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"Eine Kraft, mit der zu rechnen ist"

Wer folgt auf Gaddafi, wenn er denn geht? Laut Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik könnte die Antwort wie in Ägypten lauten: die Muslimbrüder. Ob diese Organisation sich aber zu einer nationalen Bewegung auswachsen werde, sei ungewiss.

Isabelle Werenfels im Gespräch mit Christian Bremkamp | 22.02.2011
    Christian Bremkamp: Erstmals seit Beginn der Unruhen in seinem Land hat sich der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi zu Wort gemeldet. Im Staatsfernsehen sagte er in der Nacht, er sei in Tripolis und nicht in Venezuela. Gaddafi trat damit Spekulationen entgegen, wonach er Libyen bereits verlassen haben soll. Das Land versinkt derweil in Chaos und Gewalt. Die arabische Region befindet sich im Umbruch. Der Rest der Welt beobachtet die Ereignisse mit Hoffnung, aber auch mit Sorge. In Tunesien und in Ägypten scheinen, die Zeichen zwar auf Demokratisierung zu stehen. Doch wie entwickelt sich die Lage in Libyen? Informationen fließen nur spärlich. Die Herrscherfamilie ist offenbar bereit, ihren Führungsanspruch mit allen Mitteln zu verteidigen. Am Telefon begrüße ich jetzt eine Kennerin des Landes: Isabelle Werenfels von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Frau Werenfels.

    Isabelle Werenfels: Guten Tag, Herr Bremkamp.

    Bremkamp: Staatschef Gaddafi meldet sich im Fernsehen zu Wort, widerspricht Gerüchten, er habe sich nach Venezuela abgesetzt. Wie lange, glauben Sie, wird er sich noch an der Macht halten können?

    Werenfels: Ich wage da keine Prognosen. Ich meine, die Frage ist, wie viel Ressourcen er noch hat, wie viel Gewalt er noch anwenden kann. Dass er Gewalt anwenden will, ich glaube, daran kann man nicht zweifeln, aber die Frage ist, ob er überhaupt noch über so viele Waffen und Personen verfügt, dass er das auf die Dauer aufrecht erhalten kann, und ich glaube, sehr lange kann es nicht mehr dauern.

    Bremkamp: Auf wen, auf was kann er sich denn noch stützen? Wir haben ja auch gehört, dass in einigen Teilen des Landes die Lage außer Kontrolle geraten sein soll.

    Werenfels: Also er kann sich wahrscheinlich noch auf seinen Stamm stützen, er kann sich auf die Leute stützen, die sehr stark profitiert haben jetzt unter seiner Herrschaft und die natürlich alle Angst haben, mit ihm unterzugehen. Das werden aber immer weniger. Es haben sich auch bereits prominente revolutionäre Weggefährten abgesetzt, wenn man den wenigen Meldungen, die aus dem Land dringen, glauben will, und das ist schon ein Zeichen, dass sich selbst Leute aus seiner Nähe, auch gestern der Justizminister, absetzen, dass er sich letztlich ganz zum Schluss noch auf seine Familie stützen kann, und auch innerhalb der Familie hat es ja immer wieder Differenzen gegeben in der Vergangenheit. Ich nehme an, dass die auch nicht kleiner geworden sind über das Vorgehen.

    Bremkamp: Welche Rolle spielen denn diese Familienmitglieder? Wir hatten hier zuletzt auch einen seiner Söhne im Fernsehen gesehen.

    Werenfels: Ja. Dieser Sohn galt ja immer als der Reformer und ich habe das so interpretiert, dass Gaddafi versucht hat, seine letzte Trumpfkarte oder vermeintliche Trumpfkarte zu ziehen, und der Sohn hat auch alle Register gezogen. Das schien mir eine Verzweiflungstat des Vaters zu sein, weil der gerade diesen Sohn in den letzten Monaten eher kaltgestellt hatte und der sich nicht äußern durfte, und dann hat man den Reformer wieder hervorgebracht, der dann aber nicht nur Reformen angekündigt hat, sondern auch dem Volk mit Bürgerkrieg gedroht hat.

    Bremkamp: Man wundert sich ja ein bisschen: erst Umsturz in Tunesien, dann Umsturz in Ägypten, und Herr Gaddafi scheint das alles offenbar gar nicht wahrgenommen zu haben. Oder wie erklären Sie sich das?

    Werenfels: Er war von Anfang an relativ nervös, sonst hätte er auch das tunesische Volk nicht öffentlich verurteilt, hat er umgehend getan, hat Ben Ali verteidigt. Ich glaube aber – und das ging ja auch allen Leuten, die Libyen ein bisschen kennen, so -, dass man gedacht hat, so schnell wird das nicht übergreifen, weil die libysche Gesellschaft eine ganz andere ist - es ist eine Stammesgesellschaft -, weil Gaddafi unglaubliche Ressourcen hat finanzieller Art, also durch die Erdöl-Rente, und das kann er natürlich taktisch und strategisch einsetzen, hat er aber nicht sehr geschickt eingesetzt in der Vergangenheit. Er hat eine ganze Region, den Osten des Landes, da wo auch die Stadt Bengasi liegt, und die Stämme, die da sind, vernachlässigt über Jahrzehnte, und das rächt sich jetzt.

    Bremkamp: Sie sagen, Stammesgesellschaft. Ist Libyen in irgendeiner Weise mit Afghanistan vergleichbar und auch den Gefahren, die dadurch drohen?

    Werenfels: Ich kenne Afghanistan jetzt zu wenig, um das mit Sicherheit sagen zu können, aber es ist sicher auch verwandt mit einem Staat wie Saudi-Arabien, wie Jemen, in denen Stammesstrukturen gesellschaftlich eine unglaublich wichtige Rolle spielen und eben auch politisch instrumentalisiert werden können, beziehungsweise wo Stammesführer auch politisch mitreden wollen. Und man könnte – darüber kann man nur spekulieren, was nach Gaddafi sein wird, aber es wird sicherlich zu Auseinandersetzungen auch unter den Stämmen kommen.

    Bremkamp: Also droht da möglicherweise auch ein Auseinanderbrechen des Landes oder könnte das drohen?

    Werenfels: Im Moment weiß man wirklich nicht, was kommen wird. Die Frage ist: Gibt es eine Person, die das alles zusammenhalten kann? Im Moment ist absolut niemand in Sicht. Es hat keine Parteien gegeben. Gaddafi ließ niemanden hochkommen. Seine ehemalige Nummer zwei hat er 1993 kaltgestellt, Herrn Dschalut, und es ist natürlich möglich, dass so jemand wieder rauskommt, aber ich glaube auch, die Zeit dieser Leute ist vorbei. Es ist jetzt die junge Generation, die zuerst rebelliert hat, inzwischen wahrscheinlich die Mehrheit der Bevölkerung, aber ich glaube, dass da neue Leute kommen werden, aber es kann dauern, bis eine Person da ist, die alles zusammenhält. Und dann ist auch sehr die Frage, ob das jetzt auf demokratische Weise geschieht oder nicht.

    Bremkamp: Wie muss man sich denn die Regierungs-, die Verwaltungsstrukturen in Libyen vorstellen? Ist da wirklich alles in der Hand dieses Gaddafi-Clans, oder gibt es so eine Art Ministerpräsidenten für Regionen, oder?

    Werenfels: Das gab es alles! Es gab ja so pseudo-direktdemokratische Strukturen und es gab auch etwas Ähnliches wie ein Parlament, Minister etc. Aber das Problem in Libyen war immer, dass Gaddafi quasi ein institutionelles Chaos angerichtet hat und dieses auch institutionalisiert hat. Keine Institution wusste wirklich, was ihre Kompetenzen sind. Es wurde permanent etwas Neues geschaffen, etwas Altes abgeschafft. Das heißt, er hat mit diesem Faktor der Unsicherheit immer regiert, übrigens auch in seiner Familie. Die Söhne konnten sich nie sicher sein, dass sie, auch der Reformsohn, der immer wieder vorgeschickt wurde, dass er über längere Zeit in der Gunst des Vaters steht. Also Gaddafi hat alle so verunsichert, und das war eines seiner Herrschaftsinstrumente.

    Bremkamp: Wie steht es denn um die Lebensverhältnisse in Libyen? Demonstrieren die Menschen auch, weil es Armut gibt, oder wie muss man sich das Leben dort vorstellen?

    Werenfels: Natürlich, und das ist in Libyen ein unglaublicher Skandal, weil Libyen in Nordafrika die absolut höchsten Pro-Kopf-Einnahmen hat durch den Erdöl-Reichtum. Das ist einfach unglaublich ungleich verteilt worden, und auch da ist der Osten sehr, sehr stark benachteiligt worden, aber nicht nur der Osten, eben auch die jungen. Und dann gibt es kaum Perspektiven. Und das Bildungssystem? Es gibt zwar wenig Analphabeten, das muss man sagen, aber das Bildungssystem war nicht so, dass jetzt zum Beispiel ausländische Firmen libysche Fachkräfte einstellen können. Die haben immer händeringend nach Libyern gesucht, die sie einstellen konnten, weil da einfach die Ausbildung so schlecht war. Das heißt, die Leute haben überhaupt keine Perspektiven gehabt, die junge Generation, wie in den anderen Staaten auch, aber aus anderen Gründen, nicht wie in Tunesien, sehr gut ausgebildete und keine Jobs, sondern in Libyen theoretisch schon auch Jobs, aber eben nicht die Bildung, die sie dazu gebraucht hätten.

    Bremkamp: Mit der Bitte um kurze Antwort: Sie haben eben gesagt, es gibt eigentlich keine Opposition im Land, es gibt keinen Kopf im Land, der folgen könnte. Gibt es denn jemanden, der im Exil vielleicht ist?

    Werenfels: Die Exil-Opposition ist sehr, sehr zerstritten. Es stimmt nicht, dass es keine im Land gibt; es gibt keine organisierte. Wer im Land relativ stark ist, auch im Osten des Landes, sagt man immer, kann man natürlich nicht beweisen, sind die Muslimbrüder und die haben sich in den vergangenen Jahren mit dem Regime arrangiert, vor allem mit dem Sohn Saif al Islam, einfach aus Sorge vor der Repression. Aber das ist sicherlich eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Aber ähnlich wie in Ägypten haben sie der Gewalt abgeschworen und dürften relativ pragmatisch sein. Aber ob sich das zu einer nationalen Bewegung auswachsen wird, weiß man auch nicht.

    Bremkamp: Isabelle Werenfels war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Ich danke Ihnen für das Gespräch.

    Werenfels: Ja, gerne geschehen.