Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Eine neue Lebensperspektive

Anschläge gehören im Irak zur Tagesordnung. Die Opfer, auch unter Zivilisten, sind zahlreich. "Ärzte ohne Grenzen" versucht in der jordanischen Hauptstadt Amman zu helfen, doch angesichts von mehr als 10.000 Verletzten jeden Monat ist die Zahl der Behandelten verschwindend gering. Knapp 300 irakische Kriegsverletzten hat die Organisation seit Eröffnung des Projektes im August vergangenen Jahres aufgenommen.

Matthias Bertsch | 27.10.2007
    Visite im Krankenhaus des Roten Halbmondes in Amman. Drei Chirurgen, eine Anästhesistin und einige Pfleger schieben sich durch den Gang der Station von Ärzte ohne Grenzen, um mit jedem der Patienten wenigstens ein paar Worte zu wechseln. In einem der Zimmer sitzen der achtjährige Achmed und sein Vater auf der Kante ihres Bettes. Beide sind vor einem Jahr in der Nähe ihres Hauses in Bagdad Opfer eines Autobombenanschlages geworden. Im Chaos nach der Explosion wurden sie voneinander getrennt. Als der Vater nach zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde, machte er sich auf die Suche nach seinem Sohn. Schließlich wurde er in einem anderen Krankenhaus fündig:

    "Ich bin hin gefahren und habe Achmeds Gesicht gesehen - ich hab auch Bilder, wenn Sie wollen - und seinen verstümmelten Fuß. Er blieb fast anderthalb Monate im Krankenhaus und hatte fünf oder sechs Operationen, aber sie waren alle erfolglos und sein Fuß wurde amputiert."

    Wenn Achmed seine Prothese trägt und über den Gang rennt, merkt man von der Amputation zunächst gar nichts, die Spuren im Gesicht dagegen sind nicht zu übersehen.

    "Das Kind hat bei dieser Autobombenattacke eine komplexe Weichteilverletzung des Gesichtes erlitten, man kann in einem Satz sagen, es wurde ihm sozusagen die halbe Gesichtshälfte zerfetzt durch die Bombe, es wurde dann notfallmäßig in einem Krankenhaus im Irak, in Bagdad, eine Versorgung gemacht, und wir haben dann mit einer komplexen Operation Weichgewebe verpflanzt, um große Anteile der Weichteilverluste im Gesichtsbereich wieder zu rekonstruieren."

    André Eckardt ist zum vierten Mal mit Ärzte ohne Grenzen in Amman und hat Achmed schon mehrfach operiert. 15 Stunden dauerte die erste Operation, der Eingriff dieses Mal ist dagegen fast Routine: Das Augenlid des linken Auges muss rekonstruiert werden, damit Achmed später eine Prothese eingesetzt werden kann. Eckardt ist durch seine langjährige Erfahrung als Kiefer- und Gesichtschirurg in Hannover vieles gewohnt, aber die Arbeit mit den irakischen Kriegsopfern geht auch für ihn über "das Normale" hinaus.

    "So etwas habe ich oder haben wir vorher in dem Ausmaß und in der Schwere wirklich noch nicht gesehen, und das ist von daher aus fachlicher, aus chirurgischer Sicht eine extreme Herausforderung, und ich will ganz offen sagen, es ist auch eine enorme emotionale Belastung, die damit einhergeht, und es sind viele Einzelschicksale, die man zwar dann routiniert tagsüber behandelt und operiert hat, aber die einen emotional noch weit über das Ende der Operation hinaus beschäftigen und auch selbst nach der Rückkehr nach Deutschland habe ich immer wieder Situationen, wo ich also an diese Einzelschicksale zurückdenken muss."

    Knapp 300 solcher Schicksale hat Ärzte ohne Grenzen seit Eröffnung des Projektes im August vergangenen Jahres in Amman aufgenommen. Angesichts von mehr als 10.000 Verletzten jeden Monat ist die Zahl der Behandelten verschwindend gering, doch die komplizierten Fälle lassen sich nicht am Fließband operieren. Außerdem sind die chirurgischen Eingriffe nur ein Teil der Behandlung, die Anschläge hinterlassen nicht nur physische sondern auch psychische Spuren. Die 30-jährige Nour war auf dem Dach ihres Hauses in Bagdad, als sie von den Splittern einer Explosion getroffen wurde.

    "Das Schlimmste für mich war das Gesicht, weil ich seitdem Schwierigkeiten habe, mich mit anderen Menschen zu unterhalten oder zu lachen. Ich war ja an der Hand und im Gesicht betroffen, das mit der Hand war nicht so schlimm, aber mit dem Gesicht. Ich habe das Gefühl, es fehlt etwas. Deswegen hab ich so viel auf mich genommen, hierher zu kommen."

    Die Narben in Nours Gesicht zeugen von den Operationen, die sie bereits hinter sich hat. In einigen Wochen soll die nächste folgen: eine Muskeltransplantation. In der Zwischenzeit ist sie froh, dass Ärzte ohne Grenzen auch psychologische Betreuung anbietet. Die Psychologin, Josephine Milhomme, arbeitet auch deshalb eng mit den Chirurgen zusammen, um zu erfahren, wer wie lange in Amman bleiben wird. "Viele Patienten haben ein großes Bedürfnis, zu erzählen", sagt die Psychologin, "und es wichtig, damit verantwortlich umzugehen."

    "Wenn man die Leute einfach nur auffordert, alles zu erzählen und sie dann sich selbst überlässt, kann das katastrophale Folgen haben. Deswegen glaube ich, ist es wichtig, dass ich meine Arbeit an die Situation anpasse, an den begrenzten Zeitraum, den die Patienten hier sind. Und natürlich beunruhigt es mich, dass die Leute in den Irak zurück müssen. Ich fühle mich damit sehr unwohl, aber, um ehrlich zu sein, ich habe keine Lösung."

    Die Situation in weiten Teilen des Irak ist auch für Ärzte ohne Grenzen gefährlich. Nach Entführungen von Mitarbeitern kurz nach Beginn des Krieges hat die Organisation vor drei Jahren beschlossen, das Land zu verlassen. Auch der irakische Chirurg Dr. Nasser hat für sich und seine Familie irgendwann keine andere Wahl mehr gesehen.

    "Ich kenne einige Kollegen, die von einem speziellen Kurs aus den USA zurückkamen. Sie lebten nur einen Monat im Irak, dann beschlossen sie wegzuziehen, weil sie Drohbriefe bekamen: angeblich seien sie Agenten für die USA. Ich weiß nicht, wie die Leute dazu kommen, den Ärzten so etwas zu unterstellen, aber ich bin sicher, dass die Ärzte gegen dieses Vorurteil kämpfen, sie versuchen, den Menschen so gut es geht zu helfen, vor allem den Verwundeten."

    Dr. Nasser arbeitet seit vier Monaten im Projekt von Ärzte ohne Grenzen. Zusammen mit Kollegen aus Amman wählt er die Fälle aus, die in das Projekt aufgenommen werden: Es sind vor allem Patienten, die im Irak zurzeit nicht angemessen behandelt werden können. Ist die Entscheidung getroffen, dauert es meist noch Wochen, bis die jordanische Regierung das Einreisevisum erteilt: Schon jetzt befinden sich Schätzungen zufolge zwischen 500.000 und eine Million Iraker in Jordanien.

    Auch heute sind wieder drei Patienten mit dem Flugzeug in Amman gelandet. Auf der Fahrt ins Krankenhaus betrachten sie das geschäftige Leben auf den Straßen der jordanischen Hauptstadt. Keine Checkpoints, keine Explosionen: Im Vergleich zu Bagdad wirkt Amman wie das Paradies. Und doch, so einer der Neuangekommenen, ist ihm der Abschied nicht leicht gefallen.

    "Ich könnte weinen, weil es so weh tut, die Heimat zu verlassen. Egal, was dort passiert, es ist und bleibt mein Land. Erst gestern habe ich zwei Cousins von mir beerdigt, die vor kurzem getötet wurden. Ich vermisse meine Frau und meine Kinder, aber ich hoffe, dass ich mit Hilfe der Ärzte hier bald zurück kann."

    André Eckardt: " Auf der einen Seite denken wir oder müssen wir denken: diese Patienten, diese Opfer müssten ja eigentlich froh sein, jetzt aus dem Irak raus zu sein und in einem relativ sicheren Land wie Jordanien zu sein, aber interessant ist auch immer wieder, trotz der enormen Verletzungen und des enormen Leids, das diese Patienten erdulden, ist es immer wieder erstaunlich zu sehen und zu hören, dass sie eigentlich alle wieder in ihr Heimatland zurückwollen - früher oder später."