfestlegung auf das notwendige Ende verbinden. Im übrigen ist das nach meiner Überzeugung ein Prozess, der nicht an ein für alle Male gültiges Ende kommt und kommen muss, sondern der regelmäßig, jedenfalls in bestimmten Abständen regelmäßig in einer Gesellschaft geführt werden muss, und wo sich auch aus den Problemstellungen die Akzente der jeweiligen Diskussion ergeben werden.

    Spengler: Herr Lammert, ich danke Ihnen für das Gespräch.