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Eine Neu- und Wiederbegegnung

1979 schreibt Josef Winkel in wenigen Nächten hundert Seiten Prosa. Das Werk erscheint damals in der Grazer Literaturzeitschrift "manuskript". Nun, 34 Jahre später, zu seinem 60. Geburtstag, wird dieses Jugendwerk zum ersten Mal als Buch veröffentlicht.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 24.07.2013
    "Wortschatz der Nacht” ist ein schmales Buch. Man hat es in einigen Nächten gleich mehrfach gelesen und fühlt sich dann dem 1953 in Kärnten geborenen und in Klagenfurt lebenden Autor Josef Winkler sehr nahe, da er für die Niederschrift dieses "Wortanfalls” auch nur ein paar Nächte benötigte. Zu Papier gebracht wurde der todernste und nur erst zaghaft sich aus der Identifizierung lösende Wort- und Bildersturm bereits 1979 und erschien in der Zeitschrift "manuskripte”, die schon damals Kult war. Nun liegt der bearbeitete Text zum ersten Mal, unter einem neuen Titel, als Buch vor.

    ""Tag und Nacht trage ich den Kugelkopf meiner elektrischen Schreibmaschine in meinen Jeans. Denke ich an meine Kindheit, so klammern sich meine Finger, sofort, wie um Leben zu retten, an den Buchstaben des Kugelkopfes fest, umschließen ihn mit der Handfläche, mache die Hand zur Faust, als ob ich den Kugelkopf zerdrücken und zusehen wollte, wie zwischen meinen Fingern die Säfte meiner Kindheit hervorrinnen ...”"

    Und dann taucht das innere Bild der Mutter auf, die mit dem Hackbeil einen Hahnenkopf abtrennt. Dass sie das Beil wie zum Gebet in den Händen hält, deutet gleich von Beginn der Erzählung an darauf hin, dass der Wortanfall aufs Engste mit dem Religiösen und Zeremoniellen verknüpft ist. Die Gebetshaltung der Mutter, das Blut der Tiere (und später auch Christi Blut oder das Blut, das dem Kind aus Nase und Mund fließt) und die Tränen des Kindes bilden einen mythisch-religiösen Raum. Ein mit Leidenspathos überladener und symbolisch ausgestalteter Raum, wie er damals auch in Hermann Nitschs Orgien und Mysterien theatralisch ausagiert wurde.

    ""Wenn du einmal an deinen Lippen die salzigen Tränen eines Kindes spürst, wirst du merken, wie das Kind ... wieder zu weinen beginnt. Deine Seele wird sich ... zusammenziehen, zusammenschrumpfen in die Größe deiner Kinderseele.”"

    Diese Seelenreise und die Erfahrung, wie die Seele im eigenen Körper in Lebensgefahr schwebt, ist das Thema dieses leidenschaftlichen, rauschhaften und barock stilisierten Buches.

    ""Das Kind betet und erniedrigt den Gekreuzigten mit seinen eigenen, erfundenen Gebeten, es lobt und verachtet, liebt und hasst ihn ... Um dem Hass aus meiner Kindheit eine endgültige Form der Steigerung geben zu können, verwandle ich ihn in Liebe ...”"

    Bereits die Eingangszeilen erzeugen einen Sog, angefeuert vom Kugel-Kopf der elektrischen Schreibmaschine, der bis zur letzten Seite anhält. Man kann nicht anders, als in der folgenden Nacht wieder von vorne zu beginnen und sich den Schreien des Kindes und den oft surrealen und grotesken Bildern (von "einer Nonne mit einer Mullbinde um den Hals”, von dem Mädchen, aus dessen geöffneten Oberschenkeln ein UFO fliegt, oder vom "dornengekrönten Totenkopf des Kalbes, aus dem Blumen für das Kind wucherten”) auszusetzen. In dem Wunsch des Autors und des Lesers, sich dem Geschehen immer wieder auszusetzen, gleicht dieses Buch dem Wunsch nach Wiederholung, der allen Ritualen und Zeremonien innewohnt. Eine Parallele, die sich auch aufdrängt, wenn man Josef Winklers Gesamtwerk anschaut.

    Winkler, der für sein Werk 2008 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, durchschreitet in seinen Büchern (von seinem ersten Roman "Menschenkind” bis zu "Domra. Am Ufer des Ganges” und "Roppongi. Requiem für einen Vater”) den religiösen und kulturellen Raum vom katholischen Kärnten bis ins indische Benares, eine der heiligsten Gegenden Indiens mit ihren berühmten Verbrennungsstätten. Todeszeremonien bilden den Höhepunkt jeder Ritualisierung.

    ""So lange vom Tod reden, bis die Totenmaske der Else Lasker-Schüler die Augen öffnet und ich ins weite Land blicken kann.”"

    Winklers Bücher sind eine große Beschwörung des vom Zu-Ende-Gehen dominierten Lebens. Sterbende und die Arten ihres Todes ziehen ihn magisch an. Er klebt sich eine fremde Totenmaske auf die Brust, erblickt sie später zehn Zentimeter über seinem Gesicht und er blickt in das lächelnde Gesicht der eigenen Totenmaske. Obsessiv wird die Kindheit vergegenwärtigt und bis in ferne Kulturen und Riten ausgeweitet. In der Wiederholung und Ritualisierung bewahrt er die Macht der Kindheitsbilder und Kindheitstraumen.

    ""Die Knechte des Hofes stocherten mit den Mistgabeln in den seelischen Eingeweiden des Kindes herum."

    Sprach-Exerzitien (die das Gegenteil einer therapeutischen Aufarbeitung des Lebensdramas darstellen) begreift Winkler als seine Lebensgrundlage. Einmal nennt er sich einen "ewigen Ministranten”, "des Todes leibeigen” oder auch den "Zwillingsbruder Jesu”. Seit er als kleines Kind von der Tante mit den Worten "Schau, Sepperl, schau!” zum Sarg der Großmutter hochgehoben wurde, sei der Tod zu seinem Lebensthema geworden.

    ""... Bis zu diesem Unterdenachselngefaßtwerden kann ich mich zurückerinnern. Mein erster Mensch ist eine tote Frau .. Als ich ein Kind war, wurde uns vom Pfarrer erzählt, dass es einen Engel gibt, der alles aufschreibt, was wir tun, denken und fühlen. Das hat mir damals Todesangst gemacht und mich an den Rand des Abgrunds getrieben ... es hätte ein Selbstmordgrund sein können.”"

    Eines Tages aber habe er hinter dem Altar entdeckt, dass die Engel hohl sind, kein Herz und keine Eingeweide haben. So sei er schon im Kinderbett zu einem zitternden Blasphemiker geworden - einer, der Gott beschimpfte und sich sogleich wieder dafür entschuldigte.

    ""Wenn einen einmal das Katholische getroffen hat, wenn einem der Kirchturm vorne ins Herz gegangen ist und hinten wieder hinaus, dann wird man das nie wieder los.”"

    Alle seine Bücher - und der nun vorliegende frühe Text "Wortschatz der Nacht” ist dafür ein großartiges Beispiel - zeigen, wie man mithilfe der Sprache (einem "chirurgischen Werkzeug”) auf die Entdeckungsreise der eigenen dramatischen Kindheit gehen und sich dem Entsetzen überlassen kann.

    ""Schreibend habe ich entdeckt, woher ich komme. Und am Ufer des Ganges habe ich gesehen, wie ich mir mein Ende wünsche. Ich will verbrannt werden. Das Schlimmste an den katholischen Begräbnissen sind die Särge.” "Ganz anders die Totenzimmer: Sie waren die schönsten Zimmer im Dorf.”"

    Winklers Texte sind (wie die Bücher Jean Genets und Georges-Arthur Goldschmidts) exzessive Vergegenwärtigungen der engen Verknüpfung von Gewalt, Unterwerfung, Leiden und Aufbegehren, von Sünde, Scham und Lust und der existenzbewahrenden Kraft der Literatur.

    Im Vergleich zu Winklers früheren Büchern überraschen die letzten Erzählungen durch eine gewonnene Distanz zum Tod und zu den Todesarten. Und er hat den Binnenraum seiner seelischen Erkundungen auch nach außen hin geöffnet und zum Beispiel in seiner Eröffnungsrede zum Ingeborg-Bachmann-Preis 2009 die Politiker seines Landes aufs Schärfste angegriffen.

    Josef Winkler:
    Wortschatz der Nacht, Suhrkamp Verlag Berlin 2013, 110 Seiten, 15,00 Euro.