Mittwoch, 24. April 2024

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Eine Lange Nacht mit Ágnes Heller
Philosophin und Weltbürgerin

Sie entging nur knapp dem Holocaust, folgte immer ihren Überzeugungen und wendet sich bis heute furchtlos gegen Tyrannei und Unterdrückung: die ungarische Philosophin Ágnes Heller. Für die Intellektuelle und Weltbürgerin ist Wahrheit lebenswichtig.

Von Jochanan Shelliem | 11.05.2019
    Ágnes Heller, Philosophin und Professorin, sitzt in ihrer Wohnung in Budapest vor einem Bild des zeitgenoessischen Malers Laszlo Feher.
    Übernahm 1988 Hannah Arendts Lehrstuhl an der New School in New York: Ágnes Heller (imago / Est&Ost)
    Um die gelbe Straßenbahn am Donauufer zu erblicken, die der am 12. Mai 1929 geborenen Philosophin bis heute Heimatgefühle evozieren: Budapest, die Heimatstadt des Vaters, der später deportiert worden war, das Donauufer, wo der Fluss zur Zeit der Pfeilkreuzler blutig rot floss und die erste Lukács-Vorlesung, bei der sie nichts verstand, „aber wusste, dass es das Wichtigste war, was ich je hörte“. Sie wird Georg Lukács’ Meisterschülerin und seine Vertraute.
    Sie erzählt von der Euphorie vor 1956 und vom Nebelkloster, der zur Kádár-Zeit bespitzelten und ausgegrenzten Budapester Schule, von Parias und Parvenüs und von der für sie existenziellen Frage, warum die Wahrheit für den Philosophen lebenswichtig ist. Berufsverbot, Bespitzelung, Emigration.
    1977 geht Ágnes Heller nach Australien. 1988 übernimmt sie Hannah Arendts Lehrstuhl an der New School in New York. Ágnes Heller berichtet von Begegnungen mit Ernst Bloch und Jürgen Habermas und Millionären wie George Soros. Und von der Schönheit guter Menschen spricht die Grand Dame der ungarischen Philosophie. "Gute Menschen“, so Ágnes Heller im wieder frisch geknebelten Budapest "sind unsichtbar".
    Am 12. Mai wird Ágnes Heller 90 Jahre alt.
    (Wdh. v. 12. /13.5.2012)
    Budapest, die Heimatstadt des Vaters, der später deportiert worden war, das Donauufer, wo der Fluss zur Zeit der Pfeilkreuzler blutig rot floss und die erste Lukács-Vorlesung, bei der sie nichts verstand "aber wusste, dass es das Wichtigste war, was ich je hörte."
    Sie wird Georg Lukács' Meisterschülerin und seine Vertraute. Sie erzählt von der Euphorie vor 1956 und vom Nebelkloster, der zur Kadar Zeit bespitzelten und ausgegrenzten Budapester Schule, von Parias und Parvenüs und von der für sie existenziellen Frage, warum die Wahrheit für den Philosophen lebenswichtig ist. Berufsverbot, Bespitzelung, Emigration. 1977 geht Ágnes Heller nach Australien. 1988 übernimmt sie Hannah Arendts Lehrstuhl an der New School in New York.
    Im Gespräch mit Jochanan Shelliem berichtet Ágnes Heller von Begegnungen mit Ernst Bloch und Jürgen Habermas und Millionären wie George Soros. Und von der Schönheit guter Menschen, spricht die Grand Dame der ungarischen Philosophie. "Gute Menschen", so Ágnes Heller im wieder frisch geknebelten Budapest, "sind unsichtbar."
    Ágnes Heller, die jüdischer Herkunft ist, gelang es im Holocaust gemeinsam mit ihrer Mutter immer wieder, teils durch geistesgegenwärtiges Handeln, teils aber auch nur durch schieres Glück, einer Deportation und Ermordung zu entgehen. Ihr Vater und zahlreiche Verwandte wurden Opfer der Judenverfolgung während der Zeit der NS-Diktatur.
    2012: Carl-von-Ossietzky-Preis
    Die Jury schreibt in ihrer Begründung:
    Die 1929 in Budapest geborene Philosophin Ágnes Heller erhält den Preis aufgrund ihrer Furchtlosigkeit, mit der sie zeitlebens unter wechselnden Regimen ihren eigenen Überzeugungen gefolgt ist. Als europäisch und kosmopolitisch denkende Intellektuelle gibt sie einem verängstigten Europa ein eindrucksvolles Beispiel.
    "Ich habe diese Auszeichnung als Philosophin bekommen, als eine Philosophin, die sich mehrmals für Freiheit und gegen Unterdrückung und Tyrannei einsetzte. Ich bin es aber nicht allein gewesen. Auch in den Zeiten des Kádár-Regims habe ich dem offiziellen Druck zusammen mit Freunden widerstanden. Wir haben zusammen gegen die sowjetische militärische Intervention in der Tschechoslowakei öffentlich protestiert und dafür mit unserem wissenschaftlichen Leben in Ungarn bezahlt. Und es ist auch kein Zufall, dass die Kampagne der Orbán-Regierung für die Einschränkung der Freiheitsrechte mit einer Kampagne gegen die Philosophen anfing.
    "Ich nehme diesen Preis auch im Namen von allen angegriffenen Philosophen an. Und ich möchte diese Gelegenheit auch dazu nutzen, um allen Philosophen Europas, und nicht nur Europas, die ihre Stimme in Solidarität gegen diese Kampagne erhoben haben, Dank zu sagen. "
    Eine jüdische Intellektuelle und Weltbürgerin
    Ágnes Heller
    Paradoxe Freiheit
    Eine geschichtsphilosophische Betrachtung
    Diskurs Philosophie, Bd. 1
    Erste Auflage 2001
    Diese Studie über Agnes Heller gibt einen Einblick in Etappen eines exemplarischen intellektuellen Denkwegs des 20. Jahrhunderts und zeigt die Radikalität im Wandel dieses Denkens vor dem Hintergrund der realhistorischen Veränderungen.
    Im Umkreis der revolutionären Ideen der 68er Jahre und der Budapester-Schule setzt Heller Freiheit mit Homogenisierung der Individuen gleich. Ihr Denk- und Gesellschaftsmodell mit seinem affirmativen, metaphysischen Weltbild setzt sich allerdings der Gefahr der Verkehrung des Freiheitspathos ins Fundamentalistische oder gar Totalitäre aus. Der Erkenntnis dieser Verstrickung folgt ein radikaler Dekonstruktionsprozess und bringt die marxistische Utopie zum Einsturz. Heller entwirft in den 90er Jahren eine neue Konzeption existenzieller Freiheit auf der Basis eines radikalen Kontingenzbewusstseins, welches die Selbstbestimmung und Selbstgestaltung des Individuums durch die bewusst getroffene Wahl ins Zentrum rückt.
    Ágnes Heller
    Der Affe auf dem Fahrrad.
    Eine Lebensgeschichte
    Philo Verlagsgesellschaft (1999)
    "Man konnte mit Gyuri wunderbar über Romane und Literatur reden. Und da er Ökonom werden wollte, auch über die Wirtschaft. Er war ein Junge, bei dem man nicht kokettieren musste. Einmal sagte er: 'Wie gescheit Du doch bist, obwohl Du ein Mädchen bist.' 'Lieber Gyuri, das ist so, als würdest du sagen: Wie gut Du doch Fahrrad fahren kannst, obwohl Du ein Affe bist. Aber ich bin kein Affe!' Er hatte verstanden."
    (Antiquarisch erhältlich)
    Ágnes Heller - Philosophin und Humanistin
    Von Dorothee Friebus-Gergely
    In:
    Elke Pilz (Hrsg.)
    Das Ideal der Mitmenschlichkeit
    Frauen und die sozialistische Idee
    Königshausen & Neumann
    (Ab Seite 263)