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Eine Entdeckung

Ungarn ist schon lange als großes Literaturland bekannt. Attila Bartis, Jahrgang 1968, heißt ein Vertreter der jüngeren Generation. Er ist ausgebildeter Fotograf und Verfasser mehrerer Romane. Das Ungarn der Wendezeit, eine gefeierte Schauspielerin, die sich 15 Jahre lang in ihrer Wohnung verbarrikadiert, ihr Sohn, den sie in Beugehaft nimmt - all das kommt in seinem Roman "Die Ruhe" vor.

Von Maike Albath | 30.10.2005
    Es fängt so an, wie normalerweise alles aufhört: mit einer Beerdigung. Andor Weér trifft die notwendigen Vorkehrungen für die Bestattung seiner Mutter. Er hätte den Termin gern noch ein paar Tage hinaus gezögert, um gemeinsam mit seiner Freundin Eszter der Toten das letzte Geleit zu geben, aber, so heißt es von Seiten des Beerdigungsunternehmers, eine längere Aufbewahrung im Kühlraum sei wegen einer neuen Bestimmung nicht möglich. Man könne den Leichnam höchstens einäschern lassen. Das ist schon deshalb undenkbar, weil die Mutter, früher gefeierte Schauspielerin auf den Budapester Bühnen, mehrfach genussvoll demonstrierte, wie sich Tote im Moment der Verbrennung noch einmal aufrichten.

    " Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie sie sich aufsetzte, jetzt allerdings, ohne sich am Thonetstuhl festzuhalten, aber dann fiel mir Eszter ein, dass sie vielleicht doch noch zurückkommen würde, denn ich hätte es gern gehabt, dass sie den verschrumpelten Körper sah, die verkrampften Finger mit den in der letzten Nacht bis zum Nagelbett herunter gebissenen Fingernägeln, daran die sieben Gedenkringe, vom Gedenkring "Julia der Saison" über den "Gedenkring der Freunde der Poesie" bis zum "Gedenkring des Moskauer Theaterfestivals", Ringe, von denen längst die Vergoldung abgegangen war und die ihre Finger grün oder schwarz verfärbt hatten, je nachdem, ob sie aus Kupfer oder Aluminium waren. Ich wünschte, sie hätte das vom Haarspray verklebte, strohgelbe Haar gesehen, auf dem sich die Farbe von Jahr zu Jahr ungleichmäßiger verteilte, während die aschgraue Kopfhaut bereits durchschimmerte, die von der Leichenstarre prallen Brüste, die sie damals, nach kaum anderthalb Monaten Stillzeit, mit Salz eingerieben hatte, damit die Brustwarzen nicht schlaff wurden, vor allem aber wünschte ich mir, sie hätte den Blick der Toten gesehen, jenen Blick, der sich in nichts von dem zu Lebzeiten unterschied und dessen bläuliches Schimmern von Samstag an in der Tiefe eines seit fünfzehn Jahren leer stehenden Grabes leuchten würde, denn man konnte ihr die Augen nicht schließen. "

    Der 1968 geborene Ungar Attila Bartis hat ein Gespür für die makaberen Seiten der menschlichen Existenz, und er hat großartige Einfälle. Zunächst gibt es da den Erzähler Andor Weér, einen jungen Mann Anfang dreißig, Schriftsteller von Beruf, der seine Mutter aus purem Sadismus aufgebahrt sehen will. Endlich weist diese unnahbare Ikone der Schönheit mit dem eiskalten Blick Spuren von Vergänglichkeit auf. Aber kaum sind wir Zeugen seines Hasses geworden, entdecken wir andere Facetten der Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Es scheint sich um eine Schicksalsgemeinschaft der besonderen Art zu handeln, um ein zutiefst ambivalentes Verhältnis. Nach dem kuriosen Auftakt seines Romans Die Ruhe lässt Bartis seinen Helden die Geschehnisse aus der Retrospektive auffächern. Wir befinden uns im Ungarn der Wendezeit, irgendwann nach 1989. Das ganze Land wirkt wie narkotisiert: schemenhafte Gestalten im Dauerrausch, alles ist grau, matschig und kaputt. Von einem euphorisierenden Befreiungsschlag, der die altgediente Nomenklatura hinweg fegt, ist nichts zu spüren. Statt dessen lässt man das alte System einfach verrotten. Die - dazu durchaus passende - Beerdigung bildet die dramaturgische Klammer des Romans, die am Ende wieder aufgenommen und weiter geführt wird, dazwischen durchlaufen wir im Zeitraffer die letzten fünfzehn Jahre, umkränzt von beklemmenden Kindheitserinnerungen und einem schillernden Mosaik aus Szenen, die sich in den vergangenen Monaten zugetragen haben. Rebeka Weér war nämlich schon lange bei lebendigem Leibe begraben: nach einem Eklat am Budapester Schauspielhaus Mitte der siebziger Jahre wurde dem Idol der ungarischen Theaterszene jedes Recht auf Hauptrollen aberkannt. Der Regisseur Fenyö, linientreuer Genosse, ordnete an, die gerade Cleopatra darbietende Rebeka möge mit einer der Sklavinnen tauschen. Fassungslos verlässt der Star die Bühne.

    " Eine schwarze Perücke auf dem Kopf, rannte sie durch die Innenstadt, mit einem Diadem aus Glasbrillanten, einem Büstenhalter mit Glasrubinen und in Sandalen, einen Umhang aus Kunstseide um die Schultern, exakt so, wie sich die Nichte von Genosse Fenyö, inspiriert von einem Plakat für eine französische Revue, Cleopatra vorgestellt hatte. Die Leute trauten ihren Augen nicht, Mütter, die gerade aus dem Kaufhaus der Jungpioniere traten, packten ihre Kinder und drehten ihnen den Kopf zur Seite, wie man Hühnern den Hals umdreht, Ehefrauen ohrfeigten ihre mit weit aufgerissenen Mäulern gaffenden Ehemänner auf offener Straße, der Bus Nummer sieben legte die Strecke vom Platz der Befreiung bis zum Astoria im Schrittempo zurück, denn die Fahrgäste verlangten, er solle Cleopatra nicht überholen. Nur dass keiner dahinterkam, wer die halbnackte Frau mit dem wehenden Umhang war. Sie erkannten ihre eigene Schauspielerin nicht, denn sie hatten sie noch nie mit echten Tränen gesehen, nur mit solchen, die von vietnamesischem Balsam, im richtigen Moment unter die Augen geschmiert, zu fließen beginnen. Wie selbst Antonius Cleopatra noch nie hatte weinen sehen, nicht einmal, als der Postbote den ersten Brief von der Ostküste brachte. "
    Hinter Antonius verbirgt sich natürlich Andor, von der Mutter in die Rolle des Trösters gedrängt, während die Absenderin des Briefes von der Ostküste die flüchtige Tochter Judit ist, Andors Zwillingsschwester und eine hochbegabte Geigerin. Anders als der liebesbedürftige Bruder wollte sie den Fängen der blutsaugerischen Rebeka entkommen und hatte sich nach einem Wettbewerb in Belgrad gen Westen aus dem Staub gemacht, was den Beamten des Kulturministeriums bitter aufstieß. Man versuchte, sie über die Erpressung der berühmten Mutter zurück zu beordern, schließlich sollte Judit ihrem Heimatland als Aushängeschild dienen. In ihrem grenzenlosen Ehrgeiz beschwört Rebeka Weér ihre Tochter zur Rückkehr, was diese dankend ablehnt. Daraufhin hat die Mutter eine teuflische Idee. Aus dem Fundus ihres Theaters bestellt sie einen Sarg, füllt ihn mit Fotos und Noten der Tochter, erwirbt eine Grabstelle, lässt Todesanzeigen drucken, beraumt die Beerdigung Judits an und bringt den papiergefüllten Sarg unter die Erde. Es nützt ihr freilich nichts, denn sie wird trotzdem vom Dienst suspendiert. Von nun an sollte Rebeka Weér keinen Fuß mehr vor die Tür setzten.

    Schon in dem spiegelbildlich eingearbeiteten Motiv der Beerdigung zeigt sich Attila Bartis’ Geschick bei der Konstruktion seines Romans: das Morbide, Pathologische dieser Familie verdichtet sich in gespenstischen Bildern. Dabei tritt er nicht als deutender Psychoanalytiker in Aktion oder reduziert die verkrusteten Abhängigkeiten und chronifizierten Beziehungen auf einengende Formeln. Die Aktionen seiner Figuren sind aussagekräftig genug. Die Distanz zwischen der alleinerziehenden Mutter und ihren Zwillingen - über den ebenfalls westflüchtigen Vater erfährt man erst viel später Näheres - drückt sich schon in der Anrede aus: die Kinder siezen Rebeka. Als Judits Postkarten aus Übersee ausbleiben, entscheidet sich Andor, im Namen seiner Schwester Briefe über die neuesten Konzerte und Auftritte zu verfassen, die er irgendwelchen reisenden Freunden mitgibt. Aus allen Winkeln der Welt treffen Nachrichten von Judit ein. Wieder zeigt sich Attila Bartis' Einfallsreichtum, denn er lässt die Mutter antworten. Auf diese Weise entspinnt sich eine Korrespondenz mit vertauschten Rollen, die zu der allgemeinen Beziehungsverwirrung passt. Der Sohn ist nicht der Sohn, sondern der Partner der einsamen Mutter, die Schwester ist nicht die Schwester sondern eine Mutter für ihren Bruder. Überhaupt ist die Figurengestaltung äußerst subtil - sowohl in ihren Physiognomien als auch in ihren Eigenarten, Vorlieben und Animositäten gewinnen alle Akteure eine unmittelbare Präsenz. Allen voran natürlich Andor, dem man als Leser gleichermaßen Zuneigung und Ablehnung entgegen bringt, was von Attila Bartis bewusst forciert wird. Von seiner Mutter als Friedhofswärter für die mit Theaterrequisiten vollgestopfte Wohnung rekrutiert, erregt der fügsame Sohn unser Mitleid. Gleichzeitig ahnt man, dass er einen Gewinn aus diesem perversen Arrangement ziehen muss. Bereits die Beschreibung der Wohnung löst ein Gefühl von Klaustrophobie aus - sie erinnert an eine Gruft oder an eine dieser Mülltonnen aus den Theaterstücken von Samuel Beckett. Für Rebeka Weér ist es ihre letzte Bühne, und an ihrer zeitgenössischen Variante der Medea spielt sie sich buchstäblich zu Tode. Denn eine letzte Waffe ist Andor geblieben: er schreibt. Er verfasst Erzählungen, und nach einer Weile hat er damit einen bemerkenswerten Erfolg, was er der Beharrlichkeit seiner Freundin Eszter verdankt. Als Andor Eszter eines Nachmittags auf der Freiheitsbrücke anspricht, atmet man kurzzeitig auf - endlich ein Lichtblick inmitten der apokalyptischen Verwicklungen, endlich eine normalere junge Frau und keine misshandelte Prostituierte oder abgehalfterte Kneipenwirtin. Zwar hat auch Eszter Beschädigungen erlitten, über die sie beharrlich schweigt, aber sie ist fähig, andere Menschen wahrzunehmen. Und sie entfesselt Andors Begierde und damit eine archaische Kraft.

    "Du bist wirklich verrückt, hier geht es nicht, sagte sie, aber ich spürte schon, wie ihre Brustwarzen prall wurden, ich spürte, wie ihr Kitzler steinhart wurde, ganz wie jene Kristalle, die unten, in der Tiefe des Bergwerks, weicher sind als ein Meeresschwamm, aber sobald das Sonnenlicht sie trifft, härter werden als Rosenquarz. Ich spürte die Finger an meiner Hose, wie sie sich hineinzwängten, ich hörte, wie ihr Herz klopfte. Der gesamte gastronomische Betrieb Ostbudapests, der dank einer außergewöhnlichen göttlichen Vorsehung den ganzen Vormittag über von niemandem betreten wurde, hallte vom Hämmern ihrer Herzklappen wider. - Weiter, keuchte sie, im Schutz des Ecktisches in dem riesigen Saal, und als meine Hand am tiefsten Punkt im Labyrinth ihrer Lust angekommen war, presste ich ihr die andere auf den Mund, denn ich wusste, dass von ihrem Aufschrei das gesamte Personal hereinstürzen würde. Dass die Kellner sofort zur Stelle wären und die Küchenmädchen angerannt kämen, doch selbst dann gäbe es kein Zurück mehr. Ich wusste, dass nicht einmal ein ganzes Polizeibataillon sie aufhalten könnte. Noch eine Bewegung und sämtliche Ölquellen Kuwaits und sämtliche Geysire Islands würden gelb vor Neid. Plötzlich wurden die an der Heizung festgebundenen Plastikblumen lebendig, das Linoleum mit dem Marmormuster und die kubistische Deckenverschalung begannen zu wogen, die Neonbeleuchtung glühte auf, und die wehenden Nylonvorhänge loderten, als habe man über das Kabel eines Bügeleisens Strom ins Restaurant Rosmarin geleitet, dessen Schließung kurz bevor stand. Dann wackelten die Wände, der ganze Sozrealismus mit den beiden Bierkrügen und den vollen Aschenbechern wurde in seinen Grundfesten erschüttert, dann sank Eszter auf den Tisch, und auch ich wäre auf ihre Schulter gesunken, wenn im fernen Dämmerlicht nicht die durch und durch anthropomorphe Gestalt Gottes aufgetaucht wäre und gefragt hätte, ob wir noch etwas wünschten, und ich sagte, ich wisse es nicht, oder doch, er solle noch zwei von dieser Sorte bringen. "

    Das kann Attila Bartis also auch: Sexszenen schreiben. Wann hat man so etwas zuletzt gelesen? Bei der schottischen Schriftstellerin A.L. Kennedy vielleicht, mit der der gleichaltrige Bartis die Vorliebe für Gewalt und die Untiefen des Trieblebens teilt. Bei beiden ist Sexualität ein Abbild für die Komplexität der menschlichen Seele, und beide Schriftsteller besitzen ein Gespür für Pathos und eine große Sprachmacht. Immer wieder gelingen Bartis einprägsame Vergleiche - inmitten der Ausweglosigkeit und totalen Verwahrlosung blitzen plötzlich poetische Momente auf. Ein Körper ist leichter "als ein Haufen Herbstlaub", ein Mann kriecht "wie Efeu, wie eine Nacktschnecke" auf einen Frauenbauch, der "Faden des Nichts" umwebt die Mutter "wie eine Spinne den Rosenkäfer". Aber auch in der Anordnung der Figurengruppen überzeugt der Roman: Die Ruhe entwickelt sich dem Grundkonflikt entsprechend über Dreieckskonstellationen, es handelt sich um eine Reihung von symmetrischen Verhältnissen. Die Sache beginnt mit einer ménage a trois zwischen Mutter, Vater und der Geliebten des Vaters, dann folgen die Zwillinge mit der Mutter, schließlich Andor, Eszter und die Mutter. Eine tragische Zuspitzung ergibt sich, als Andor seiner Lektorin Eva Jordan verfällt und sich das inzestuöse Motiv noch einmal wiederholt: Eva, Andor, Eszter lautet der Bauplan jetzt, und die Anordnung implodiert, als sich herausstellt, dass Eva bereits die Geliebte von Andors Vaters war. Dieses Strukturprinzip hat nichts Schematisches, sondern besitzt eine ungeheure Sogkraft. Obwohl Andor, ähnlich wie Camus’ Held Meursault in Der Fremde, durchaus abstoßende Seiten entwickelt, folgt man dem Ich-Erzähler fasziniert auf seinem sexuellen Höllenritt. Die inzestuöse Mutter-Sohn-Gemeinschaft ist paradigmatisch für die Verkommenheit aller menschlichen Beziehungen in einem Gesellschaftssystem, das dem Individuum permanent Gewalt zufügt. Schließlich gilt das Inzesttabu als erste Stufe in einem zivilisatorischen Prozess. Wir lesen von Katastrophen, wie sie in griechischen Tragödien und im Alten Testament geschildert werden, was sich auch in den biblischen Vornamen der Frauenfiguren andeutet. Eszter droht an Andors familiärem Dilemma zugrunde zu gehen.

    " Wie ein zerschlagenes Ei, aus dem ein wildes Tier die Eizelle herausgerissen hat, lagen zerrissen die Fetzen der Mondkugel auf der Matratze. Ich stand in der leeren Wohnung herum, und plötzlich wurde mir klar, warum sie sich anstelle des Vollmonds ein Baby gewünscht hatte, und ich glaubte, dass ich sie beide noch rechtzeitig finden würde. Ich telefonierte die Krankenhäuser durch, im Kútvölgyi hatte ich Glück, aber als ich dort ankam, sagte die Schwester, dass sie aus der Gynäkologie bereits in die Psychiatrie verlegt worden sei, Besuchszeit erst wieder morgen. - Sie ist meine Frau! Brüllte ich den Pfleger auf dem Flur an. - Ich lass dich feuern, wenn du mich nicht zu ihr lässt! Ich bin Schriftsteller, ich kann dich feuern lassen, du Scheißkerl! - und sie lag auf Nummer vierzehn, am vergitterten Fenster, die Gliedmaßen fixiert. "

    Attila Bartis versteht es, eine Spielart des Tragischen für unsere Zeit zu entwickeln. Nichts an seinem Roman Die Ruhe wirkt reißerisch, aufgesetzt oder pseudodramatisch. Der gelernte Fotograf praktiziert kein effekthascherisches Schreiben aus der Creative-writing-Konserve, von bundesrepublikanischen Arrangements im Biedermeier-Stil fehlt jede Spur. Bartis geht aufs Ganze. Und ähnlich wie wir es aus den Büchern von A.L. Kennedy oder Terezia Mora kennen, besitzt sein Erzählen eine existenzielle Dimension. Atmosphärisch erinnert Die Ruhe an frühe Werke Albert Camus’ oder Sartres, auch der Amsterdamer van der Hejden fällt einem ein. Bartis’ ästhetischer Wagemut lässt sich vielleicht aus der historischen Lage Ungarns heraus erklären, aus den Geschichtsbrüchen, die ein Angehöriger seiner Generation verkraften musste. Auch sprachlich zeigt sich der Schriftsteller auf der Höhe seines Stoffes. Die spinnenwebartigen Satzgebilde voller Nebenordnungen und Appositionen, die sich oft über eine halbe Seite hinziehen, bilden die Überwachungsmanie und den Kontrollwahn der Mutter noch einmal ab. Bedrängend in ihrer Prägnanz sind nicht zuletzt die Nebenfiguren. Da gibt es Jolika, die Wirtin der Kellerkneipe Balkanperle, die schon morgens die Gestrandeten mit Alkohol versorgt und Andor anvertraut, wie ihr Lokal zu seinem Namen kam. Oder die volltrunkene, ausgemusterte Hure in ihrem roten Jerseykleid mit ihren 25 Vogelbauern im Schrank, lauter Tiere mit gebrochenen Flügeln. Und es gibt Pater Lazar, Priester in einem Provinznest und Besucher einer Lesung von Andor, der gleich zu Beginn die Abgründe des jungen Schriftstellers spürt und als einziger so etwas wie Mitgefühl entwickelt. Man kann diese schwarze Geschichte auch als eine Parabel auf das gebeutelte Ungarn lesen. Die dahin vegetierende Mutter und das morsche politische System scheinen einander zu entsprechen. Nachdem der eiserne Vorhang gefallen ist, forscht Andor über das Rote Kreuz nach seiner Schwester und erfährt von ihrem Selbstmord. Kurz nach ihrer Ausreise hatte sie sich mit einer Geigensaite die Pulsader aufgeschnitten. Als Eszter nach Rumänien reist, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen, verlässt auch Andor zum ersten Mal seit Jahren für längere Zeit die Wohnung. Nach ein paar Tagen kehrt er zurück.

    " Die Nadel ist wohl auch schon ziemlich hinüber, dachte ich an der Tür, weil ich hörte, dass der Plattenspieler knisterte. Seit Jahren war etwas kaputt, der Abspielarm schwenkte nie an seinen Platz zurück. Der Teppich war mit Judits Briefen übersät, Verehrte Mutter, gestern hatte ich einen Auftritt in Amsterdam, Verehrte Mutter, heute habe ich einen Auftritt in Lissabon, Verehrte Mutter, morgen habe ich einen Auftritt in Montreal - in zeitlicher Reihenfolge, ausgelegt wie eine Patience, und dann sah ich, dass meine Schreibtischschublade aufgebrochen war, und von den an Nirgendwo-Hotels adressierten Briefumschlägen bis zu den völlig sinnlosen Anträgen auf Entschädigung war alles ausgeräumt, und meine Mutter lag in mottenzerfressener Straßenkleidung auf meinem Bett, die zerfetzte Zigeunerin aus Caracas und die Reste der Benachrichtigung vom Roten Kreuz in der Hand, und für einen Moment glaubte ich, sie lebte noch, denn ihre Augen waren geöffnet, und sie schaute durch mich hindurch wie durch Milchglas. "

    Am Ende gibt es eigentlich nur noch Scherben aufzusammeln, alles, wirklich alles scheint zerstört. Ein Hoffnungsschimmer deutet sich an, ganz am Schluss, im letzten Satz, sehr zaghaft. Aber es gibt ihn.