Donnerstag, 25. April 2024

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Eine intime Geschichte der Menschheit

Intim - das Wort führt hier in die Irre. "Intimate" heißt es im englischen Original, und gemeint ist nicht die Erotik in der Menschheitsgeschichte, sondern das Fühlen, Hoffen und Fürchten der Menschen, ihr Umgang miteinander und die Werte, die sie im Verlauf ihrer Entwicklung jeweils an die höchste Stelle gesetzt haben. Heute ist es zum Beispiel die Erkenntnis und Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit. "Früher haben junge Frauen einen Mann gesucht, heute suchen sie sich selbst", schreibt der Autor. Ein schlichter Satz, der uns unerlaubt allgemein erscheint und doch die Sache genau trifft. Um zu Erkenntnissen zu kommen, die sich in solch schlichten und wahren Sätzen niederschlagen, muß man viel geforscht, aber auch viel erfahren haben. Theodore Zeldin, ein englischer Historiker, jetzt 64 Jahre alt, der lange in Oxford gelehrt hat, weiß vieles, was andere Historiker nicht wissen - weil es sie nicht interessiert. Er stellt Fragen, die andere Wissenschaftler als unwissenschaftlich abtun würden. Die Antworten aber lohnen sich - auch wenn sie nur zu weiteren Fragen führen.

Martin Ebel | 10.12.1997
    Zeldin hat zahlreiche Gespräche mit Franzosen geführt (immer war Frankreich sein bevorzugtes Studiengebiet; aber die Ergebnisse sind ohne weiteres auf unser Land zu übertragen). Die Kapitel seiner "Intimen Geschichte der Menschheit" tragen Überschriften von hochtrabender Allgemeinheit: "Warum es nie genug Toleranz gegeben hat" oder "Wie Respekt attraktiver wurde als Macht", aber jedes dieser Kapitel fängt ganz konkret an: immer mit dem Porträt eines Menschen. Von dem will Zeldin alles wissen: Warum er den Beruf ausübt, den er ausübt; ob er zufrieden ist; wie seine Kindheit war; was er für Träume hat; was er vom Leben noch erwartet; wie er mit anderen Menschen zurechtkommt. Zeldin ist ein guter Gesprächspartner und ein guter Verwerter. Die Befragten werden nicht zu Untersuchungsobjekten, sie bleiben Menschen; aber was sie beizutragen haben, führt schnell ins allgemeine. Zeldin zeigt, daß das, was sie als ihr ganz eigenes empfinden, doch geprägt ist von Denkmustern, die generationenweit zurückreichen. Und - Zeldins historisches Wissen ist enorm - flugs sind wir in anderen Zeitaltern, anderen Kontinenten, anderen Kulturen.

    Auf die berühmte Schillersche Frage "Wie und zu welchem Zwecke studieren wir Universalgeschichte" würde Zeldin antworten: Weil sie uns hilft, unser Leben hier und heute zu führen. Was er dem Leser anzubieten hat, ist so etwas wie das "Gedächtnis der Menschheit". Es gibt kein Problem, das nicht im Verlauf der Kulturgeschichte alle erdenklichen Lösungen gefunden hat - und wir haben den Vorteil, meint Zeldin, alle diese Lösungsversuche betrachten oder ausprobieren zu können.

    Wie geht man mit der Einsamkeit um, wie mit der Furcht? Welche Möglichkeiten des Umgangs zwischen Männern und Frauen gibt es jenseits der Liebe und der körperlichen Anziehung? Wie erträgt man, daß Menschen Unterschiedliches glauben und verehren? Ist Mitleid nur eine andere Form von Egoismus? Warum sind manche Menschen Optimisten, andere Pessimisten? Warum sehen sich die einen als ihres Glückes Schmied, die anderen dem Schicksal hilflos ausgeliefert? Warum haben die Menschen heute mehr Zeit als früher und doch das Gefühl, keine Zeit zu haben? Keine Frage erhält eine erschöpfende Antwort, aber keine Antwort ist ohne Reiz, ohne Nutzen. Zum einen, weil es immer hilfreich ist, das eigene mit dem fremden Blick zu sehen - sei er geographisch oder historisch entfernt. Zum anderen, weil die Geschichte der Menschheit aus dieser Perspektive wie ein immenses Laboratorium anmutet - alle sozialen und emotionalen Substanzen und Ingredienzien werden unentwegt gemischt und erhitzt, reagieren miteinander und bringen aus den alten Zutaten immer neue Verbindungen hervor.

    Und immer waltet die Dialektik, treibt die These ihre Antithese, jede Erscheinung ihr Gegenteil hervor. So kann der Drang nach Wissen auch in Dogmatik erstarren, sind ganze Zivilisationen auf den Schätzen ihrer Kenntnisse eingeschlafen - die Inder, die Chinesen, die Araber.

    So kann, ein anderes Beispiel, aus Angst Mut entstehen, ja Angriffslust, und umgekehrt entpuppt sich die Aggressivität nicht selten als Frucht von Ängsten. Die Wikinger, erzählt Zeldin, waren tapfer aus Furcht, für ängstlich gehalten zu werden. Noch größer als ihre Furcht vor dem Feind war also die Furcht vor dem Ansehensverlust. Die Wikinger sind also ein Beispiel, wie man Ängste überwindet. Und nun springt Zeldin in der Historie munter hin und her, vom Hölzchen zum Stöckchen, von Angst zu Angst. Die ganze Reformation, sagt er, war eine Revolution gegen die Angst: nämlich die, auf ewig in der Hölle zu braten. Dann ist er bei der modernen Angst, einen falschen Eindruck zu machen, bei Selbstinszenierung und Image, Public Relations und Reklame. Und das alles angestoßen von einer kleinen Näherin aus Roanne, die im Gespräch mit Zeldin bekannte, sich als Versagerin zu fühlen und immer gefühlt zu haben.

    Die Methode, die Zeldin in seiner "Intimen Geschichte der Menschheit" anwendet, hat bei aller Faszination also auch etwas Irritierendes, sie hinterläßt zuweilen das Gefühl des Unfertigen, Halbgaren. Zeldin ist ein vorzüglicher Erzähler, der die schwersten Dinge leicht macht und sein umfassendes Wissen auf unangestrenge Art vermittelt. Er formuliert glänzend und hat bei der Wahl seiner Vergleiche und Bilder eine glückliche Hand. Aber in dieser Leichtigkeit des Lehrens liegt auch eine Gefahr. Die Dinge selbst setzen ihrem allzu freundlichen Verwerter Widerstände entgegen: Das Wissen der Welt läßt sich nicht mit Siebenmeilenstiefeln durcheilen, es will durchpflügt werden. Aber den Einwand kann jeder für sich selbst widerlegen, indem er da innehält, wo er sich selbst ge- und betroffen fühlt, und auf die Suche nach mehr geht: mehr Wissen, mehr Erkenntnis, und - davon ist Zeldin zutiefst überzeugt: mehr Lebensglück.

    Historiker sind gemeinhin keine Optimisten, dazu wissen sie zuviel. Zeldin ist einer: Für ihn hat der Weltgeist mit der Menschheit noch viel vor. Mitnichten hat diese schon alles ausprobiert. Auf Zeldins Projektliste für das 21. Jahrhundert steht etwa eine neue Form der Freundschaft zwischen Männern und Frauen. Es steht darauf eine Form des Mitleids, die nicht der eigenen Befriedigung, sondern der Individualität des anderen dient. Und so etwas Schlichtes wie das allgemeine Sabbatjahr, das uns einen neuen Umgang mit Zeit lehren könnte, daran anknüpfend auch mehr Distanz zu Karrierezwängen und Geld, letztlich auch mehr Toleranz untereinander. Es gibt viel zu tun, sagt uns dieser Historiker: Packen wir's an!