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Eine Fülle von Eindrücken

In Museen hängen Fälschungen. In Museen treffen sich Verschwörer und heimliche Liebespaare. Aus Museen verschwinden wertvolle Objekte. In Museen wird Geschichte entsorgt. Die Mehrheit der Besucher gibt sich in Museen ziemlich abgeklärt; so findet man also auch den so genannten "Kunstheuler" eher selten. Es gibt Ausnahmen, über die man ins Nachdenken kommen kann: Da kniet dann ein Besucher ehrfurchtsvoll vor einem Bild nieder.

Von Sabine Peters | 21.09.2006
    Walter Grasskamp ist Kunstkritiker und Professor für Kunstgeschichte in München; soeben hat er ein Lesebuch über "sonderbare Museumsbesuche" herausgebracht. Es ist nicht die erste Anthologie zu diesem Thema, aber Grasskamp hat Überschneidungen vermieden. Sein Buch versammelt Romanauszüge, journalistische und essayistische Texte, die einander ergänzen oder widersprechen. Grasskamp selbst kommentiert die jeweiligen Themenschwerpunkte, ob es nun um das Museum als enttäuschenden Rummelplatz geht oder um das Museum als Ort der Inspiration. Er lässt bekannte wie unbekannte Autoren zu Wort kommen, das geht von Goethe und Fontane über Fanny Lewald, Michel Leiris, Arno Schmidt bis zu Peter Weiss, Peter Rühmkorf und Raymond Federmann. Hinzu kommen Artikel, die in den letzten Jahren im "Spiegel", der "Zeit", der "FAZ" und der "Süddeutschen" erschienen sind.

    Michel Tournier erzählt in seinem Roman "Goldtropfen" von einem jungen Algerier, der in der Sahara aufwuchs und kurz vor seiner Abreise nach Paris, wo er als Arbeitsimmigrant leben wird, in ein algerisches Museum gerät. Dort beschreibt ein Reiseführer den weißen Touristen das Wüstenleben, erklärt Arbeitsinstrumente, Essensregeln und dergleichen. Der junge Schwarze hört von alldem, was er als Kind und Jugendlicher ganz selbstverständlich praktiziert und beachtet hat, ohne seinerzeit von irgendeiner Systematik zu wissen. Der Reiseführer und das Museum selbst, das seinesgleichen hinter Glas zeigt, entreißt den Schwarzen seines eigenen Ich, seiner Identität. Es entlebendigt.

    Das Museum will allerdings auch ein Ort der Verlebendigung sein, wobei es hier zu Exzessen kommen kann, die einen ebenfalls skeptisch machen: Was ist davon zu halten, wenn Museumsausstellungen heutzutage teilweise wie eine Fortsetzung der Disko mit anderen Mitteln betrieben werden? Da es auch bei der Museenkultur gewissermaßen um die Einschaltquote geht, sprich um Geld und Geschäft, holt man die potentiellen Kunden ab, wo immer sie auch stehen mögen. Da wären dann etwa die Esoteriker, die Sinn- oder einfach-nur-Spaßsucher. Nachdem die Kunst sich aus der Bindung an die Religion befreit hatte und dem analphabetischen Volk nicht mehr nur die Bibel ausmalte, nachdem Kunst nicht mehr nur mahnend und erbaulich wirkte, wurde ihre Funktion gerade darin verstanden, aufzurütteln und zu verstören. Damit ist es vorbei - jedenfalls in diversen zeitgenössischen Ausstellungen, die das Museum zum Wellnesszentrum machen. Kunst als Reflex auf den wachsenden Körper- und Gesundheitskult: Die Museenbesucher treiben in Becken voll warmem Salzwassers, atmen in einer Aerosolkammer viel frischen Sauerstoff; und die Macher faseln so eklektizistisch wie dreist von der therapeutischen Wirkung indianischer und schamanischer Kunst, auch und gerade für den heutigen Internetmenschen.

    Der hohe Reiz des Buchs über "sonderbare Museumsbesuche" liegt in der Fülle der Eindrücke und Einschätzungen. Über 60 Beiträge, nicht mitgerechnet Grasskamps eigene Kommentare. Da bleibt bei allem Spannendem, Wissenswerten und durchaus auch Witzigem nicht aus, dass einem mancher Text nicht zusagt oder Widersprüche auslöst. Nicht jeder Huster, den jemand zum Thema Museum äußert, hätte gedruckt und hier noch einmal abgedruckt werden müssen, selbst wenn es sich um Größen wie Kandinsky oder Rühmkorf handelt.

    Grasskamp selbst, dessen gründliche und hilfreiche Kommentare dem Buch gut tun, irritiert da, wo er pauschalisierend mit Peter Weiss abrechnet und der "Ästhetik des Widerstands" gerade das vorwirft, was ihre Qualität ausmacht, Vielstimmigkeit. Bedauerlich ist auch, dass den "sonderbaren Museumsbesuchen" zwar die Nachweise der jeweiligen Originale beigefügt sind, aber keine biographischen Angaben. So muss man sich selbst auf die Suche beispielsweise nach Fanny Lewald machen, die in ihrem italienischen Bilderbuch von 1847 leidenschaftlich, sprachmächtig und klug die Funktion des bürgerlichen Museums analysierte, Zitat: "wie selten die Menschen den Mut einer Meinung haben... da bleiben sie mit den Interjektionen >Göttlich! Oh! Schön! Erhaben! < vor den Schilderungen von Martyrien stehen, gegen die jede Faser menschlicher Empfindung sich sträubt.... einer sieht den anderen an, und alle ziehen die gleiche Miene. Und alle machen sich aus der göttlichen, reinen Freude an der Kunst, die frei das Schöne liebt, was ihr gefällt, einen sklavischen Kultus, in dem sie in starrem Autoritätenglauben nach dem Handbuch bewundern und tadeln".

    Grasskamps "sonderbare Museumsbesuche" sind so empfehlenswert, weil sie Anstöße geben, sich selbst eine eigene Meinung zu bilden und nicht zuletzt, genauer hinzusehen und nachzudenken, wenn man das nächstemal in den heiligen Hallen wandelt: Warum starrt der Museumswärter ein bestimmtes Bild so boshaft an; will er sich an ihm vergreifen? Wenn Museen sich - auch - Minderheiten widmen, warum gibt es noch keins für Rheumatiker oder für nichtanerkannte Pianisten? Man sieht, die Welt ist bunt, und auch die museale.

    Walter Grasskamp: Sonderbare Museumsbesuche. Von Ingeborg Bachmann bis Tom Wolfe. C.H. Beck-Verlag, 320 S, 16 Abbildungen, 19,90 Euro