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Eine Kritik an der israelischen Erinnerungspolitik

Gehört Israel den Juden? In seinem Buch zeichnet der israelische Historiker Shlomo Sand nach, wie Bibelwissenschaftler und Zionisten im 20. Jahrhundert zusammenwirkten, um territoriale Ansprüche auf das "Land der Väter" zu begründen.

Von Sigrid Brinkmann | 29.11.2012
    Das Leiden an der israelischen Besatzungspolitik wie den zionistischen Geschichtsklitterungen treibt Shlomo Sand an, Mythen zu dekonstruieren, die sich um den "ethnischen Raum" des "Landes Israel" ranken. Detailliert und quellenreich zeichnet er nach, wie Bibelwissenschaftler und Zionisten im 20. Jahrhundert zusammenwirkten, um territoriale Ansprüche auf das "Land der Väter" zu begründen und diese im kollektiven Bewusstsein der Israelis und der jüdischen Diaspora zu verankern.

    "In Israel lehrt man Schüler, die Geschichten aus der Bibel wie Tatsachenberichte zu lesen. Mit der Bibel wird auch die Besatzung gerechtfertigt. Gott hatte den Juden das Land versprochen und also gehört es ihnen. Ich versuche zu erklären, dass der Begriff des Vaterlandes für die jüdische Tradition nie von Bedeutung war. Man findet ihn weder in der Bibel noch im Talmud. Juden fühlten immer eine religiöse Verbundenheit mit dem Heiligen Land, aber diese Empfindung war nie an Besitzdenken gekoppelt."

    Gehört Israel den Juden? Diese Frage durchzieht das Buch, und Shlomo Sand beantwortet sie bereits im einleitenden Teil mit einer persönlichen Geschichte. Im Sechstagekrieg verloren die Israelis ihre Unschuld - so der Autor. Sand erzählt, dass er sich im Juni 1967 beim Überschreiten der israelisch-jordanischen Grenze - anders als die meisten seiner soldatischen Kameraden - keinesfalls als "Heimkehrer" fühlte, sondern als Eindringling. Drei Monate nach dem Sieg über Ägypten, Jordanien und Syrien sowie deren Unterstützer absolvierte er seinen Reservedienst in Jericho. Der damals 21-Jährige wurde Zeuge eines Ereignisses, das er als die "Wasserscheide" seines Lebens begreift.

    Ein alter Palästinenser, der mit einer großen Menge von Dollarscheinen auf der Straße festgenommen worden war, wurde in den Verhörraum gebracht. Ich stand vor der Polizeistation Wache, als ich plötzlich furchtbare Schreie hörte. ( ... ) Der alte Mann saß gefesselt auf einem Stuhl, während meine lieben Kameraden ihn am ganzen Körper schlugen und brennende Zigaretten auf seinem Arm ausdrückten. ( ... ) Kurz darauf fuhr ein Pritschenwagen mit der Leiche des "reichen" Greises auf der Ladefläche davon. Meine Kameraden riefen mir zu, sie führen zum Jordan, um ihn loszuwerden.

    Über vierzig Jahre nach dem Mord bekennt Shlomo Sand, dass ihn das "unerträgliche Herrentum" israelischer Soldaten in den besetzten Gebieten ängstlich und kopflos gemacht habe. Seine späte Beichte fügt sich in die immer länger werdende Liste von Zeugnissen, die israelische Bürger sammeln und veröffentlichen. Sie dokumentieren gravierende Rechtsverletzungen, mitunter auch kapitale Verbrechen, die Armeeangehörige begingen. Dem Vorwort des Buches korrespondiert die Nachbetrachtung, in der Sand Israels Neigung zum vorsätzlichen Vergessen beklagt.

    "Nachdem ich die Einleitung geschrieben hatte, machte ich sofort mit dem Epilog weiter, denn darin formuliere ich das Ziel des Buches. Es macht mir große Probleme, dass sich mein Arbeitsplatz in der Universität auf einem Stück Land befindet, das vor 1948 ein friedliches arabisches Dorf war. Sechzig Professoren haben seit der Gründung der Universität Tel Aviv das Fach Geschichte gelehrt, und nicht einer hat dieses Dorferwähnt."

    Die Geschichte des vergessenen Dorfes Al-Scheich-Muwannis beweist für Shlomo Sand, wie sehr die "nationale Gegenwart" sich ihre "Vergangenheit zurechtknetet". Schließlich befinden sich auf den Überresten des palästinensischen Dorfes nicht nur die Universität, sondern vier Museen. Sand nennt sie "Flagschiffe des institutionalisierten Erinnerns". Ihre Funktion bestehe allein darin, den Anspruch auf das "Land der Väter" historisch zu unterfüttern.

    "Ich akzeptiere keine Forderungen, die sich auf historische Rechte berufen. Das Recht der Israelis, im Nahen Osten zu leben, leitet sich einzig aus dem Fehlen jeglicher Alternativen her."

    Sand zeichnet nach, wie sich im späten 19. Jahrhundert die mentale Kluft zwischen dem "historischen Judentum" und dem "jüdischen Nationalismus" vertiefte und wie rabbinische Lesarten des Ausdrucks "Land Israel" in einen "explizit geo-nationalen Terminus" umgemünzt wurden. Die einen fürchteten die Entweihung der "heiligen Erde", die anderen hatten keinen Zweifel daran, dass man einen "ethnischen Raum" brauche, um "zu erbauen und erbaut zu werden".

    Sand sammelt Textstellen, die das Exil heiligen und die Gläubigen vom "Land der Bibel" fern zu halten versuchten. Bei dem berühmten Philosophen Maimonides findet sich kein Wort von einer Pflicht, sich im "Heiligen Land" anzusiedeln; dennoch haben Historiker, so Sand, Maimonides im 20. Jahrhundert zu "einer Art zurückhaltendem Protozionisten" gemacht.

    Man muss schon bibelfest sein und die Schriften jüdischer Gelehrter kennen, um die von Shlomo Sand vehement kritisierte Indienstnahme des "Eigentumstitels Erez Israel" mitvollziehen zu können. In Blogs finden sich wütende Attacken auf ihn, weil er behauptet, dass weder in der Bibel noch im Talmud das "Konzept" eines "Land Israel" formuliert sei. Und weil er verdächtigt wird, mit seiner Zionismus-Kritik Antisemiten das Wort zu reden, bekommt er zunehmend mehr Hass-Mails und Drohbriefe. Die Frage, warum Bibelwissenschaftler es zuließen, dass die Zionisten biblische Texte national interpretierten, quittiert der Historiker mit einer abgeklärten Geste.

    "Alles wird missbraucht. Die Faschisten haben aus Hegel einen Staatstheoretiker gemacht und die Französische Revolution hat sich an den Ideen Jean-Jacques Rousseaus vergriffen. Die Zionisten haben halt die Bibel missbraucht, um ihre Siedlungspolitik zu rechtfertigen. ( ... ) Man vergisst schnell, dass der Zionismus nicht mit dem Judentum gleichgesetzt werden darf. Im Gegenteil, er lehnte sich dagegen auf."

    Und schon ereifert sich Shlomo Sand darüber, dass der Zionismus keine globale jüdische Nation, sondern "nur ein israelisches Volk geschaffen" habe - dessen konfessionell gemischte Existenz er gleichwohl leugne. Die Idee einer jüdischen Nation hält Sand für obsolet.

    "Das Jüdische hat im weltlichen Leben keinerlei Gemeinsamkeit gestiftet. Juden siedeln freiwillig nicht in Israel. Von Woody Allen bis Henryk M. Broder ziehen sie es lieber vor, sonstwo zu wohnen. Da, wo ich zuhause bin, halten sie es nicht aus. Die Zionisten haben eine israelische Kultur geschaffen – Kino, Theater, Literatur -, aber eine säkulare jüdische Kultur, die gibt es nicht."

    Schlussendlich wird Shlomo Sand explizit, und nichts anderes hat man erwartet. Wenn er Wendungen wie "die Vergangenheit und Gegenwart des ewigen jüdischen Volkes" benutzt, dann, um sie mit Forderungen zu verknüpfen. Die jüdische Geschichte in "Erez Israel" darf nicht ausgespielt werden gegen die palästinensische. Israel, so Sand, habe die Pflicht, "das Unglück anzuerkennen, das durch seine Errichtung an anderen verübt wurde".

    Es sind gerade die hier und da süffisant eingestreuten Nebenbemerkungen, die offenlegen, dass Shlomo Sand kein zynischer Krawallmacher ist, der sich darin gefällt, die jüdisch-israelische Historikerzunft anzugreifen.

    Andere, wie der orthodox-gläubige Gershom Gorenberg, werden sogar noch deutlicher als Sand. Der in Amerika geborene und in Jerusalem lebende Historiker spricht von Israel als "Reich der Zweideutigkeit" und als Ethnokratie, die es abzuschaffen gelte. Gorenberg fordert glatt eine "Neugründung" Israels. Shlomo Sands Studie legt diesen Schluss nahe. Ihn so klar zu formulieren, hat er sich gescheut.

    Shlomo Sand: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit
    Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
    Propyläen Verlag, Berlin 2012
    396 Seiten. 22,99 Euro