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Eine mustergültige Typ-II-Arbeit

Doktorarbeiten rücken nur selten in den Fokus literaturkritischer Betrachtungen - es sei denn, Inhalt oder Autor fallen aus der Reihe. Das ist bei Kristina Köhler zweifellos der Fall: Die 32-Jährige Politikerin der CDU ist neue Bundesfamilienministerin und hat beim Mainzer Politologen Jürgen Falter promoviert - ihre Arbeit erscheint dieser Tage als Buch.

Von Christoph Gehring | 14.12.2009
    Um es gleich vorweg zu sagen: Niemand sollte 39,95 Euro für dieses Buch ausgeben. Man sollte es stattdessen einfach dem Schicksal überlassen, das ungefähr 90 Prozent aller Dissertationen ereilt - dem unbeachteten Verstauben in der Universitätsbibliothek und dem gelegentlichen Abgestaubtwerden im Bücherregal der stolzen Eltern der Verfasser. Denn Kristina Köhler hat mit ihrer Doktorarbeit "Gerechtigkeit als Gleichheit? Eine empirische Analyse der objektiven und subjektiven Responsivität von Bundestagsabgeordneten" eine mustergültige Typ-II-Arbeit vorgelegt, also ein Werk, das weniger vom Interesse an der wissenschaftlichen Arbeit, sondern mehr von dem Wunsch nach einem akademischen Titel geprägt ist.

    Kristina Köhler hat untersucht, in welchem Umfang die vertretenen Grundwerte der CDU-Bundestagsabgeordneten deckungsgleich sind mit denen der einfachen CDU-Mitglieder. Dazu hat sie Fragebögen an alle Bundestagsabgeordneten der CDU und an eine repräsentative Auswahl von 1.000 Mitgliedern der Partei verschickt. Abgefragt hat sie dabei die Haltung von Mandatsträgern und einfachen Parteimitgliedern zu egalitären beziehungsweise non-egalitären Grundwerten. Im Kern sollten die Befragten sagen, was ihnen wichtiger ist: Freiheit oder Gleichheit. Das Ergebnis war vorhersehbar: Natürlich ist Gleichheit für Mitglieder und Bundestagsabgeordnete der CDU weniger wichtig als Freiheit. Wobei Freiheit im Sinne von Kristina Köhlers Untersuchung vor allem die Freiheit des Wirtschaftens und des Strebens nach materiellem Wohlstand ist. Von Freiheit im Sinne von Bürgerrechten und Privatsphäre ist nicht die Rede, kann auch nicht die Rede sein bei Kristina Köhler.

    Wer ein bisschen sucht, der findet nämlich in einem anderen politischen Buch eine bemerkenswerte Aussage von Kristina Köhler zum Thema "Freiheit". Der Journalist Thomas Leif hat in seinem im Frühjahr erschienenen Buch "Angepasst und ausgebrannt" versucht, den politischen Nachwuchs in Deutschland zu porträtieren. Dazu hat er auch Kristina Köhler - damals einfaches Mitglied des Bundestags - interviewt. Und sie sagte ihm:

    "Neoliberal" ist ja ein negativ konnotierter Begriff. Aber das, was damit gemeint ist, teilen wir in gesellschaftspolitischen und wirtschaftspolitischen Fragen durchaus: Wir teilen die Überzeugung, dass wir ein Land brauchen mit weniger Umverteilung und mehr Eigenverantwortung, dass wir die Freiheit bei uns massiv einschränken, und dass sich das ändern muss. In innenpolitischen Fragen, die echte sicherheitspolitische Fragen sind, befürworten wir einen starken Staat."

    Was Kristina Köhler da noch "weniger Umverteilung und mehr Eigenverantwortung" nannte, wird in ihrer Dissertation zu "Non-Egalitarismus", also zu einer Geisteshaltung, die Gleichheit als gesellschaftlichen Wert nicht akzeptiert. In diesem Denkmodell ist Gerechtigkeit keine Frage von Gleichheit, es verbietet die vergleichende Betrachtung der menschlichen Lebensumstände. Kristina Köhler zitiert hierzu ausführlich den amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt, der in Princeton lehrte und ein profilierter Theoretiker des Non-Egalitarismus ist.

    "Es geht unter dem Aspekt der Moral nicht darum, dass alle das gleiche haben sollten, sondern dass jeder genug hat."

    Harry Frankfurt - und implizit auch Kristina Köhler - bestreitet kategorisch, dass die Schlechterstellung eines Menschen im Vergleich zu einem anderen Menschen per se ein Nachteil sei. Sofern es dem schlechtergestellten Menschen nach absoluten Maßstäben gut genug geht, ist es aus non-egalitärer Sicht völlig gleichgültig, wie vielen anderen es um ein Vielfaches besser geht. Die Definition von "gut genug" bleiben allerdings sowohl Harry Frankfurt als auch Kristina Köhler schuldig.

    Das Ergebnis der Arbeit ist allerdings eindeutig: Frau Köhler resümiert nach 650 ausgewerteten Fragebögen und viel empirischer Interpretationsarbeit:

    "Die CDU-Mitglieder scheinen also mit überwältigender Mehrheit bereit zu sein, für einen größeren Wohlstand aller oder auch eines Teils der Bevölkerung mehr soziale Ungleichheit hinzunehmen. Eine Nivellierung nach unten, eine Schlechterstellung der Bessergestellten um einer egalitäreren Verteilung willen, lehnen sie mit großer Mehrheit ab."

    Die Bundestagsabgeordneten hingegen, so die Autorin, vertreten viel stärker egalitäre, also gleichmacherische Grundideen als die einfachen Parteimitglieder, deren Weltbild sich offenbar immer noch auf die Kurzform "Freiheit statt Sozialismus" bringen lässt. Diese Feststellung darf man wohl getrost als einen Appell an die CDU-Mandatsträger im Bundestag verstehen, die Sozialdemokratisierung aus der Zeit der Großen Koalition hinter sich zu lassen und wieder ins wirtschaftsliberale Lager einzurücken. Wer sich bis zum Ende durchgekämpft hat, der begreift, dass die ganzen 303 Seiten der Dissertation von Frau Dr. Köhler eigentlich nichts weiter sind als eine Aufforderung an die CDU, ihre neoliberale Programmatik von 2005 zu reanimieren. Der Firnis der Wissenschaft kann diese Botschaft kaum überdecken.

    Kristina Köhler: Gerechtigkeit als Gleichheit? Empirische Analyse der objektiven und subjektiven Responsivität von Bundestagsabgeordneten. VS-Verlag, 300 Seiten, Euro 39,90, ISBN 978-3-531-17054-4