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Eine neue Ära für die Menschenrechte

Ob Adoptionsfälle, Sorgerechtsentscheidungen oder Diskriminierung: Beim Europäische Gerichthof für Menschenrechte gehen unterschiedlichste Beschwerden aus aller Welt ein. Denn jeder, der sich in seinen Menschenrechten verletzt fühlt und in seinem Land bereits alle gerichtlichen Instanzen durchlaufen hat, kann sich an den Straßburger Gerichtshof wenden. Seit dem 3. November 1998 ist der Europäische Gerichthof für Menschenrechte ein ständig arbeitendes Gericht.

Von Annette Wilmes | 03.11.2008
    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg wurde zwar schon 1959 ins Leben gerufen. Aber jahrzehntelang war er kein ständig arbeitendes Gericht. Erst als er am 3. November 1998 neu eröffnet wurde und seine Arbeit aufnahm, brach eine neue Ära der Menschenrechte an. Seit der Reform von 1998 kann sich jeder, der sich in seinen Rechten aus der Konvention der Menschenrechte verletzt fühlt, unmittelbar an den Straßburger Gerichtshof wenden. Allerdings muss er den Rechtsweg im eigenen Staat vorher erschöpft haben.

    Die Richter werden von der parlamentarischen Versammlung des Europarates für sechs Jahre gewählt, für jeden der inzwischen 47 Mitgliedsstaaten eine Richterin oder ein Richter. Sie arbeiten vollamtlich, während sie früher nur einige Wochen im Jahr zusammentraten. Das Gericht bekam mit dem neuen Zeitabschnitt und der erweiterten Mitgliederzahl im Europarat auch einen neuen Präsidenten, den Schweizer Luzius Wildhaber.

    "So werden alle Arten von Fällen kommen. Verfahrensdauer, Zustände in den Gefängnissen, aber auch Fragen der Eigentumsgarantie beispielweise, der Meinungsfreiheit, wahrscheinlich wird das sich gleich einspielen wie bei den bisherigen Staaten, dass aus allen Bereichen Beschwerden kommen."

    Luzius Wildhaber schied 2007 aus Altersgründen aus dem Präsidentenamt aus. Seine Prophezeiung hatte sich bewahrheitet.

    "Es kommt das ganze bunte Leben in Straßburg an."

    Renate Jäger, frühere Bundesverfassungsrichterin, wurde 2004 zur Richterin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt.

    "Die Invitro-Fertilisation, Adoptionsfälle jeder Art, auch die durch ein lesbisches Paar, Personensorgefälle, Kindesentführung. Daneben bilden Ausländerrecht, Strafrecht und Strafvollstreckungsrecht weitere Schwerpunkte."

    Seit der Reform stieg die Zahl der Rechtsuchenden enorm. Ende 2007 waren 80.000 Beschwerden anhängig.
    "Die hohe Zahl ist zu erklären, weil in manchen Ländern das Gerichtswesen nicht funktioniert. Das betrifft zum Beispiel Italien, wo die Prozesse zivilrechtlicher Art und strafrechtlicher Art viel zu lange dauern. Es betrifft Russland vor allem."

    Christian Tomuschat, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Berliner Humboldt Universität. In den osteuropäischen Ländern sei die Zahl der Beanstandungen besonders groß, weil Verwaltung und Gerichte noch nicht richtig in der Lage seien, mit Verpflichtungen aus der Menschenrechtskonvention umzugehen. Dazu gehören zum Beispiel das Folterverbot, das Recht auf Privat- und Familienleben, die Freiheit der Meinungsäußerung, das Recht auf ein faires Verfahren, das Diskriminierungsverbot.

    "Eines der großen Beispiele ist die Entschädigung der aus dem östlichen Polen Vertriebenen, die von der polnischen Regierung nach Westen umgesiedelt wurden, denen man versprochen hatte, ihnen Entschädigungen zu gewähren, was nicht geschehen ist, worauf dann das Gericht erklärt hat, dass eine Entschädigung gewährleistet werden müsse, und Polen hat dann in der Tat dieses Urteil befolgt und entsprechende Entschädigungen bezahlt."

    In Deutschland wurde zum Beispiel das Vorgehen eines Gerichts schwer gerügt. Ein türkischer nichtverheirateter Vater hatte viele Jahre um das Sorgerecht für seinen Sohn gekämpft, der von der Mutter ohne Wissen des Vaters zur Adoption freigegeben worden war.

    Insgesamt gesehen haben sich die Richter mit vergleichsweise wenigen Fällen aus Deutschland zu befassen, eben weil die Grundrechte des Grundgesetzes weitgehend den Rechten der Europäischen Menschrechtskonvention entsprechen. Und über ihre Einhaltung wacht das Bundesverfassungsgericht. In vielen der 47 Staaten des Europarates indes ist das anders, dort gibt es keine Verfassungsgerichte. Renate Jäger.

    "Der Europäische Gerichtshof ist daher ein Kronjuwel unter den internationalen Organen, die sich überhaupt mit Menschrechtsschutz beschäftigen. Das Gericht hat eine hohe Wirkungskraft. Seine Urteile werden durchweg befolgt. Das dauert manchmal lange, aber insgesamt ist doch die Befolgung der Urteile so gut, dass immer mehr Menschen sich an den Gerichtshof wenden. Sein großes Problem ist, dass er kaum noch die Fälle, die bei ihm eingehen, bearbeiten kann."

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte droht an seinem eigenen Erfolg zu ersticken. Deshalb ist jetzt wieder eine Reform geplant, mit der die Verfahren vereinfacht werden sollen. Das entsprechende Protokoll Nummer 14 wurde inzwischen von 46 Staaten des Europarats ratifiziert. Nur einer weigert sich beharrlich, und das ist Russland.