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Eine Frage des Neids

In seinem neuesten Werk "Warum die Deutschen, warum die Juden?" führt der Historiker Götz Aly die Entstehung des Antisemitismus in Deutschland auf hauptsächlich eine Ursache zurück: den Neid der Christen.

Von Conrad Lay | 15.08.2011
    In seinem neuen Buch erweitert Götz Aly die Thesen aus seinem vor sechs Jahren erschienenen Werk "Hitlers Volksstaat". Damals hatte er hervorgehoben, die Deutschen hätten die Verfolgung der Juden gut geheißen, weil sie davon materiell profitiert hätten - eine These, die in dieser Zuspitzung etwas grobschlächtig gestrickt war. Nun differenziert der Historiker die Begründung, indem er gewichtige historische, soziale und psychologische Komponenten einbezieht. Aly hält wenig von Erklärungen, wonach das Großbürgertum oder das Großkapital den Nazis zum Sieg verholfen hätten. Mit solchen Schutzbehauptungen werde die Verantwortung nur auf eine kleine Gruppe abgeschoben und der Frage ausgewichen, warum der Großteil der deutschen Gesellschaft Hitler unterstützt habe.

    Stattdessen macht sich Aly daran, in der deutschen Mentalitätsgeschichte der vergangenen 200 Jahre zu graben. Der Judenhass, so der Historiker, entstand nicht aus nationalen Überlegenheitsfantasien, sondern aus Unsicherheit und sozialem Neid. Gerade die Ängstlichen und von Minderwertigkeitsgefühlen Geplagten seien zu modernen Antisemiten geworden. Plakativ formuliert er: "Die Schwachen sind die Gefährlichen." Woher aber diese Desorientierung, diese Unsicherheit? Viele Juden, so führt Götz Aly aus, hätten die Chancen, die Gewerbefreiheit und sozialer Aufbruch im 19.Jahrhundert boten, wahrgenommen und hohen Wert auf Bildung gelegt. Das unterschied sie von der christlichen Mehrheit der Deutschen. Götz Aly kommentiert:

    "Das waren nämlich alles Analphabeten, Bauern im Wesentlichen, das Elementarschulwesen in Deutschland war ganz stark vernachlässigt bis in die 1880er-Jahre hinein, während die Juden alle seit jeher eigentlich durch ihre Religion alphabetisiert waren, zwar hebräisch, unterschiedliche Sprachen konnten, und so haben Sie den Zustand am Ende, dass um 1900 Juden in Prozentsätzen zehnmal so häufig Abitur gemacht haben wie christliche Deutsche, dass sie fünfmal so viel verdient haben vor dem Ersten Weltkrieg, immer im Durchschnitt, und die Effekte, die daraus entstanden sind, die beschreibe ich in dem Buch: Und da ist der Neid und die Gleichheitssehnsucht und der Volkskollektivismus, das Minderwertigkeitsgefühl der Deutschen gegenüber den Juden - sind ganz starke Momente, die es hervorzuheben gilt."

    Andererseits war Deutschland in den 1880er-Jahren wie auch Mitte der 1920er eine Aufstiegsgesellschaft, und man hätte erwarten können, dass sich die aufstiegswilligen Christen liberalen Einstellungen öffnen. Dass es nicht so gekommen ist, versucht Götz Aly mit der verhängnisvollen Tradition des Antiliberalismus in Deutschland zu begründen.

    "Zum Einen wird der Liberalismus von innen heraus zerstört, dafür steht der Name Friedrich Naumann, ein sozialdemokratisierter Imperialist, der den Namen, den Begriff Liberalismus missbraucht hat, und auch die Sozialdemokratie, die ihren Hauptfeind im liberalen Gedankengut sah, genauso wie die Konservativen. Und diese Schwäche, dieser Kampf gegen den britischen Liberalismus, verstärkt im Ersten Weltkrieg und dann noch mit Nationalismus zusammengefügt, das macht die deutsche Geschichte aus, dieses Missverhältnis zum Liberalismus."

    Aly setzt sich also für eine Ehrenrettung des politischen Liberalismus ein, die allerdings heutigen Liberalen gar nicht gefallen dürfte. Er sieht die NSDAP als eine Partei blockierter Aufsteiger an, nicht etwa als Organisation von gescheiterten Existenzen und Deklassierten, wie oft behauptet. Hitler habe den sozialen Aufstieg der arischen Deutschen zum Schwerpunkt seiner Reden gemacht. Die vom Neid erfüllten Deutschen schämten sich für ihre Missgunst gegenüber den scheinbar besser gestellten jüdischen Nachbarn: Das machte sie anfällig für die Hitlers Rassentheorie. Götz Aly führt aus:

    "Wenn sich eine Gruppe minderwertig fühlt und eine andere, die offenkundig schneller ist, die bessere Examina macht, als Kaufleute erfolgreicher ist, insgesamt gesehen und im Vergleich, dann hat es keinen Zweck, den eigenen Neid immer auszuleben, weil der schwächt ja den Neider selbst. Insofern neigen natürlich - und das können Sie bis heute beobachten als soziales Phänomen - die Schwachen eher zum Kollektivismus als die Starken, und Kollektivismus, dann auch in Form der Rassenlehre ausgeprägt, ist ein Anzeichen für Schwäche, nicht etwa für Stärke."

    Aus diesem Grunde habe Hitler den populären Antisemitismus zu einem terroristischen Staatsantisemitismus weiterentwickeln können. Insoweit legt Götz Aly eine in sich stimmige, stringente Argumentation vor. In seiner Betonung liberaler Freiheiten schüttet Aly allerdings das Kind mit dem Bade aus. Er setzt "völkische Ideologie" mit "Volkskollektivismus" gleich und diesen wiederum mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit. So wirft er auch Sozialdemokraten, Gewerkschaften, ja den Begründern der katholischen Soziallehre vor, der Gewalt der Nazis ungewollt Vorschub geleistet zu haben. Ganz offensichtlich übertreibt Aly hier mit seinem Furor gegen jegliche Gleichheitsvorstellungen. Sicher ist es richtig, dass viele Sozialdemokraten und Kommunisten zu den Nazis übergeschwenkt sind. Das spricht aber nicht gegen die Vorstellung sozialer Gerechtigkeit, sondern gegen deren Beschränkung auf bestimmte Kreise, in diesem Fall auf die arischen Deutschen. Das Buch Götz Alys endet pessimistisch. Wenn die Ursachen des Antisemitismus zu einem Gutteil in der sozialen Mentalitätsgeschichte liegen, dann können sich Katastrophen wie der Holocaust "der Struktur nach" unter ähnlichen Umständen wiederholen, siehe den Mord der bäuerlichen Hutu an der gebildeten Tutsi-Minderheit oder den Völkermord der vergleichsweise rückständigen Türken an den agilen, geschäftstüchtigen Armeniern. Die Menschen von heute sind nicht so völlig anders als die Antisemiten von gestern. Diese eindringliche Mahnung von Götz Aly ist auch im Sinne einer Prävention zu verstehen.

    Götz Aly: "Warum die Deutschen, warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 – 1933 S. Fischer Verlag, 352 Seiten, Euro 22,95, ISBN: 978-3-100-00426-0