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Eine "Liebeserklärung an die Familie"

Ich sehne mich nach meinem alten Ich. Nun vermisse ich solche Dinge wie Entschiedenheit und Gewissheit, Anfang und Ende. Im Erwachsenenleben gibt es nur wenige Grenzlinien. In meinen Augen ist es ein gewaltiges Schlachtfeld mit sich ständig verschiebenden Fronten. Wo zum Beispiel höre ich auf…und wann endet die Kindheit? Keiner hat mir je etwas dazu gesagt.

Von Gisa Funck | 30.12.2004
    Vordergründig könnte man die Reflexionen von Jemima Weiss, der Ich-Erzählerin in "Sister Crazy", zunächst als Bekenntnisse einer Nesthockerin verstehen. Schließlich räumt Jemima gleich zu Beginn des Debütromans von Emma Richler freimütig ein, dass sie am liebsten noch einmal ein Kind sein würde. Eine Frau Mitte 30, die das Erwachsenwerden offensichtlich nicht ganz verdaut hat: Das erinnert einen zunächst an jene harmlos-spätpubertären Lebensbeichten, wie man sie auch von so genannten Pop-Autoren wie Nick Hornby oder Frank Goosen her kennt. Wie ernst dagegen allerdings Jemimas Krise ist, wird erst spät, nach über fünfzig Seiten in Richlers Roman klar. Da nämlich spricht Jemima erst davon, dass sie gerade einen Selbstmordversuch hinter sich hat, dass sie schon seit ihrer Pubertät unter Depressionen leidet und dass es auch mit der Liebe und der Karriere anscheinend nicht bestens für sie läuft. Doch alle diese Details einer eher unerfreulichen Gegenwart belässt Jemima, die sich selbst "Sister Crazy" nennt, stets nur in Andeutungen. Wenn es um ihr aktuelles Leben geht, bleibt Richlers Heldin betont vage in ihren Formulierungen und hat weder eine Erklärung noch einen Schuldige für ihre Misere parat:

    Dunkle Zeiten liegen hinter mir, ich habe meinen Handgelenken mit großen, scharfen Messern zornige, präzise Schnitte zugefügt, und meine Mutter möchte wissen, warum. Warum, fragt sie. Warum. Ich konnte ihr nicht antworten, konnte ihr nicht sagen, dass dies zum Teil mit Dingen zusammenhängt, über die ich keine Macht habe und die ich selbst nicht begreife.

    Die Jetzt-Zeit interessiert Jemima nicht. Es ist vielmehr das Damals, in das sie sich in geradezu Proust’scher Manier immer wieder flüchtet. Die Erinnerung an ihre Kindheit wird für Richlers psychisch angeschlagene Protagonistin zu einem letzten Haltepunkt ihrer ins Wanken geratenen Identität. Allein – so behaglich wirkt diese vergangene Kindheit bei genauerem Hinsehen gar nicht. Da mag Jemimas Tonfall stellenweise noch so wehmütig klingen, mit dem sie in sieben, nur lose miteinander verbundenen Kapiteln ihre Zeit als Neun- und Vierzehnjährige noch einmal heraufbeschwört.

    Tatsächlich entpuppt sie sich als nichts Geringeres als das schwarze Schaf der Familie. Eine Rolle, die Jemima nicht zuletzt einer ungünstigen Position in der Geburtenfolge verdankt. Schließlich wuchs das Mädchen – in auffälliger Übereinstimmung mit der Autorin – als drittes von fünf Kindern einer kanadischen Autorenfamilie auf. Als ein klassisches Sandwich-Kind also, das dann - ebenso klassisch – von den Eltern häufig ungewollt vernachlässigt wurde. Nicht genug, dass es grundsätzlich immer Jemima war, die der Vater einst zur lästigen Hausarbeit abkommandierte. Sie musste auch früh mütterliche Aufsichtspflichten für ihre jüngere Schwester Harriet übernehmen. Vor allem aber schickten die Eltern ihre Drittgeborene ausgerechnet auf eine strenge, katholische Nonnenschule, obwohl der Vater eigentlich Jude und die Mutter Protestantin war. Das trug Jemima nicht nur den Spott der Nonnen ein, sondern bugsierte sie auch endgültig zwischen sämtliche Stühle: Weder war das Mädchen ganz Christin noch ganz Jüdin. Weder geachtete Große noch beachtete Kleine. Weder voller Mutterersatz für Harriet noch lediglich nur Kind.

    Doch so sandwichmäßig möchte Jemima selbst ihre Kindheit nicht sehen. Richlers Ich-Erzählerin fühlt sich ihrer Familie viel zu sehr verpflichtet, um auch nur ein schlechtes Wort über sie zu verlieren. Von daher zeichnet Jemima lieber das Bild einer Familie voller skurril-sympathischer Sonderlinge, denen sie letztlich nie wirklich böse sein konnte. Da ist etwa der Vater, ein Sport- und Kinderbuchautor, der gern Whiskey trinkt, auf defekte Geräte einschlägt und seine Kinder beim Zocken ums Taschengeld prellt. Nicht gerade das verantwortungsvolle Verhalten eines Vaters.

    Für Jemima, die familiäre Alles-Versteherin, aber dadurch entschuldbar, dass ihr Vater nach ihren Worten eben ein richtiger "Cowboy" war – inklusive raubauziger Cowboy-Marotten. Oder da ist der nur fünfzehn Monate ältere Bruder Jude, mit dem die Schwester einst akribisch die Schlachten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nachspielte. Jude, den Jemima mehrfach als ihren "Zwilling" bezeichnet, zerstörte die geschwisterliche Eintracht, indem er eines Tages eine Barbie-Puppe mitbrachte. Mit dem Einzug der Erotik endete das Kinderspiel. Doch statt auf den Bruder wütend zu werden, gibt sich die Schwester auch hier einmal mehr verständnisvoll: "Ich ließ Jude ziehen", bekennt Jemima, "weigerte mich aber, in ihm einen Deserteur zu sehen."

    Es ist genau diese Stimme einer eigentlich zutiefst Gekränkten, die sich ihre Kränkung nicht eingestehen möchte, ohne sie doch ganz verbergen zu können, die in Richlers Roman eine fast sogartige Spannung erzeugt. Man ahnt bald, dass Jemima nie ganz die Wahrheit sagt. Dass sie gewisse Erfahrungen ausblendet und andere schön redet. Wahrscheinlich waren ihre Gefühle für den Bruder Jude mehr als nur schwesterlich. Wahrscheinlich ist auch ihr Kummer darüber, dass sich der Vater seit ihren Depressionen von ihr losgesagt hat, viel größer, als sie zugeben möchte. Doch Sister Crazy trägt ihren Namen nicht umsonst. Und so klingen manche ihrer Sätze genauso rotzig-herzbrecherisch wie die Sprüche angeschossener Revolverhelden, die noch einmal großmütig alle Schuld auf sich nehmen, bevor sie endgültig die Augen schließen. An einer Stelle erzählt Jemima da etwa, dass sie für ihren Vater immer noch eine Flasche seines Lieblingswhiskeys aufbewahrt:

    Die Flasche ist für meinen Vater, falls er einmal vorbeikommt, aber, obwohl ich nicht sehr weit von ihm entfernt wohne, kommt er nie. Das geht schon in Ordnung, denn er könnte ja doch einmal kommen.

    Als "Sister Crazy" vor dreieinhalb Jahren erschien, wurde der Roman in den englischen und amerikanischen Kritiken schnell als "Liebeserklärung an die Familie" gefeiert. Wohl etwas vorschnell. Denn, ob eine derart befangene Erzählinstanz wie Jemima wirklich als Verfechterin der family values taugt, ist zumindest sehr fraglich. Ihr Bericht aber fesselt einen gerade deswegen, weil hinter all seiner Komik und Liebenswürdigkeit doch immer auch jener unheilvolle Klang einer enttäuschten Zuneigung heraustönt, der für viele angeblich heile Familien so typisch ist.