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Eine DDR von unten

Der historische Roman "Letzte Haut" des 1969 in Greifswald geborenen Volker Harry Altwasser bildet den Auftakt einer Trilogie, deren zweiter Teil "Letztes Schweigen" soeben erschienen ist. Es geht um die letzten Jahre der DDR und um eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung.

Von Ralph Cerstenberg | 02.12.2010
    Einen Abwrackroman nennt Volker Harry Altwasser sein neues Buch. Menschliche Wracks schleppen sich darin, meist betrunken, durch die öde Wirklichkeit eines Landes, dass das Glück dieser Menschen jeden Tag in der Zeitung propagiert. Es ist das letzte Jahrzehnt der DDR, das Altwasser in seinem Roman beschreibt. Abgewrackt wird darin eine ganze Menge.

    "Zum Beispiel eine Vergangenheit, ein Staat und vielleicht sogar diese ziemlich unsägliche Ostalgie, die sich überall breitmacht, da wollte ich ein bisschen was dagegen steuern. (…) Die Bücher, die wir heute so lesen über die DDR, das sind ja immer Leute, denen es ziemlich gut ging und die dann doch ein bisschen lustig und komisch darüber schreiben, aber ich dachte, der graue Alltag muss auch mal erzählt werden."

    Das tut Volker Harry Altwasser in "Letztes Schweigen" gnadenlos. Seine Hauptfigur Robert Rösch ist als Hochseefischer auf See und erinnert sich an seine Vergangenheit. Wie Altwasser wurde er Ende der sechziger Jahre in Greifswald geboren und verbrachte seine Kindheit und Jugend in der Trostlosigkeit der nordostdeutschen Provinz. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, die Mutter, eine Alkoholikerin, bringt den Jungen immer wieder in existentielle Nöte. Nach einem traumatischen Erlebnis mit einem brutalen Heiratsschwindler, bei dem der Junge sogar um das Leben seiner Mutter fürchten musste, tut er alles, um diese in sich gefangene und missmutige Frau bei Laune zu halten.

    "Bier ist im Kühlschrank", rief er aus dem Kinderzimmer und kam in den Flur.
    "Bier, Bier, glaubst du, es geht mir nur um das Bier", sagte die Mutter, ging an ihm vorbei, öffnete den Kühlschrank, holte eine Flasche Hansebräu heraus, goss sich ein Glas voll und zog sich dann erst die Jacke aus. Sie gab ihm die Jacke, und er hängte sie an den Garderobenhaken.
    Als er wieder auf der Schwelle der Küchentür stand, sah er sie mit gierigen Augen das Glas bis zur Neige austrinken. Sie hatte Schaum um den Mund, als sie sich das zweite Glas eingoss und rülpste.

    "Das Restgeld liegt auf dem Küchentisch", sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber die Mutter sah ihn nicht an. So legte er das Matheheft mit der Eins zum Unterschreiben auf den Couchtisch und ging in sein Zimmer zurück.

    Drei Wochen lang hatte er jeden Tag eine Stunde lang Mathe gebüffelt (…) Aber nun sah die Mutter nicht einmal aufs Heft. Er wartete. Ihretwegen hatte er sich solch eine Mühe gegeben, sie hatte er trösten wollen mit der guten Zensur."


    "Das zeichnet ja die Unterschicht auch aus, dass man das Leiden gar nicht so begreift, sondern fortwährend in einen ewigen Kampf hineingeboren ist und den eben weiterkämpft, solange, bis man umfällt, quasi. Ich glaube, er ist sich auch gar nicht darüber im Klaren, dass er leidet, weil er so mit dem Kämpfen beschäftigt ist."

    In einer Welt, in der keine Siege zu erringen sind, in der es vielmehr darum zu gehen scheint, Demütigungen zu ertragen und freudloser Stunden zu überstehen, flüchtet sich der Junge in die Welt der Literatur. Nach und nach liest er sich durch den Bestand der örtlichen Leihbibliothek. Immer wieder lässt Volker Harry Altwasser in seine Erzählung von sozialer Härte und menschlichen Abgründe die kindlichen Phantasiewelten als eine Art Paralleluniversum einfließen. Darin vermischt sich die Sage vom Untergang der Stadt Vineta mit dem Sturm auf das Petersburger Zarenpalais zu einer alptraumhaften Schreckensvision. Der Sprachschatz, den der Junge sich durch das Lesen aneignet, verschafft ihm zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Respekt. In der Schule wird er zum Gruppenratsvorsitzenden gewählt und zur ideologischen Nachwuchsförderung in eine Pionierrepublik delegiert.

    "Das hatte er noch nie, positive Gefühle aus der Gesellschaft heraus zu bekommen. Auch diese Augenblicke, wo er mal nicht kämpfen muss, wo er sich mal zurücklehnen kann und nicht den ewigen Stein hochrollen muss, sondern mal auf so einem Plateau ausruhen kann. Das geht ja nur, wenn von außen positive Gefühle auf einen einströmen, das ist neu für ihn und da ist er natürlich auch unsicher."

    Doch die privaten Überforderungen dauern an. Die Mutter säuft sich mit wechselnden Liebhabern den Alltag erträglich, der Junge muss sich mit seiner Cousine ein Zimmer teilen und wird als Pubertierender, nachdem seine Stiefschwester geboren wurde, in die Vaterrolle gedrängt. Im Herbst ’89, die Montagsdemos sind in vollem Gange, erhebt nicht nur das Volk seine Stimme, sondern auch der Junge, der nun erwachsen geworden ist. Auf einer Geburtstagsfeier konfrontiert er die Mutter mit seinen Vorwürfen.

    "Mit welchem Recht nimmst du mir soviel weg? Keine Gefühle, niemals Gefühle! Frigide! Gefühlskalt! Gefühlsverweigerer, das bist du! Und das willst du auch aus mir machen! Du setzt dich nicht mit der Realität auseinander! Du gibst mir überhaupt nichts mit, keinen Rat, keine Erfahrung, rein gar nichts! Stattdessen wolltest du mir auch noch die Vaterrolle aufdrücken, aber ich bin nicht dein Ehegatte, ich bin dein Sohn! (…) Ich bin schlimmer dran als der letzte Bettler, weil der wenigstens schon mal Mildtätigkeit erfahren hat. Etwas abzumildern, tätig zu sein, um etwas abzumildern, oh Gott, ich habe so eine Angst vor der Zukunft! Wenn ich euch so ansehe, dann habe ich Angst."

    "Er spürt eben, dass jemand ihr Sprache geben muss, damit sie endlich auch mal redet und sich ausredet und dieses letzte Schweigen durchdringt und beendet. Und in dem Augenblick, wo ihm das gelingen sollte, als junger Erwachsener, merkt er eben, dass seine Mutter demenzkrank geworden ist und ewig in ihrer Vergangenheit bleiben wird und immer mehr zum kleinen Mädchen wird und dass dieses letzte Schweigen eben doch nicht überwunden werden kann, sondern wahrscheinlich auf Ewigkeit anhalten wird."

    Die Geschichte einer Mutter-Sohn-Beziehung, die sich so eigentlich überall zutragen könnte, wäre da nicht Volker Harry Altwassers Anspruch, eine DDR von unten zu beschreiben, dem der Autor auf beeindruckende Weise gerecht wird. Der Alkoholismus, der vielen als einzige Fluchtmöglichkeit galt, wird aus der Opferperspektive eines Kindes beschrieben. Die Verwandtschaft des Jungen landet nach und nach im gesellschaftlichen Abseits. Der Onkel geht nach vielen Fluchtversuchen per Ausreiseantrag in den Westen. Die Tante wird nach einer gescheiterten Karriere als DDR-Spitzensportlerin wegen Asozialität ins Gefängnis gesperrt. Vom propagierten Arbeiter-und-Bauern-Paradies bleibt nicht viel mehr als Schäbigkeit und das Gefühl, ausgestoßen zu sein. Erst nach dem Zusammenbruch dieses Staates wird Altwassers Protagonist seinen Weg finden. Er arbeitet auf einem Fischkutter. Wo ihn der hintreibt, steht in einem anderen Buch, aus dem Volker Harry Altwasser schon in diesem Jahr in Klagenfurt gelesen hat. "Letzte Fischer" wird es heißen – die Fortsetzung seines Romans "Letztes Schweigen" und das Ende einer Trilogie.

    "Das dritte Buch, das nächstes Jahr erscheint, soll dann sozusagen das Ende Deutschlands erzählen, indem es aufgeht in ganz Europa, also in der Europäischen Union, symbolisiert durch einen Trawler, der ständig auf See ist. Und das ist genau der Trawler, wo Robert Rösch sich jetzt auch schon zurückerinnert hat. Und im nächsten Buch dann die Zukunftsvision und wie er jetzt lebt und leben wird, wie man überhaupt überleben kann in dieser Welt, in der körperliche Arbeit immer weniger wird und einige doch nicht so hoch spezialisierte Fachkräfte werden können, wie jetzt überall gefordert. Was wird aus denen? Welche Aufgaben können die noch übernehmen, um am Leben zu bleiben?"

    Volker Harry Altwasser: "Letztes Schweigen"
    Matthes und Seitz, Berlin 2010, 254 Seiten, 19,90 Euro.