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Eine Ikone des Niedergangs

Lange galt Detroit als Inbegriff des amerikanischen Traums. Doch der Lack ist ab. Die einstige Motor-City ist zum Sinnbild des Abstiegs geworden. Und doch reisen immer mehr Menschen nach Detroit. Es sind jene, die nach Abenteuern suchen und in den Ruinen den Neuanfang vermuten.

Von Andreas Main | 18.11.2012
    Auf dem Eastern Market vor der Karaokebar – hier sollte eine Detroit-Reise beginnen. Und wer jung ist oder sich jung fühlt, sollte bei Privatanbietern oder im Hostel übernachten.

    "My name is Emily Doerr. And I am 27 years old. From Michigan. Currently live in Detroit. And in 2011 opened Hostel Detroit."

    Emily Doerr ist 27 und hat ein Hostel gegründet. Das Hostel: 300 Detroiter haben es mit aufgebaut. Sie haben Geld und Möbel gespendet - oder ihre Arbeitszeit.

    "So I looked, what do world class cities have all over the world - they have hostels. And so I thought Detroit needs one too."

    Die gebeutelte Stadt braucht ein Hostel, dachte Emily Doerr.

    "So this goes straight out into our garden space and to our patio space and backyard, and then we have out movies here in summer sometimes."

    Mit Michel Soucisse gehen wir raus in den Garten. Er managt das Haus. Früher hätte man gesagt: Er ist der Herbergsvater. Am anderen Ende des Grundstücks wird gerade ein Community Garden angelegt. Freiwillige helfen. Das gemeinnützige Hostel ist umgeben von Wiesen und innerstädtischen Farmen. Es liegt in Corktown.

    "Corktown ist ein urbanes und zugleich ländliches Viertel. Es gibt hier überall diese großen offenen Grundstücke, die regelmäßig gemäht werden. Man lebt fast ein bisschen wie in einem Park. Es ist auch nicht besonders schmutzig oder vermüllt. Es tut sich so eine Weite auf. Ich kann anderthalb Kilometer weit sehen! Und überall schießen Farmen aus dem Boden. Hier: Acre Farm, die haben gerade angefangen. Wahrscheinlich denken viele Leute, die das erste Mal hier sind, es könnte gefährlich sein, weil so viele leere und baufällige Häuser hier rumstehen. Aber dann stellt sich doch relativ schnell dieses Gefühl ein, das einem hier nichts passieren kann (lacht), fast wie auf dem Land. "

    Ein Gebäude vergisst Michel Soucisse zu beschreiben, obwohl dort hinten – ein Kilometer Luftlinie entfernt – ein grauer Block aus den Wiesen ragt. Eine Ikone des Niedergangs.

    "Oh, ja, das ist Michigan Central Station. Damals, 1913, war das der größte Bahnhof in den Vereinigten Staaten. Und heute ist es wohl eine der berühmtesten Ruinen in Detroit. In unzähligen Filmen taucht sie auf. Ich bin froh, dass wir sie haben. Nein, diese Ruine macht mich nicht traurig, ich liebe sie."

    Dort fahren wir hin, an ausgebrannten Einfamilienhäusern und leer stehenden Grundstücken vorbei. Ein Fasan fliegt auf. Die Straßen sind leer.

    Wir treffen Gary Schwartz. Er ist einer der Ambassadors des Hostels. Ein Botschafter seiner Stadt. Die Idee: Detroiter zeigen Besuchern, was sie mögen und was sie nicht mögen - das, was sie spannend finden in ihrer Stadt. Gary Schwartz macht mit uns seine Postindustrial Apocalyptic Landscape Tour. Man könnte auch sagen: eine unterhaltsame Besichtigung des Verfalls.

    "Mich persönlich beeindruckt dieser Anblick mehr als die Ruinen in Rom. Detroit ist voll mit Überresten aus dem Industriezeitalter. Mich zieht das an: diese vergessene und untergegangene Welt. Ich suche das, wovor andere weglaufen."


    Michigan Central Station: Im Prinzip ist das ein verlassener Bahnhof mit einem Hochhaus obendrauf. Der letzte Zug fuhr hier vor mehr als 20 Jahren. Heute steht das Gebäude wie ein Gerippe auf einer grünen Wiese. Gary Schwartz ist Künstler. Er war mal für den Oscar nominiert, als er noch in Los Angeles lebte. Jetzt ist er bekennender Detroiter.

    Ein paar Kilometer weiter: Packard Plant. Hier wurden einst legendäre Autos gebaut. Heute reiht sich eine verlassene Fabrikhalle an die nächste – etwa zwei Kilometer lang. Alle entblößen ihre Eingeweide. Sprayer haben Spuren hinterlassen. Und immer wieder brennt es.

    "Da oben – das war mal ein Stockwerk. Das bricht alles zusammen wegen der Scrapper, wie wir sie nennen. Diese Schrotthändler klauen Metall: alles, was das Gebäude zusammenhält. Bis es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. Die reißen das Ganze Innenleben raus."

    Gary findet hier eine Pistole, dort ein Schulbuch, das in die deutsche Sprache einführt.

    "Das war damals der größte Industriekomplex der Welt. Hier wurden Packards gebaut, Luxuskarossen. Seit rund 50 Jahren steht das leer."


    Dann wird es halbwegs illegal. Wir fahren nach Belle Isle, einer Insel im Detroit River. Dort leistete sich die Stadt einmal einen Zoo. Wir schlagen uns ins Gebüsch.

    "Are you ready? Put your hands together and if you have a God or whatever just ask forgiveness or something before we go in."

    Ob wir bereit seien? Und wenn ja, dann sollten wir schnell noch mal die Hände falten, und wenn wir an einen Gott oder an was auch immer glauben, so Gary, dann sollten wir ihn noch mal um Vergebung bitten.

    Dann kriechen wir durch ein Loch im Zaun, eine Stahlleiter nach oben und stehen im verlassenen Zoo von Detroit. Auf einem zugewachsenen Holzsteg. Der führt um die Anlage herum. Früher muss das faszinierend gewesen sein: Man konnte von oben auf Affen, Elefanten oder Bären schauen. Jetzt hört man Vögel zwitschern. Kraut wuchert. Im Steg sind Löcher. Das Holz ist morsch. Es fühlt sich an wie in einer anderen Welt.

    "Ihr müsst wirklich total aufpassen, wo ihr hinlauft! Viele Bäume sind umgestürzt. Hier kann alles Mögliche passieren. Kein Scherz! Das ist echt in schlechtem Zustand. "


    Kein regulärer Stadtführer würde in einen verlassenen Zoo eindringen. Auch ein klassischer Reiseführer würde dazu schweigen. Anders womöglich diese drei Geschwister:

    "My name is Emily Linn."
    "My name is Andy Linn, I'm Emilys younger brother, I'm 29."
    "I'm Rob Linn, I'm the youngest sibling."


    Die drei Geschwister Andy, Emily und Rob Linn, alle um die 30 Jahre alt, bringen gerade einen Reiseführer heraus. In einer Stadt wie Detroit ist dies erwähnenswert.

    "Seit den 80er-Jahren gibt es keinen richtigen Detroit-Reiseführer. Nicht einen einzigen. Wir haben zwei Läden in der Stadt: City Bird und Nest. Da haben wir dauernd Kontakt mit Menschen, die Detroit entdecken wollen. Und alle wissen nicht so recht, wo sie anfangen sollen. Und da haben wir damit begonnen, maßgeschneiderte Stadtpläne und Tourvorschläge zu entwickeln. Und seitdem wünschen wir uns ein Buch, mit dem die Leute Detroit wirklich erleben können. Es braucht einen Zugang zu dem, was hier gerade so los ist."


    Aber auch dieses Buch wird nichts daran ändern, dass es in Detroit keinen klassischen Tourismus gibt. Es richtet sich an jene, die gern als urban explorer bezeichnet werden, also Reisende, die ihre Touren eher wie Expeditionen anlegen und nach dem Speziellen suchen. Nach den Geheimtipps. Die haben die drei Geschwister gesucht und gefunden, und viele Detroiter haben mitgeholfen.

    "Wir sind 30 Autoren. Rund 300 Menschen haben Vorschläge gemacht, was rein muss ins Buch."

    Am Ende sind es 700 Tipps für eine Detroit-Reise geworden. Die Geschwister Linn verlegen diesen Reiseführer selbst, das Geld haben sie im Internet gesammelt. Mit einem Detroit-Reiseführer kann man kein Geld verdienen. Noch nicht. Und so ist auch dieses Projekt, wie so viele in Detroit, ein gemeinnütziges Projekt.

    Joe Krause hat auch Geheimtipps auf Lager, macht aber auch Downtown-Führungen.

    "My name is Joseph C. Krause. And I live in Corktown. In what our neighbors call "The Bumblebee House". I host travellers via AirBnB. And I produce music and work in film. "

    Joe Krause hat auch einen eigenen Blick auf seine Stadt. Krause ist Musiker, Filmemacher und: Er vermietet Zimmer. Und zwar via AirBnB, einer Internetplattform, die - wie beim Couchsurfing – weltweit Privatmenschen zusammen bringt. Das bedeutet: Der Reisende bekommt Einblick in ein Detroit, wie es Detroiter erleben.

    "Das hier ist keine boomende Innenstadt, so würde ich das nicht nennen. Aber seit einem Jahrzehnt gibt es eine stetige Verbesserung. Es ist ein Werktag – und immerhin: Hier laufen tatsächlich einige Menschen rum, und es fahren auch ein paar Autos. Das ist schon mal ermutigend. "

    "Wir sind hier im Zentrum von Downtown. Und wenn wir uns ein 100 Jahre altes Panoramafoto von diesem Platz ansehen würden, dann würden wir nichts von dem finden, was heute hier rum steht. Nur dieses Denkmal dort. Aber selbst das ist um 200 Meter verlegt worden. Nichts von dem, was es hier vor 100 Jahren gab, ist geblieben. Das ist unser Trauma. Wir haben alles abgerissen. Wir waren irre in den 60er-Jahren: Wir haben fast die gesamte Innenstadt platt gemacht."

    Wir laufen ins Renaissance Center, dort wo der Autokonzern General Motors residiert. Eine Beton-Landschaft wie in einem Science-Fiction aus den 70er-Jahren. Dann fahren wir mit dem People Mover. Das ist eine futuristisch anmutende Hochbahn auf Stelzen, die fahrer- und fast geräuschlos eine kleine Runde um Downtown macht. Von den Einheimischen zumeist belächelt.

    "Für den People Mover gab es in den 70er-Jahren einen Zuschuss der Regierung in Washington. Damit sollte ein Transportsystem für Detroit aufgebaut werden. Dieser Ring des People Movers sollte eigentlich die einzelnen Linien miteinander verbinden – wie eine Nabe. Aber dieser People Mover ist das Einzige, was fertig wurde. Die Nabe haben wir also bekommen, aber nicht die Speichen. "


    So wie Joe Krause ist auch Todd Mistor im Privatleben AirBnB-Gastgeber. Auch er sagt nicht Nein, wenn man ihn fragt, ob er eine kleine Tour macht zu jenen Orten, die ihm wichtig sind. Wir spazieren und fahren durch sein Viertel. Alles dreht sich darum, wie diese Stadt wieder erblühen kann. Todd war mal katholischer Priester, jetzt ist er urban forester. Er ist verantwortlich für die Bäume am Straßenrand.

    "Dort, auf der anderen Straßenseite, der tote Baum - die Stadt ist verantwortlich für diesen Baum. Also eigentlich ich. Aber weil der Baum nicht direkt neben einem Haus steht, hat er keine Priorität. Natürlich müssten wir uns um jeden toten Baum kümmern. Aber wir schaffen das nicht. Es braucht einfach Geduld."

    Todd Mistor arbeitet viel. Selbst in seiner Freizeit kümmert er sich um leere Grundstücke, sowohl um die eigenen als auch um die von Freunden oder Nachbarn. Er mäht hier, pflanzt dort Bäume oder schneidet Hecken zurück.

    "Alles, was mir gehört, soll so aussehen, dass die Leute denken: Es gibt einen Besitzer. Ich will, dass es gepflegt aussieht. Wenn es wirkt wie eine Müllkippe, dann nutzen die Leute es auch als Müllkippe. Ich will einfach einen kleinen Beitrag leisten und meinen Nachbarn dabei helfen, dass sie sich wohlfühlen in ihrem Eigentum. Wenn ich leere Grundstücke pflege, dann macht das den Nachbarn womöglich Hoffnung, dann könnte es ja sinnvoll sein, auch das eigene Haus zu pflegen."

    So könnte eine kleine Insel der Hoffnung neben der nächsten wachsen, sagt Todd Mistor. Und so gibt es in Detroit beides: Projekte und Geschäftsideen - aber auch den Verfall, die Armut, die brennenden Häuser. Und so stellt sich auch immer wieder die Frage, ob es gefährlich ist, nach Detroit zu reisen. Auch Michel Soucisse vom Hostel wird diese Frage immer wieder gestellt. Und er beantwortet sie wie fast alle, die hier leben:

    "Nein, auf keinen Fall. Nein, es ist in Detroit eher ungefährlicher als in anderen Städten. Klar, ich kenne die Zahlen, wonach wir ganz oben stehen, was die Kriminalitätsrate betrifft. Aber es ist so leer hier, das kann ja gar nicht gefährlich sein. Es gibt zwar einige heikle Ecken. Aber wenn ich angerufen werde und Gäste mich ständig fragen, ob es gefährlich hier sei, dann sage ich oft: "Bring doch einfach eine Kalaschnikow mit, dann wird alles gut." Und die meisten lachen dann."

    Und wer es zum Auftakt einer Detroit-Reise nicht geschafft hat, dann ist der Besuch des Eastern Markets ein würdiges Finale. Hier kulminiert alles, was Detroit ausmacht. Hier wird das Biogemüse verkauft, das auf den innerstädtischen Farmen und in Gemeinschaftsgärten geerntet wird. Hier treffen sich Reich und Arm, Schwarz und Weiß. Das Leben pulsiert. Vor einer Bar wird gegrillt. Dazu gibt es Karaoke. Hello Detroit. Das kann eine hochemotionale Angelegenheit werden. Davor sei gewarnt. Hier auf dem Eastern Market kann es passieren, dass Besucher sich in diese Stadt oder besser in ihre Bewohner verlieben und dann auch singen: "I will always care for you". Ich werde mich immer um Dich kümmern. Hello, Detroit.