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"Eine buchenswerte Erscheinung im literarischen Bestiarium unserer Tage"

Literaturkritiker Denis Scheck sagt, dass Gore Vidal im Grund ein Vordenker der Occupy-Bewegung gewesen sei. Vidal habe immer gesagt, dass es auf Dauer zu einer Militärdiktatur kommen würde, wenn einem Prozent der Amerikaner 77 Prozent des Geldes gehöre. Literarisch schätzt Scheck vor allem die "wunderbaren Essays" Vidals.

Denis Scheck im Gespräch mit Michael Köhler | 01.08.2012
    Michael Köhler: Der amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Gore Vidal ist im kalifornischen Los Angeles im Alter von 86 Jahren gestorben. Theaterstücke wie "The Best Man", sie werden am Broadway immer noch immer wieder gern gegeben. Gore Vidal, geboren 1925, zählt zu einer Generation von Autoren und aufsässig-kritischen Kommentatoren seiner Zeit, wie es nur wenige in der US-amerikanischen Öffentlichkeit gab:

    Gore Vidal: Die Vereinigten Staaten neigen dazu, ausländische Individuen zu dämonisieren. Dies ist unsere Spezialität. Seit Pearl Harbor hat uns kein Staat überfallen, wir haben gegen andere Länder immer als Erste losgeschlagen, und wir hatten immer eine Entschuldigung dafür parat: Diese Länder beherbergten Terroristen oder sie schickten sich an, die freie Welt zu verlassen und kommunistisch zu werden. Mit solchen Begründungen hat Clinton eine Aspirinfabrik im Sudan bombardiert. Eigentlich hätten all diese Provokationen sehr viel mehr Terrorismus hervorbringen müssen.

    Köhler: Ein streitbarer Schriftsteller und politischer Essayist dieser Gore Vidal. Bevor wir auf seine Werke zu sprechen kommen, habe ich Denis Scheck aus der Büchermarkt-Redaktion im Deutschlandfunk gefragt: Was war das eigentlich für ein Typ von amerikanischen Literaten und Essayisten?

    Denis Scheck: Gore Vidal war wirklich eine buchenswerte Erscheinung im literarischen Bestiarium unserer Tage. Ich hatte das Privileg, ihn zweimal längere Zeit kennenzulernen. Einmal war ich eine ganze Woche bei ihm in Ravello, wo er ja eine Villa hatte, möbliert - und das sagt schon sehr viel aus - mit dem Mobiliar eines der Filmsets, an dem er mitgeschrieben hat, einem der Filme, das war "Ben Hur". Und eigentlich ist das, glaube ich, eine Charakterzeichnung für Gore Vidal. Er hat sich ja für einen Angehörigen der senatorischen Kaste, der Klasse der USA gehalten. Er war immer ein scharfer Kritiker dieser Kaste, im Grunde ein Vordenker der Occupy-Bewegung. Er sagte, das kann nicht gut gehen, wenn einem Prozent der Amerikaner 77 Prozent des Geldes, des Besitzes der USA gehören, und dieses eine Prozent die eigene Bevölkerung verachtet, dann wird das auf die Dauer zu einer Militärdiktatur in den USA kommen. Das war immer seine These - er war ein Mann für kühne Thesen, und viele hielten ihn, auch seinen Lektor Jason Epstein, der diese Formulierung als Erster gebrauchte, für den amerikanischen Montaigne, und ich bin da geneigt, zuzustimmen, denn die ganz große, die überragende Bedeutung von Gore Vidal liegt in seinen wunderbaren Essays.

    Köhler: Nur nicht so katholisch, er war ein homosexueller Linksaktivist, ist das ein bisschen zu grob und zu plump gesagt?

    Scheck: Ja, weil das Verhältnis von Gore Vidal zur Sexualität ist ohne intime Kenntnis der Antike wahrscheinlich gar nicht zu verstehen. Einerseits lebte er ja über 50 Jahre mit einem Mann aus der Werbung zusammen, ein wohlgehütetes Familiengeheimnis, er hat aber bis zuletzt behauptet, dass es keinerlei sexuelle Beziehung zwischen diesem Mann und ihm gab. Andererseits war er berühmt geworden schon mit der Behauptung, dass er mit 25 Jahren bereits mit 1000 Männern und Frauen geschlafen habe, und 1948 hat er mit "The City and the Pillar", dem Roman, der auf Deutsch "Im geschlossenen Kreis" hieß, ja den großen amerikanischen Coming-out-Roman geschrieben, den auch Thomas Mann las. Und da gibt es eine berühmte Formulierung im Tagebuch von Thomas Mann, die tatsächlich recht aufschlussreich ist, ich zitiere: 'Interessantes, ja wichtiges menschliches Dokument von ausgezeichneter und belehrender Wahrhaftigkeit, das Sexuelle, die Affären mit diversen Herren, mir eben doch unbegreiflich - wie kann man mit Herren schlafen?' Das unterschied Thomas Mann von Gore Vidal.

    Köhler: Wir müssen über das Werk sprechen - sie haben eines schon genannt, "Geschlossener Kreis" heißt es bei uns, von 1948. Ich erinnere mich, in den 80er-Jahren als Buchhändler waren Bücher über das Amerika bei uns beliebt, oder Bücher, von denen wir glaubten, es würde sich um Amerika handeln. Also Biografien über Lincoln oder über Roosevelt oder übers Empire oder Ähnliches. Nennen Sie uns einige wichtige Werke und vor allem, was zeichnet seinen Stil aus?

    Scheck: Na ja, das ist die zweite Werkperiode von Gore Vidal, wo er historische Romane schrieb, etwa über Lincoln oder über Aaron Burr. Aber das sind, ja, schöne und intelligente und mit Genuss zu lesende Schmöker, die ich aber nicht in die allererste Reihe seiner literarischen Meisterwerke stellen sollte, sondern da sehe ich seine Bedeutung eben viel eher in seinen Essays, die versammelt sind in "United States", das ist ein wichtiger Band. Von ihm ist die berühmte Formulierung überliefert, die 'United States of Amnesia' und die andere These, dass es nur eine Partei in den USA gebe, nämlich die Eigentumspartei, die lediglich zwei Flügel habe, einen linken und einen rechten, nämlich die Republikaner und die Demokraten.

    Er hat zum Beispiel in seinen Essays mal den Versuch unternommen, der amerikanischen Nation den Puls zu fühlen, indem er die Bestseller auf der "New York Times"-Bestsellerliste von der ersten bis zur letzten Seite las. Ich habe diese Idee dann für meine kleine literaturkritische Familiensendung "Druckfrisch" gerne plagiiert und ein bisschen verkürzt - er machte das auf 30 Seiten, ich brauche dafür fünf Minuten, aber die Idee ist einfach brillant. Und solche Ideen hatte eben dieser Gore Vidal. Mir ist noch sehr wichtig ein Theaterstück von Gore Vidal, "Visit to a Small Planet", da kommt ein Außerirdischer auf die Erde, um das zu studieren, wofür die Menschen im Rest des Universums wirklich berühmt sind, was die Menschen am besten können - Krieg führen.

    Köhler: Dramatiker, Drehbuchautor, Romancier, meinungsfreudiger Literat und Intellektueller ...

    Scheck: ... und natürlich ein heiliges Monster, der in einem Atemzug zu nennen ist mit Norman Mailer und Truman Capote, einer der ganz großen kriegsführenden Intellektuellen der USA, natürlich auch seine legendären Auseinandersetzungen mit Mailer oder mit William F. Buckley sind tatsächlich der Stoff, aus dem Literatur-Anekdoten und -Legenden gestrickt sind. Das muss man erwähnen, er hat ja auch zweimal kandidiert, einmal als Kongressabgeordneter, einmal als Senator, er wollte in die Politik gehen, das war ihm auch immer sehr wichtig, dass er in seinem Wahlkreis mehr Stimmen für die Demokraten erhielt als John F. Kennedy.

    Köhler: Ich kann Denis Scheck nicht entlassen, ohne ihn nach einem Tipp zu fragen.

    Scheck: Die Essays - lesen Sie jeden Essay von Gore Vidal, den Sie in die Hände bekommen.

    Köhler: Denis Scheck zum Tod des amerikanischen Schriftstellers Gore Vidal, der 86-jährig in Los Angeles gestorben ist.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.