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Eine Familie in Pommern

Jan Koneffke schildert in seinem Roman "Eine nie vergessene Geschichte" eine vier Generationen umfassende Familiensaga vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis nach dem zweiten Weltkrieg. Schauplatz ist Freiwalde, ein Ostseedorf in Pommern.

Von Andrea Gnam | 27.08.2008
    Wenn die Lieben bereits verstorben sind und die Epoche, aus der sie stammen, schon längst untergegangen ist, zirkulieren oft noch deren Sprüche und Lebensweisheiten als geflügelte Worte im Familienkreis und überleben so noch eine Weile im Gedächtnis der Kinder und Enkel. Wie ein musikalisches Leitmotiv ziehen sich solche Aussprüche durch die bei DuMont erschienene Familiensaga von Jan Koneffke. "Wir kommen ja nicht aus der Walachei", lautet der eine. Er stammt von Mathilde, der Magd. Sie ersetzt den vier Kindern des Schulmeisters die Mutter Clara, die sich, psychisch erkrankt, seelisch schon früh von ihren Kindern abgewendet hat. "Wenn das kein Fehler ist, heiße ich Josefin Baaker", ist ihr anderer Spruch. Trefflich paart sich dieser Kommentar mit der Einsicht des Postkutschers: "Es kommt schlimmer, als es bereits ist" oder der grimmigen Sentenz des Vaters Leopold: "Aus diesem wurmstichigen Holz, das sich Menschheit nennt, wird man nie etwas Rechtes schnitzen!".

    Koneffkes kunstvoll erzählter Roman "Eine nie vergessene Geschichte" umspannt das Schicksal von vier Generationen. Die Luft von Fontanes Romanwelten weht noch in Freiwalde, einem Ostseeort in Pommern, dem Schauplatz des Geschehens. Als junge Frau ist Clara ihrem Mann, dem Kant und Schopenhauer verehrenden Schulmeister Leopold aus Stettin, in die Provinz gefolgt. Das karge Leben dort bleibt ihr so fremd wie die philosophischen Studien und Ansichten ihres unbeugsamen Mannes. Und vor den Dorfbewohnern gruselt sich die junge Frau: vor der Korbmacherwitwe Bertha, die das Schicksal aus Erbsen oder Innereien liest, ebenso wie vor dem wettergegerbten, einäugigen Schafhirten Pressel. Dieser will die Befindlichkeit der Leute an ihrem Geruch erkennen, und er predigt Demut und Achtung gegenüber kleinen Dingen und Wesen, ja selbst vor dem Staub. Von Claras vier Buben ertrinkt der eine im Kindesalter, der zweite bleibt als junger Mann im ersten Weltkrieg. Mit dem Tod des ersten Kindes, den sie übergeht, als sei nichts geschehen, setzt Claras Abkehr von der Realität ein. Später lässt sich von der Kriegsbegeisterung zu abstrusen Einsätzen hinreißen und will auch den Fronttod des zweiten Jungen nicht wahrhaben. Während sie erste Zeichen des Irrsinns zeigt, verwahrlost ihr Mann, angewidert vom Krieg, über die Schriften Kants gebeugt, in seinem Studierzimmer. Felix, der Jüngste, ein hochbegabter Klavierspieler, tröstet sich über den Tod des Bruders, den Streit im Elternhaus und die Entbehrungen des ersten Weltkriegs am "Lauenburger Kasten" mit dem Bachschen Choralvorspiel. Seine Jugendliebe, die sanfte Emilie, die später seinen Bruder Ludwig heiraten wird, der als Buchhalter eine sichere Zukunft bietet, ist die Einzige, die die Macht des "Lauenburger Kastens" versteht.

    "Und sie kicherte nicht, als er sagte, wenn er am Klavier sitze, herrsche kein Krieg - und sein Bruder Friedrich sei nicht an der Front und Julius nie in der Wipper versunken und Mutter vertrage sich wieder mit Vater und es regne Kartoffeln und Buttermilch, Eier und Zimtstangen und Pudding vom Himmel." (S. 74)

    Felix stürzt in seelisches Elend, als Mutter die Klaviersaiten bei der Sammelstelle für kriegstauglichen Rohstoff abliefert. Um Felixens Geschichte, der als junger Mann vor der Ehe mit der herrischen Schwester von Emilie im Tross eines Pianisten flieht, rankt sich der Roman. In der Familie gilt Felix wegen der verlassenen Braut und seiner niederschmetternden Laufbahn vom Dorforganisten zum Kaschemmenpianist als schwarzes Schaf, über das man nicht spricht. Nie hat seine Braut, die sich schon früh zu einer strammen Nationalsozialistin entwickelt, ihm seine Flucht verziehen. Ihre glücklich verheiratete Schwester, mit deren Familie sie über weite Phasen ihres Lebens zusammenlebt, muss ihre Launen und Grausamkeiten ertragen. In sicheren Strichen wird mit diesem Familiendrama das Psychogramm einer Epoche entworfen, deren Schatten allmählich am historischen Horizont entschwindet: die Enge der Jahrhundertwende, die anfängliche Kriegsbegeisterung, dann der Schock des ersten Weltkrieges, die heraufziehende Nazizeit, die Härte gegenüber den Kindern, der Aufstieg vom Volkschul- zum Hochschullehrer, der für den Kant-begeisteren Enkel nach dem zweiten Weltkrieg möglich ist. Was bleibt sind die Freiwalder Lebensweisheiten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, auch wenn sie zu Floskeln geronnen sind, weil die Antworten der Zeitgenossen nicht überliefert wurden.

    In der vierten Generation unternimmt der Erzähler mit seinem alten Vater Konrad, dem Sohn von Emilie und Ludwig, eine Reise nach Freiwalde. Hier erst zeigt sich, wie fern die Epoche selbst den Zeitzeugen geworden ist. "Wenn man seiner Erinnerung zu nahe kommt, (...) verschließt sie sich und wird zum Traum eines Fremden", resümiert der alte Herr gegenüber dem Sohn, die Wiederbegegnung mit den Stätten seiner Kindheit. Die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation ist fließend, und so nimmt sich der Erzähler im Gespräch mit dem Vater vor, das Leben vom verschollenen Großonkel Felix und seiner Familie, so, wie wir es gerade gelesen haben, zu erfinde - zu keinem anderen Zweck, als "um den Staub zu ehren", wie der Schafshirte Pressel zu sagen pflegte.

    Jan Koneffke: Eine nie vergessene Geschichte.
    DuMont, 318 S., 19.80 Euro