Donnerstag, 28. März 2024

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Eine Lange Nacht über junge Migranten in Deutschland
Vaterland und Muttersprache

Die Situation jugendlicher Migranten in Deutschland ist bereits seit einiger Zeit in der gesellschaftlichen Diskussion. In Gesprächsrunden darf dann gelegentlich ein Teilnehmer mit Migrationshintergrund über die Fremden, die unter uns sind, reden. Tatsächlich aber wird über Migranten geredet, sie sind Gesprächsstoff, jedoch selten sind sie Gesprächspartner.

Von Almut Schnerring und Sascha Verlan | 25.10.2015
    Eine Lehrerin unterrichtet Migrantenkinder in Deutsch.
    Eine Lehrerin unterrichtet Migrantenkinder in Deutsch. (imago/Sämmer)
    Was haben die Migranten zu leisten, damit sie in unsere Gesellschaft aufgenommen werden? Die deutsche Sprache beherrschen; sich zu den Werten unserer Gesellschaft bekennen, Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen, sich einbringen ins Gemeinwohl ... Und wenn das alles geleistet ist? Hört es irgendwann auf, dass man als Migrant beargwöhnt wird? Wann gehört man wirklich dazu? Geht das überhaupt mit schwarzen Haaren, schwarzen Augen und dunklerem Teint?
    In der Langen Nacht kommen junge Deutsche nichtdeutscher Abstammung zu Wort, die hier geboren sind. Wären sie in Frankreich oder in den USA geboren, wären sie automatisch Bürger dieser Länder: In Deutschland bleiben sie Fremde. Was bedeutet es für sie, von den Medien ein Bild vorgehalten zu bekommen, das sie als Verlierer, als bildungsresistent und integrationsunwillig zeigt? Wie könnte eine eigene Identität aussehen? Ein gleichberechtigtes Zusammenleben im gemeinsamen Land?
    Auszug aus dem Manuskript
    "Ich habe während meiner Studienzeit viel auf Messen gearbeitet, als Hostess. Oder habe da eben Promotion gemacht und im Service gearbeitet. Da habe ich viele Leute kennengelernt. Die meisten Menschen haben nie gedacht, dass ich eine Türkin bin, obwohl ich eigentlich schon sehr orientalisch aussehe, würde ich ... also, ich würde mich eher so einordnen."
    Müjde Karaca ist Fotografin und Grafikerin und ist in Bamberg aufgewachsen. Für ihr Buchprojekt "Reize" hat sie Frauen unterschiedlicher Herkunft und Religion fotografiert, einmal mit Vollverschleierung, sodass nur die Augen zu erkennen sind, dann mit Kopftuch und schließlich ganz ohne Verschleierung:
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca.
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca. (Müjde Karaca)
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca.
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca. (Müjde Karaca)
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca.
    Aus dem Buch "Zinat - Reize" von Müjde Karaca. (Müjde Karaca)
    "Es waren Geschäftsleute, Geschäftsmänner, es waren teilweise, je nach Messe, hoch Intellektuelle, die mich dann immer darauf angesprochen haben. Dann hatten sie Bilder von Türkinnen und Türken im Kopf. Ich war jedes Mal schockiert, weil ich mir gedacht hatte, wenn diese Leute so denken, dann habe ich, dann haben wir ja echt keine Chance. Das ist ja echt unglaublich, dachte mir. Wenn ein so hoch intellektueller Professor denkt, dass wir alle gezwungen werden, Kopftücher zu tragen, dass alle türkischen Frauen in Deutschland unterdrückt werden. Oder dass auch alle denken, wenn ich in die Türkei gehe, dann muss ich auch Kopftuch tragen. Dann denke ich mir auch, also wo leben die Leute? Wo ist denn das Allgemeinwissen? In der Türkei darf man nicht mal in die Uni mit Kopftuch. Da ist es ganz anders. Also was ich nicht unbedingt befürworte. Also das zeigt mir dann, wie wenig die Leute sich damit beschäftigen, obwohl es hier so viele Türken gibt. Es sind circa vier Millionen Türken in Deutschland und kein Mensch interessiert sich wirklich, woher die Leute kommen, aus welcher Kultur sie kommen und aus welchem Land sie kommen und welche Strukturen da herrschen. Die haben alle überhaupt gar keine Ahnung. Keiner beschäftigt sich damit, aber die ganze Zeit redet man über uns. Verstehen sie, wie ich meine? Also das ist echt absurd für mich."
    • Müjde Karaca: "Zinat - Reize", Konkursbuchverlag 2009. ISBN 388769385X
    • http://www.ahoar.de/musik.html und http://www.lagash.de/ - Musik der Sendung von Saad Thamir und Bassem Hawar und anderen von der CD "Between rivers" der Gruppe Ahoar und der Gruppe Lagash.
    Auszug aus dem Manuskript:
    Szenen aus dem Theaterstück "Die Treppe zum Garten" des Theater Marabu.
    Szenen aus dem Theaterstück "Die Treppe zum Garten" des Theater Marabu. (Ursula Kaufmann)
    "Das ist, also das alles ist schon längst vergangen, also es ist, ich bin ja eigentlich eine Deutsche. Ich lebe hier in Deutschland seit über 30 Jahren und eher umgekehrt, also wenn ich jetzt nach Kroatien zurückkehre, da wundert es mich manchmal, wie die Menschen miteinander sind oder wie die Systeme sind. Da fühle ich mich ziemlich fremd und denke mir ... Also hier, da kann ich irgendwo hingehen, da weiß ich, da muss ich da hingehen und da muss ich da hingehen und den muss ich fragen, wenn ich das haben will, und wenn ich einen Pass brauche, mache ich das so. Aber das ist ja unten ganz anders. Man muss da viel mehr mit Geld die ganzen Sachen unterstützten. Es ist schon, also es hat sich gedreht."
    • Adriana Kocijan ist Schauspielerin und Theatermacherin. Sie stammt aus Kroatien. Gemeinsam mit Saad Thamir und dem Theater Marabu in Bonn hat sie "Die Treppe zum Garten" entwickelt, ein Theaterstück für Kinder ab acht Jahren zu den Themen Heimat und Fremde.
    • http://www.theater-marabu.de - Webseite des Theater Marabu
    Auszug aus dem Manuskript:
    Meral al Mer ist Sängerin, Schauspielerin und Reporterin. Ich treffe sie in Berlin bei Flowin Immo, den ich seit fast 15 Jahren kenne, seit ich ihn für mein erstes Hip-Hop-Buch interviewt habe. Durch die Jahre haben wir uns immer wieder getroffen. Immo macht mich mit Meral al Mer bekannt, wir kommen ins Gespräch und vereinbaren einen Interviewtermin für den nächsten Tag:
    "Eigentlich ist es ja so, die Frauen, die werden dann vorgeschlagen, verheiratet mit 15, 16. Also, ich weiß, dass das alles moderner geworden ist, aber bei uns halt nicht. Bei uns in der Familie halt nicht. Und in Syrien sicherlich auch, dort haben die Frauen sicherlich auch jetzt die Möglichkeit, sich fortzubilden und dann irgendwann mit 20 oder so zu heiraten. Aber die Migrantenfamilien, die versuchen, hier in Deutschland ihre Kultur krampfhaft zu wahren oder aufrechtzuerhalten. Und deswegen sind die so ein bisschen stehen geblieben in der Zeit. Und meine Familie ist so eine Familie. Die so stehen geblieben ist in ihrem eigenen Garten, den die mitgebracht haben, mit dem alten Gemüse drin. Die probieren nichts Neues aus."
    Auszug aus dem Manuskript:
    Kaveh Rostamkhani kam mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland. Er studiert Fotojournalismus in Hannover. In einem Bildband mit dem großen Titel "Ein Tag Deutschland" sind zwei seiner Fotos abgedruckt. Sie gehören zu den paar wenigen Fotos in diesem dicken Buch, die Einwandererfamilien und nicht-deutsches Leben in Deutschland abbilden.
    "Ich habe vor Kurzem die Einbürgerung beantragt. Da muss ich auch schwören auf die demokratischen Grundwerte und auf das Grundgesetz. Ich meine: Nicht schwören, aber sozusagen anerkennen. Erst mal gibt es formale Richtlinien, dass man mit einem bestimmten Aufenthaltstitel über sieben oder über acht Jahre in Deutschland leben muss. Man willigt ein, dass Daten über einen gegebenenfalls auch geheimdienstlich erfragt werden dürfen. Beim Erstgespräch bringt man seinen Pass mit. Und weist sich aus, schaut die Beamtin oder der Beamte rein und sagt, das und das musst du mitnehmen. Und ich meine, derzeit wird ja auch fast händeringend nach Einbürgerungsbürgern gesucht. Aber nichtsdestotrotz, das Gespräch war jetzt nicht angenehm. Vor allem, als ich die Sachen abgegeben habe, da werde ich ja auch ein bisschen gefragt von der Beamtin, einfach um einen Rahmen zu haben. Und in dem Formular muss man auch einfüllen, ob man bisher Ärger mit der Polizei oder mit der Staatsanwaltschaft gehabt hat, weil das dann erfragt wird. Ich hatte das nicht und dann fragte die Arme mich, ob ich schon mal im Bus oder Tram ohne Fahrschein erwischt worden bin. Denn das trägt sie auch da rein. Und ich meine, da frag ich mich, was das soll. Und da ist das Verlangen nach einer Überassimilation dann da, ganz konkret im Staatsapparat."
    • Der Fotograf Kaveh Rostamkhani mit Fotos in: Freelens (Hrsg.): "Ein Tag Deutschland", 7. Mai 2010, ISBN 978-3-89864-707-6: "Der 7. Mai war ein ganz gewöhnlicher Freitag. Und doch wird er für lange Zeit in Erinnerung bleiben. Denn an diesem Tag reisten 432 Fotografen durch ganz Deutschland, um festzuhalten, was vor ihrer Kamera geschah: in Schulen und Wohnzimmern, auf Fußballplätzen und Flughäfen, in Parlamenten und Diskotheken. Sie sind über die Dörfer und durch Großstädte gefahren und haben nach Momenten Ausschau gehalten, die dieses Land repräsentieren."
    Auszug aus dem Manuskript:
    "Auswandern aus einer Heimat, die auch Deutschland ist. Zurückwandern zu einer Heimat, die mal eine Heimat war, die ich vielleicht zu einer Heimat mache. Wir sind in liquid times, also flüssige Zeiten, wo sich Sachen immer neu definieren und in ständiger Bewegung und im ständigen Fluss sind. Ob das ein Auswandern oder ein Zurückwandern ist, kann ich wirklich nicht sagen. Ich weiß nur, Nigeria ist ein Teil meiner Heimat, ist mir genauso wichtig wie Köln. Nur es ist so, dass ich meine Basis verlagert habe. Ich würde beide Terminus - zurückwandern oder auswandern - nicht als geeignet empfinden."
    Ade Bantu prägte mit seinen Gruppen "Exponential Enjoyment" und später mit "Weep not Child" die frühen Jahre der Hip-Hop-Szene in Deutschland. Über die Hip-Hop-Szene hinaus wurde er Anfang 2000 mit der von ihm begründeten Initiative "Brothers Keepers" bekannt und mit ihrem Hit "Adriano – letzte Warnung". Ade Bantu war all die Jahre politisch aktiv mit "Brothers Keepers" im Kampf gegen den alltäglichen Rassismus.
    ""Brothers Keepers" als Verein gibt es nach wie vor. "Brothers Keepers" war wichtig zu dem Zeitpunkt, um einen Denkanstoß zu geben, um uns auch als Deutsche zu positionieren, als Afro-Deutsche. Und es ist eine natürliche Sache, dass ich irgendwann dann gedacht habe, es muss weiter gehen, ich muss das Richtung Afrika bewegen. Denn ich bin der Meinung, dass man als Schwarzer, als Mensch mit afrikanischen Wurzeln nur den Respekt wirklich bekommen kann, wenn Afrika voll und ganz respektiert und anerkannt wird. Und deshalb ist es mir wichtig, auch in Afrika dafür zu sorgen, dass es bessere Lebensbedingungen gibt, dass die Menschen sich mehr in der Gesellschaft organisieren und sich artikulieren und dass die Musik und Kunst wichtige Impulse gibt. Und ich bin nur ein Mosaikstein in dem, was ich als eine ganz große panafrikanische Bewegung sehe."
    • http://bantu.tumblr.com - Der Musiker Ade Bantu und seine Initiative Brothers Keepers mit dem Song 'Adriano, letzte Warnung'.
    Auszug aus dem Manuskript:
    - "Die haben einfach einen falschen Weg gemacht. Sie hatten viele Möglichkeiten, was jetzt die Schule angeht oder sonst was. Aber sie haben es nicht genutzt und wollten halt weiter den Coolen und den Macker hier spielen irgendwie - und wie knallhart sie sind. Und deshalb haben sie sich auch schon von der Liste gestrichen. Und wahrscheinlich ist für die Schule machen und eine gute Ausbildung oder Arzt werden halt peinlich und halt nicht cool genug."
    - "Ja, so sehen die das. Bei mir ist es genau andersrum. Für mich ist cool sein, eine gute Ausbildung haben, eine gute Stelle, ein guter Beruf. Keine Ahnung, was im Leben zu erreichen. Nicht jetzt Sachen zu beschädigen oder Randalismus oder irgendwas kaputtzumachen."
    - "Streberin. Wenn man was für die Zukunft macht oder wenn man was erreichen will, dann ist man doch keine Streberin, find ich. Aber manche denken so, wenn man viel übt, wenn man viel arbeitet, gute Noten schreibt, dann ist man Streberin. Für die Coolen ist das so. Aber ich weiß nicht, wenn die Schule so ... keine Ahnung ... vielleicht hatten die in der Schule keine guten Zeiten gehabt, kann auch sein."
    Helin, Sarbast und Seyma haben einen Rap-Workshop besucht, den ich an der August-Macke-Schule in Bonn gegeben habe. Über ein halbes Jahr haben wir uns einmal pro Woche getroffen und Texte geschrieben, gerappt und Songs aufgenommen. Freundschaft, Schule und die eigene Zukunft, das waren die großen Themen, die uns die ganze Zeit über beschäftigten:
    "Wenn man zum Beispiel Streber zu mir sagt, das ist nichts Schlimmes für mich, das hilft mir sogar noch weiter. Das ist dann ein Zeichen, dass ich was geleistet habe. Streber zu sein, ist gar nicht so schlimm."
    Auch Seif besuchte den Workshop. Erst ganz am Ende erzählt er mir, dass er alleine mit seinem Bruder aus Burkina Faso nach Deutschland gekommen ist. Sein Bruder war zwölf Jahre alt, er selbst erst zehn. In der Nähe leben ein paar entfernte Verwandte, aber eigentlich sind die beiden Brüder auf sich alleine gestellt. Seif lebt in einem Kinderheim, sein älterer Bruder hat bereits eine eigene Wohnung.
    - "Jetzt bin ich schon so gut wie fünf Jahre hier und ich kann sagen, ich habe hier sehr viel gelernt, bin auch selbstständiger geworden in meinen jungen Jahren. Und ja klar, in manchen Situationen vermisst man das, dass ich nicht mehr zurück in meiner Heimat war die letzten Jahre. Aber ja, ist nicht schlecht, ich hab den Deutschen hier viel zu verdanken, kann man das sagen?"
    - "Meiner Meinung nach ist es so, dass eher die älteren Leute mehr in das Rassistische gehen. Und dass die Jugendlichen, also unsere Generation halt, mehr auch mit uns zu tun haben will. Ich meine, wir leben, also Deutschland ist wirklich eine bunte, ja ein bunter Staat, weil eben alles Mögliche hier drin lebt. Und ich denke mal, das ist interessant. Ich muss zugeben, ich selber habe keine serbischen Freunde, bei denen ich sage, ich hänge nur mit denen ab. Ich suche mir auch meine Freunde aus. Und das ist jetzt egal, ob er Italiener ist oder ob er jetzt ein Deutscher ist oder ein Türke, das ist mir egal. Hauptsache, der Mensch muss stimmen. Von daher denke ich mal, dass es auch hier so ist. Klar, die schätzen uns vielleicht ein, sagen ok, gut, aber wie gesagt, das sind mehr die älteren Leute. Weil ich muss sagen, es gibt ja auch deutsche Hauptschüler, also von daher, dass die ganz genau wissen, ja was uns halt wehtut, wenn die uns angreifen würden. Und deshalb halten die sich auch irgendwie zurück und versuchen einfach OK zu sein. Und ich persönlich habe noch nie erleben müssen, dass ich irgendwie wegen dem Ausländersein angegriffen wurde oder so."
    - "Ich erlebe das selten, also ich habe das zwei Mal, drei Mal erlebt, dass mich einer wegen meiner Hautfarbe angesprochen, also mich beurteilt hat wegen meiner Hautfarbe. Hier ist das eigentlich kein Problem, man kann überall hingehen, ohne blöd angesprochen zu werden. Weil ich meine die Deutschen, wenn ich Deutsche sehe, die haben ja auch nichts gegen mich wegen meiner Hautfarbe. Vielleicht haben sie was gegen mich, weil ich vielleicht wegen meines Verhaltens, obwohl ich mich ja eigentlich korrekt verhalte. Ich komme eigentlich gut zurecht hier, ich habe da kein Problem mit Rassismus."
    Bei den Schülern, mit denen ich mich getroffen habe, überrascht mich der Optimismus, mit dem sie durchs Leben gehen. Ein Noch möchte ich hinzufügen, und dass der Ernst des Lebens sie schon noch einholen wird. Die Berichte in den Medien, meine alltäglichen Erfahrungen. Alles spricht dafür, dass sie nicht optimistisch sind, sondern einfach nur naiv. Und trotzdem ist dieser Optimismus die einzige Möglichkeit, aus dem Teufelskreisen auszubrechen von einmal Hauptschule – immer Hauptschule, einmal Hartz IV – immer Hartz IV. Er hilft allerdings herzlich wenig, wenn ihn die Mehrheit der Bevölkerung nicht teilt.
    Fitore und Yasemin beim Rap-Workshop: Globalisierungs-Raps "Verwöhnte Welt": Ein weiteres Highlight der Abschlusspräsentation war der Auftritt der Rapgruppe. Unterstützt vom Beatboxer Philipp Scheibel (Pheel) performte die Gruppe live Teile ihrer Songs zum Thema "Globalisierung Essen", die sie in den letzten Tagen im Rap-Workshop mit Unterstützung von Sascha Verlan (WortundKlangKüche) getextet und im Studio eingesungen hatten."
    Auszug aus dem Manuskript:
    Mein Freund Kutlu ist in Köln geboren und aufgewachsen. Seit bald 40 Jahren lebt er hier. Er ist so viel mehr Rheinländer als ich es je sein könnte. Aber er sieht aus wie ein Türke, was ihn zum Migranten macht. Dabei bin ich es doch, der ins Rheinland zugezogen ist, ich bin der Exilant, der auch nach 20 Jahren immer noch fassungslos das rheinische Wesen und seine Bräuche betrachtet, nicht nur an Karneval. Die Rheinländer sind eben so. Und die Schwaben ganz anders. Und mein Freund Kutlu? Wenn er jetzt nach Stuttgart zöge? Was macht ihn dort zum Fremden? Sein rheinländisches Wesen oder Herkunft seiner Eltern?
    "Zum Beispiel in Essen waren wir auf einem Festival. Und da sind Bands aufgetreten. Und dann kamen wir, sollten wir. Und jetzt wird es multikulturell: Jetzt kommt ein Türke, ein Italiener und so auf die Bühne. Und ich so, warum sagst du denn das? Sag', jetzt kommt Mikrofone Mafia, eine Band aus Köln, fertig. Nee, da mussten erst mal die ganzen Nationalitäten, die in unserer Band sind ..."
    Wenn heute einer auf die Bühne geht und ins Mikro schreit, dass Nazis scheiße sind, dann kommt der Applaus ganz automatisch. Rassismus ist scheiße, damit kann man bis weit in den rechten Rand der CSU hinein punkten. Weil es abstrakt ist. Weil offener Rassismus ja dem Ansehen Deutschlands in der Welt schadet und damit dem wirtschaftlichen Wohlstand. Jawohl! Aber das ist viel zu abstrakt und wird nichts bewirken. Gegen Rassismus, was heißt das schon? Nicht NPD wählen? Klasse Leistung. Durchaus und ohne Angst vor Taschendieben beim Italiener essen gehen, oder wie? Oder ohne jedes Zusammenzucken die neue Freundin des Sohnes kennenlernen - ihre Familie lebt im Senegal.
    • http://www.microphone-mafia.com - Kutlu Yurtseven, Labelgründer und Mitglied der Kölner Microphone Mafia, eine der ältesten, aktiven Hip-Hop-Gruppen in Deutschland.
    Auszug aus dem Manuskript:
    "Und ich glaube, da fehlt in vielen Teilen dieser Gesellschaft, da gibt es einfach kein Bewusstsein dahinter, weil man sehr schnell das von sich wegbringt und sagt, Rassismus, mein Gott, das hat doch nichts mit mir zu tun. Das sind jetzt vielleicht irgendwie durchgeknallte Skins auf der Straßen und vielleicht im Osten. Aber das hat doch nichts mit meinem Leben oder mit meinem Alltag hier zu tun."
    Murat Güngör hat Kulturanthropologie, Soziologie und Politikwissenschaften studiert. Er war viele Jahre als Rapper und Hip-Hop-Aktivist unterwegs. 1998 gehörte er zu den Mitbegründern von Kanak Attak, einem Netzwerk, das nicht nach dem Pass oder der Herkunft fragt, sondern sich gegen die Frage nach dem Pass und der Herkunft wendet, gegen jede Form der Zuschreibung aufgrund mit in die Wiege gelegter Identitäten. Heute arbeitet Murat Güngör als Lehrer in Frankfurt.
    "Und ich glaube, da macht man sich auch vieles vor. Ich meine, du hast es vorhin ja auch gesagt: Wo beginnt Rassismus, wo fängt die Ausgrenzung eigentlich an? Und ich glaube, das sind die entscheidenden Fragen, dass man sich da viel mehr, also inhaltlich damit beschäftigt. Und auch, wie man selber auch Teil dieses Systems auch ist. Also wie man selber auch diesen rassistischen Diskurs immer wieder auch neu reproduziert, über das Sprechen, über sich selber auch in diese Opferrolle immer wieder auch rein zu versetzen."
    • Murat Güngör und Hannes Loh: "Fear of a Kanak Planet - HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap", 2002 Hannibal, ISBN 3-85445-210-1