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Eine Biografie für den Krebs

Das Buch des indischen Onkologen Siddartha Mukherjee ist ein Krebsbericht, der aus dem Rahmen üblicher Betroffenheitsbelletristik herausfällt: ein Fachbuch für Laien, ganz auf der Höhe der medizinischen Forschung. Zugleich schreibt Mukherjee eine fast philosophische Studie über Wesen und Wahrnehmung der Krankheit.

Von Florian Felix Weyh | 29.04.2012
    "An einem kalten Morgen im Februar 2004 entdeckte der vierundzwanzigjährige Leichtathlet Ben Orman einen Knoten im Hals. Er saß in seiner Wohnung, las Zeitung und fuhr sich geistes-abwesend über das Gesicht und den Hals, und dabei ertasteten seine Finger eine kleine Schwellung am Halsansatz. Der Knoten war etwa so groß wie eine Rosine. Wenn er tief Luft holte, konnte er ihn im Brustkorb versenken. Er tat die Sache ab. Es war eine Beule, und Sport-ler sind Beulen gewohnt, Schwielen, Höcker, geschwollene Knie, Reizungen, Entzündungen, blaue Flecken, die kommen und gehen, ohne nachvollziehbare Ursache."

    So beginnt es zumeist. Eine Irritation in der körperlichen Selbstwahrnehmung lässt für einen kurzen Moment Sorge aufkommen, die man dann rasch verdrängt. Denn Knoten, Beulen, Schwellungen sind erste Zeichen von Neoplasien, wie das freundliche medizinische Wort für Tumore lautet. Neoplasien, Neubildungen das klingt harmlos. Ist das Neue nicht stets unverbrauchter und gesünder als das Alte? Auf tragische Weise: ja. Die Neoplasie aus entarteten Krebszellen erweist sich als kräftiger als das allmählich der Zerstörung anheimfallende Grundorgan. Allein dem Erkrankten nützt das wenig; es sei denn, er zöge Trost aus dem Umstand, vor einem übermächtigen Gegner zu kapitulieren. Doch wovon sprechen wir eigentlich?
    "Als ich mit diesem Buch anfing, dachte ich ursprünglich, ich schriebe eine Geschichte des Krebses. Doch bald bekam ich das unabweisliche Gefühl, dass ich nicht über etwas schreibe, sondern über jemanden. Von Tag zu Tag verwandelte sich mein Thema in etwas, das einem Individuum ähnelte – einem rätselhaften, leicht verzerrten Spiegelbild. Es war immer weniger die medizingeschichtliche Beschreibung einer Krankheit, sondern geriet mir zunehmend zu etwas Persönlichem, Elementarem: einer Biografie."

    Der aus Indien stammende, amerikanische Arzt Siddhartha Mukherjee wird im Rahmen seiner Ausbildung zum Onkologen – also Krebsspezialisten –, ins kalte Wasser geworfen. Obwohl die Krebstherapie in den vergangenen 30 Jahren immense Sprünge gemacht hat und Tumorerkrankungen wie Morbus Hodgkin, unter denen der zitierte Leichtathlet leidet, Heilungsquoten bis zu 85 Prozent aufweisen, ist die Arbeit auf der onkologischen Station nach wie vor zermürbend. Zu oft gerät der Arzt an seine Grenzen, zu häufig muss er mit Mitteln gegen die Krankheit kämpfen, die zugleich Mittel gegen den Patienten sind. Das liegt in der Natur dieser Erkrankung, die nicht wie eine Infektion von außen kommt, sondern auf Verwandlungen der eigenen Körperzellen beruht.

    "Wer nicht Chemie oder Medizin studiert hat, wird sich nicht darüber im Klaren sein, wie unendlich schwierig die Krebstherapie in Wahrheit ist. Sie ist fast – nicht ganz, aber fast –so, als gälte es, einen Wirkstoff zu finden, der beispielsweise das linke Ohr spurlos auflöst, das rechte aber unversehrt lässt."

    … zitiert Mukherjee einen Forscher aus der Zeit vor der Entdeckung zellteilungshemmender Wirkstoffe, der Zytostatika. Und selbst nachdem es sie gab, wiesen sie kein derartiges Differenzierungsvermögen auf; erst seit 20 Jahren keimt mit der molekulargenetischen Forschung die Hoffnung auf, irgendwann ein-mal hochspezifische, nebenwirkungsarme Medikamente gegen alle Tumorzellen zu besitzen. Ein junger Arzt muss heute also ähnlich viel Leid mit ansehen wie Generationen vor ihm. Seine Patienten sind sterblich geblieben und quälen sich durch chemotherapeutische "Protokolle", die keine individuellen Anpassungen ans verabreichte Zellgift vorsehen, nicht einmal, wenn man sich buchstäblich die Seele aus dem Leib kotzt. Das alles gehört zum Job, und ein älterer Kollege nimmt Mukherjee fürsorglich beiseite:

    "Was wir hier tun, nennt sich Immersivausbildung', sagte er mit gesenkter Stimme. 'Man lernt, indem man in die Praxis eintaucht. Leider meint 'eintauchen' in Wirklichkeit 'untertauchen'. Sieh zu, dass du nicht ertrinkst. Lass dich nicht vollständig vereinnahmen, hab auch noch ein Leben außerhalb der Klinik. Du wirst es brauchen, sonst verschlingt es dich."

    Vielleicht ist das daraufhin gewählte Parallelleben am Schreibtisch der Grund dafür, warum wir jetzt ein fast 700-seitiges Buch lesen können, das in vielerlei Hin-sicht verblüfft. Ein Krebsbericht, der aus dem Rahmen üblicher Betroffenheits-belletristik herausfällt, ein Fachbuch für Laien, ganz auf der Höhe der medizinischen Forschung, manchmal komplex und anspruchsvoll, doch nie unverständlich. Zugleich aber auch eine historische, soziologische, politische und in Spuren philosophische Studie über Wesen und Wahrnehmung einer Krankheit, die sich deutlich von anderen Krankheiten unterscheidet.

    "Sich dem Krebs zu stellen ist wie die Begegnung mit einer Parallel¬spezies, die vielleicht besser angepasst, überlebensfähiger ist als wir. (…) Eine Krebszelle ist eine erstaunliche Perversion der normalen Zelle. Krebs ist nicht zuletzt deshalb ein phänomenal erfolgreicher Eindringling, Eroberer, Siedler, weil er genau die Eigenschaften ausnutzt, die uns als Spezies und als Organismus erfolgreich machen."

    Die Biografie dieses Spiegel-Ichs beginnt vor Tausenden von Jahren. Ein altes Papyrus legte nahe, dass schon der ägyptische Arzt Imhotep den Krebs als unheilbares Leiden erkannte, und die Paläopathologie fand bei unseren hominiden Vorfahren vor zwei Millionen Jahren Hinweise auf Neoplasien. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung war die Krankheit allerdings nicht ende-misch, sondern als Diagnose eher selten. Zum einen, weil man ihre vielgestaltige Symptomatik vor Beginn der Zellularpathologie gar nicht trennscharf von anderen Krankheiten unterscheiden konnte; zum anderen, weil der Beutezug des Krebses, so absurd es klingt, eine gesunde Menschheit voraussetzt:

    "Tatsächlich ist das Auftreten von Krebs in der Welt das Ergebnis einer dop¬pelten Verneinung: Er breitet sich erst dann aus, wenn alle anderen tödlichen Krankheiten ihrerseits ausgeschaltet sind. Die Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts brachten Krebs häufig mit Zivilisation in Verbindung: Krebs, so ihre Annahme, sei vom rasenden Tempo und Chaos des modernen Lebens verursacht, das auf irgendeine Weise ein krankhaftes Wuchern im Körper auslöse. Die Verbindung war korrekt, nicht aber die Kausalität: Nicht die Zivilisation führte zur Verbreitung von Krebs, sondern die steigende Lebenserwartung des Menschen – die Zivilisation hat ihn aufgedeckt."

    … und parallel damit ein fast 1800 Jahre währendes Dogma aus der Antike zum Einsturz gebracht. Seit dem römischen Arzt Galenus galt Krebs als Stau-phänomen der Körpersäfte, weswegen selbst gut sichtbare, äußerliche Tumoren nicht weggeschnitten wurden. Stattdessen schwächte man den kranken Körper noch weiter mit Aderlass, um den Staudruck zu verringern. Zum Paradigmenwechsel kam es erst mit der Erfindung der Anästhesie Mitte des 19. Jahrhunderts. Ab 1870 brach das Jahrhundert der Operateure an. Krebs, soviel meinte man inzwischen begriffen zu haben, entwickelte sich wie Unkraut in einem Garten und musste entsprechend ausgerupft werden.

    "In einer Ära, die wie gebannt von der Macht und dem Einfallsreichtum der Chirurgen war, erschien die Vorstellung eines Skalpells, das den Krebs an der Wurzel herausschnitt, wie der Inbegriff von Verheißung und Wunder. Sie fiel in die ohnehin anfällige, leicht entflammbare Welt der Onkologie wie ein Knallkörper in Schwarzpulver."

    Hatten die galenischen Mittel 1800 Jahre lang überhaupt nichts geholfen, so verlängerte die Brachialchirurgie zwar die Lebenszeit der Patienten, doch brachte sie nur in seltenen Fällen Heilung. Denn die Grundannahme des mit der Wurzel aus-zurottenden, bösen Samens war unzureichend: Metastasierende Krebsformen folgen ihrer eigenen Logik bei der Besiedlung entfernter Zonen. Das "Zentrum-Satelliten"-Modell, bei dem die Zerstörung des Zentrums neue Satelliten unmög-lich macht, geht an der Wirklichkeit vorbei, und Siddharta Mukherjee konzediert, dass der römische Arzt Galenus nicht völlig falsch gelegen hatte:

    "Es gibt keine schwarze Galle, die sich im Körper staut und vor Frustration dann Tumoren treibt. Aber in seiner intuitiven, träumerischen Metapher kommt eine wesentliche Charakteristik des Krebses zum Ausdruck: Er ist tatsächlich oft eine humorale Krankheit. Kriechend und dauernd in Bewegung, kann er sich durch unsichtbare Kanäle von einem Organ zum anderen graben. Er ist tatsächlich, wie von Galen einst vermutet, eine Krankheit des Systems."

    Dass ein Arzt in seinem Erkenntnisprozess Metaphern zulässt, ist ungewöhnlich, aber der Onkologe Mukherjee tritt uns in "Der König aller Krankheiten" ja nicht nur als medizinischer Fachmann entgegen, sondern auch als Schriftsteller. Verlassen wir deshalb hier die Geschichte des Krebses, wie sie auch von Medizinhistorikern beschrieben werden könnte – und wie sie im vorliegenden Buch kenntnisreich und detailversessen präsentiert wird –, und wenden uns der Frage zu, was an diesem Text das Etikett "Biografie" verdient? Der flüssige, amerikanische Sachbuchstil, der jedes Kapitel mit einem szenischen Auftakt beginnen lässt? Oder die
    Tatsache, dass Patienten entgegen der üblichen medizinischen Publizistik Namen und Gesicht erhalten?

    Wir sieben, inzwischen enge Freunde, stellen Patientenlisten zusammen, die wir an die nächste Gruppe der auszubildenden Onkologen weitergeben wollen. Lauren beginnt auf einmal ihre Liste laut vorzulesen, sie nennt die Namen derer, die während der zwei Jahre in ihrer Ob-hut gestorben sind, und fügt aus einer plötzlichen Eingebung heraus jedem Namen einen Satz hinzu, wie ein Epitaph. Es ist eine Art improvisierter Gedenkgottesdienst, und die Atmosphäre im Raum hat sich verändert. Ich falle mit ein, nenne die Namen meiner Patienten, die gestorben sind, und sage noch ein paar erinnernde Worte über sie. Kenneth Armor, zweiundsechzig, ein Internist mit Magenkrebs, In seinen letzten Tagen hatte er nur noch den Wunsch, einen kleinen Urlaub mit seiner Frau zu ver¬bringen und Zeit zu haben, um mit seinen Katzen zu spielen. Oscar Fisher, achtunddreißig, hatte ein kleinzelliges Lungenkarzinom. Er war von Geburt an geistig behindert und der Liebling seiner Mutter. Als er starb, wand sie ihm einen Rosenkranz zwischen die Finger.
    An diesem Abend bleibe ich noch lange allein zurück, sitze über meiner Liste und erinnere mich bis weit in die Nacht hinein an Namen und Gesichter. Wie kann man einem Patienten ein Denkmal setzen? Diese Menschen waren meine Freunde, meine Gesprächspartner, meine Lehrer – eine Ersatzfamilie.


    Tatsächlich gibt es nur eine Stelle im Buch, die den Krebs genuin biografisch, also als Genese einer individuellen Zellwucherung beschreibt. Es ist der dreiseitige Abschnitt, in dem Siddhartha Mukherjee das Leben seines allerersten Patienten aus der Perspektive der Tumorentstehung schildert. Der Arzt taucht gewissermaßen in den Körper ein, beobachtet, wie 1968 ein winziges Asbeststäubchen arglos von dem Brandschutzmonteur eingeatmet wird, und verfolgt den körperlichen Veränderungsprozess bis zum Tod des Monteurs im Jahre 2004. So lange dauert es, bis der verursachende Asbestfaden einen metastasierenden, tödlichen Lungenkrebs hervorgebracht hat – vielmehr: Bis alle körpereigenen Sicherungsmechanismen vor der Kraft und der Anzahl mutierter Krebszellen kapituliert haben. Mukherjee kann diese "biografische" Schreibweise erst so spät im Buch anwenden, weil der Leser erst dann das nötige Wissen um die genetische Eigenart des Krebses erworben hat: Er ist ein schlummernder Teil von uns selbst und wird von missgünstigen Umständen aufgeweckt.

    "Die Griechen waren wieder einmal eigenartig vorausschauend, als sie den Begriff onkos (Last) wählten. Krebs wurde uns als wesentlicher Bestandteil unseres Genoms 'aufgeladen', wo er auf seine Aktivierung wartet. Wir sind dazu bestimmt, diese fatale Last in unseren Genen zu tragen – unser eigenes genetisches 'onkos'."

    Bis in molekulargenetische Details hinein ermöglicht das Buch auch Laien, diese aktuelle Erkenntnis der Krebserkrankung nachzuvollziehen. Doch leider lernt er auch, dass damit kein Königsweg zur allgemeinen Heilung verbunden ist:

    "Normale Zellen sind identisch normal; bösartige Zellen werden leider auf einzigartige Weise bösartig." (… ) Unter einer dem Anschein nach unüberschaubaren Verschiedenartigkeit verbirgt sich aber eine fundamentale genetische Einheitlichkeit. Bei Krebsarten, die, oberflächlich be-trachtet, völlig verschieden aussehen, sind häufig die gleichen oder ähnliche Signalwege aus den Angeln gehoben. 'Krebs', sagte jüngst ein Wissenschaftler, 'ist in Wirklichkeit eine Signalwegserkrankung."

    Dass Krebs vorliegt, wenn eine genetische "Signalwegsstörung" die Zelle zu un-kontrollierter Teilung bringt, kann man trennscharf definieren. Doch mit dieser Grobsortierung ist noch nicht viel gewonnen. Denn je tiefere Einblicke wir ins Ge-nom der Krebszelle nehmen, desto verwirrend "individueller" erscheint der Anblick:

    "Selbst innerhalb eines einzelnen Tumortyps ist die Heterogenität der Mutationen ehrfurchtge-bietend: Wenn man zwei Brustkrebspräparate miteinander vergleicht, zeigt sich, dass die jewei-lige Kombination der mutierten Gene alles andere als identisch ist."

    Weil Krebs mit jeder Entdeckung sein Gesicht verändert, liegt das Zwiebelmodell der Biografie als Erzählmuster durchaus nahe. Tatsächlich aber hätte eine andere Gattungsbezeichnung genauso gut gepasst – ihr Abschreckungspotenzial dürfte Autor und Verlag indes zu groß gewesen sein. Wer läse schon gerne ein Buch über eine bedrohliche Krankheit mit dem Etikett "Ein Kriegsbericht"? Dennoch wäre das in mehrerlei Hinsicht eine passende Metapher. Es beginnt beim be-zeichnenden Umstand, dass das erste wirksame Zytostatikum auf einen aus dem Ersten Weltkrieg berüchtigten Kampfstoff namens Lost (oder Senfgas) zurückgeht und setzt sich in der Denkweise der Onkologen fort, die nach dem Paradigmen-wechsel von der Chirurgie zur Chemotherapie von Bombardierungen sprachen und einen Krieg zu führen meinten:

    "Die verlockende Idee, ein ganzes Arsenal zytotoxischer Substanzen aufzufahren und den Körper bis an den Rand des Todes zu bringen, um ihn von seiner malignen Fracht zu befreien, war noch immer unwiderstehlich. Deshalb stürmte die Krebsmedizin weiter voran, auch wenn dies Verzicht auf Gesundheit, Sicherheit, Würde be¬deutete. Strotzend vor Selbstvertrauen und Dünkel und wie hypnotisiert von der Allmacht der Medizin, drängten die Onkologen ihre Patienten – und ihre Disziplin – an den Rand der Katastrophe. 'Wir werden schon im ersten Akt die Atmosphäre derart vergiften', sagte der Biologe James Watson in Bezug auf die Zukunft der Krebsmedizin, »dass kein anständiger Mensch das Stück bis zum Ende sehen will."

    Dieses martialische Denken der Mediziner übertrug sich auch auf die öffentliche Wahrnehmung der Krankheit. Dass in Amerika seit den 50er-Jahren die Krebs-forschung einen gewaltigen Aufschwung nahm, verdankte sich nicht allein den ersten chemotherapeutischen Erfolgen, sondern vor allem einem ma߬geschneiderten politischen Feldzug des Leukämiepioniers Sidney Farber.

    "Damit eine Krankheit politische Prominenz mobilisiert, ist das gleiche Marketing erforderlich wie bei einem Wahlkampf. Eine Krankheit – jede Krankheit – muss zum Politikum werden, ehe sie wissenschaftlich bearbeitet werden kann."

    … lautete sein Credo, und zusammen mit der engagierten Millionärin Mary Woo-dard Lasker eröffnete er eine beispiellose Propagandaschlacht. Krebs wurde zum Zivilisationsfeind Nummer eins und löste die Feindbilder des Kalten Krieges ab. Dieser spannende und erhellende Faden des Buches bettet das biologische Ge-schehen in den sozialen Körper ein – und das nicht folgenlos: Mit der plötzlichen Öffentlichkeit für Krebs, flossen nicht nur Forschungsgelder, sondern änderte sich auch das Verhalten der bislang verschämten Patienten. Sie begannen sich zu emanzipieren, stellten Radikaloperationen infrage, erhoben in aussichtlosen Fällen Anspruch auf Medikamente vor deren Zulassung und eröffneten eine weitere Front: Nicht nur gegen die Krankheit, sondern auch gegen das in Dogmen er-starrte medizinische Establishment. Wie Siddhartha Mukherjee den Gesamt-komplex Krebs im zweiten Teil des Buches beschreibt, erinnert dabei an John Keegan. Der britische Militärhistoriker hat die Kunst kultiviert, Kriege aus der Vogelperspektive zu schildern, sodass man am Ende das Unfassbare in seiner Struktur begreift. Dass dabei unentwegt menschliches Leid verhandelt wird, lässt Keegan nicht an sich heran, und obwohl Mukherjee immer wieder Patienten-schicksale erwähnt, verhält er sich letztlich wie der Militärhistoriker: Leid ist nicht sein primäres Thema. Zwar erweist sich der massenmörderische Krebs als gefräßiger Gegner der Menschheit, doch im Grunde geht seine Identität übers Parasitäre hinaus. Radikal philosophisch betrachtet, erleben wir nur Meta-morphosen, bei denen ein jüngeres biologisches Selbst – der Krebs – dem älteren des hoch entwickelten Körpers den Garaus macht:

    "Da unsere Zellen sich teilen und unsere Körper altern, und da Mutationen sich unerbittlich übereinander häufen, kann der Krebs sehr wohl die Endstation unserer Entwicklung als Orga-nismus sein."

    … räumt Mukherjee nicht ohne Bewunderung ein und wählt zum Schluss eine gleichsam ontologische Perspektive:


    "Irgendwann wird ein Krebs, wenn er Erfolg hat, ein viel perfekteres Wesen hervorbringen, als sein Wirt es ist – ausgestattet mit Unsterblichkeit und einem ungeheuren Fortpflanzungsdrang. Man könnte sagen, dass die in meinem Labor wachsenden Leukämiezellen, die von einer drei Jahrzehnte früher verstorbenen Frau stammten, diese Art der 'Vollendung' bereits erreicht haben."

    Dann wäre der Krieg gegen die "Krankheit" nicht zu gewinnen und die neutrale Bezeichnung "Biografie" doch richtig gewählt. Statt vom "König aller Krank¬heiten" müsste man dann allerdings vom König des Lebens sprechen. Keine schönen Aussichten, aber dass am Ende unserer individuellen Existenz der Tod steht, ist kein neues Skandalon. Trotz allem bleibt der Grundton dieses informativen und anregenden Buchs durchgehend optimistisch; vielleicht hat die Faszination grundsätzlicher Unsterblichkeit den Autor milde gestimmt.


    Literaturhinweis:
    Siddhartha Mukherjee: Der König aller Krankheiten. Aus dem Englischen von Barbara Schaden, Dumont Verlag, 670 Seiten, 26,00 Euro